Öffentliche Meinung

p45df der Druckfassung aus Sezession 45 / Dezember 2011

von Karlheinz Weißmann

Martin Walser hat kürzlich, eher unbemerkt und ungewollt, die Frage beantwortet, ob es Meinungsfreiheit geben kann oder nicht: »Was ich, wenn ich unabhän­gig wäre, schreiben würde, weiß ich nicht. Unabhängig zu sein, das lädt ein, asozial zu sein. Vielleicht ist es gut, daß wir, die meisten, uns Mei­nungsfreiheit nicht leisten können. Sicher ist: Schreiben wegen des Geldes, also schreiben, um unab­hängig zu werden, geht nicht. Wieviel ich verdiene, bestimmen im­mer andere. Und meine Hoffnung bleibt, daß die, von denen es ab­hängt, sich nie zusammentun, um über mich zu befinden. Manchmal ist es schon zu kulturellen Machtballungen gekommen, die für mich bedrohlich waren. Aber ich habe überlebt. Ob das Ganze mehr ein Spiel oder ein Kampf ist, wage ich nicht zu entscheiden. Wahrschein­lich ein Kampfspiel.«

Der Zusam­men­hang von Mei­nungs­frei­heit, das heißt Mei­nungs­äu­ße­rungs­frei­heit, Öffent­li­cher Mei­nung, finan­zi­el­ler Sicher­heit und sozia­ler Aner­ken­nung, Dis­si­denz und Aus­sto­ßung wird sel­ten the­ma­ti­siert, er gilt als »unfein«, nicht nur wegen des Peku­niä­ren, son­dern auch weil die Fak­ten jeder idea­lis­ti­schen Vor­stel­lung von Mei­nungs­frei­heit wider­spre­chen, im Grun­de sogar jedem opti­mis­ti­schen Men­schen­bild. Denn die Mei­nungs­äu­ße­rung ist eine erns­te Sache, sofern es um das Bekun­den einer Über­zeu­gung geht, die man hat und ver­tritt, gleich­gül­tig, ob sie mit der der Mit­men­schen über­ein­stimmt. Da wir unent­rinn­bar sozia­le Wesen sind, legen wir uns jeder­zeit die Fra­ge vor, ob wir von den übli­chen Ansich­ten abwei­chen oder nicht. Wir tun das gele­gent­lich reflek­tie­rend, meis­tens aber nicht.

Eli­sa­beth Noel­le hat von der »sozia­len Haut« gespro­chen, die so wie die phy­si­sche sen­si­bel auf jede Ver­än­de­rung reagiert: Hit­ze oder Käl­te, Stil­le oder Sturm, Licht oder Schat­ten. Die Leich­tig­keit, mit der wir die­se Begrif­fe meta­pho­risch ver­ste­hen und auf die Wahr­neh­mung unse­rer zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hun­gen über­tra­gen, ist ein wich­ti­ges Indiz für das, wor­um es geht. Man mag sich zwar ver­suchs­wei­se den ein­zel­nen als ein­zel­nen vor­stel­len, aber tat­säch­lich ist er tau­send­fach, sicht­bar oder unsicht­bar, an die ande­ren gebun­den, fügt sich ihren expli­zi­ten oder impli­zi­ten Erwar­tun­gen, meis­tens im vor­aus, ehe Sank­tio­nen dro­hen, hält mit ihnen an den kon­ven­tio­nel­len Lügen fest, nütz­li­chen wie schäd­li­chen, so lan­ge jeden­falls, bis ande­re erzählt wer­den. Die Ein­sicht in die­sen Zusam­men­hang hilft übri­gens kaum; sie ändert nichts an der Macht des­sen, was die »Öffent­li­che Mei­nung« genannt wird.

Das Vor­han­den­sein von Öffent­li­cher Mei­nung wird hier als anthro­po­lo­gi­sches Fak­tum ver­stan­den. Der Begriff ist zwar erst spät auf­ge­tre­ten, aber die Sache gab es in der Urhor­de genau­so, wie es sie in der digi­ta­len Gesell­schaft gibt. Man hat in der anti­ken Beschrei­bung der »Fama« wie im vox popu­li – vox dei des Mit­tel­al­ters eine Früh­form von Öffent­li­cher Mei­nung aus­ge­macht, aber ohne Zwei­fel fand in der Moder­ne eine qua­li­ta­ti­ve Ver­än­de­rung statt, die sich vor allem der Aus­wei­tung und Ver­dich­tung der Kom­mu­ni­ka­ti­ons­krei­se ver­dankt. Das Bevöl­ke­rungs­wachs­tum und die Tech­ni­ken, die den Ver­kehr erleich­ter­ten und Pro­duk­ti­on wie Ver­tei­lung unge­heu­rer Nach­rich­ten­men­gen erlaub­ten, haben über­haupt erst dazu geführt, daß man sich dem Phä­no­men der Öffent­li­chen Mei­nung mit Auf­merk­sam­keit zuwand­te. Dabei folg­ten Begeis­te­rung und Des­il­lu­sio­nie­rung unmit­tel­bar auf­ein­an­der. Wenn Goe­the etwa bedau­er­te, daß »in dem zer­stück­ten Deutsch­land die öffent­li­che Mei­nung nie­man­den nut­ze oder scha­de­te«, so setz­te er doch deren Exis­tenz vor­aus, ver­stand dar­un­ter aber den im Gedan­ken­aus­tausch der auf­ge­klär­ten Geis­ter ent­ste­hen­den Kon­sens. Die Auf­fas­sung die­ses eli­tä­ren Per­so­nen­krei­ses von viel­leicht tau­send Men­schen als mora­li­scher Instanz betrach­te­te Goe­the gleich­zei­tig als Schutz gegen die Ver­pö­be­lung infol­ge der Aus­deh­nung von Frei­heits­rech­ten, vor allem der Mei­nungs­frei­heit. Ent­spre­chend heißt es in den »Zah­men Xeni­en« zur Auf­he­bung der Zen­sur – »Was euch die hei­li­ge press­frei­heit / Für From­men, Vor­teil und Früch­te beut? / Davon habt ihr gewis­se Erschei­nung: / Tie­fe Ver­ach­tung öffent­li­cher Meinung.«

 

Goe­thes Wen­dung gegen »die Ver­fas­ser von Zeit­schrif­ten und Tag­blät­tern«, die »das Publi­kum glau­ben mach­ten, vor ihm sei der wah­re Gerichts­hof«, fand in Deutsch­land zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts noch Gehör, im Wes­ten stand man längst der Tat­sa­che gegen­über, daß die Pres­se zur »sechs­ten Groß­macht« – neben den mäch­ti­gen fünf des alten Kon­ti­nents – auf­ge­stie­gen war und bestimm­te, was als Öffent­li­che Mei­nung zu gel­ten habe. Dabei war die­ser Rekurs im Prin­zip immer ein oppo­si­tio­nel­ler: Die Beru­fung auf the public opi­ni­on / l’ opi­ni­on publi­que nahm stets in Anspruch, die wah­re Auf­fas­sung der Gebil­de­ten, des Vol­kes, der guten Kräf­te gegen eine Regie­rung zu ver­tre­ten, die sich ihre Legi­ti­mi­tät anmaß­te. Die­se Argu­men­ta­ti­on hat­te bemer­kens­wer­ter Wei­se zuerst ein Kon­ser­va­ti­ver – Lord Bol­ing­bro­ke – im Groß­bri­tan­ni­en Georgs II. ange­wen­det, aber in der Fol­ge­zeit waren es prak­tisch immer die Kräf­te des Fort­schritts, Libe­ra­le und Lin­ke, die die Macht der Öffent­li­chen Mei­nung nutz­ten, um ihre Zie­le gegen die Kräf­te der Behar­rung durch­zu­set­zen. Pro­ble­me, die aus der wei­te­ren Ent­wick­lung erwach­sen muß­ten, sah man nur all­mäh­lich ab, so wenn John Stuart Mill in den 1830er Jah­ren bemerk­te, es gebe nach dem Sieg über Abso­lu­tis­mus und Reak­ti­on nun »eine wach­sen­de Nei­gung …, die Macht der Gesell­schaft über das Ein­zel­we­sen, sowohl durch die Macht der öffent­li­chen Mei­nung wie sogar auch durch Gesetz­ge­bung unge­bühr­lich auszudehnen«.

Es exis­tie­ren vie­le ähn­li­che Äuße­run­gen, aber die meis­ten Pro­gres­si­ven ver­trau­ten wie Mill dar­auf, daß eine ratio­na­le Dis­kus­si­on in der Öffent­lich­keit das wirk­sams­te Mit­tel sei, die Reak­ti­on unschäd­lich zu machen und gefähr­li­che Ten­den­zen zu bekämp­fen. Eine Argu­men­ta­ti­on, die im Grun­de bis zu Haber­mas’ Struk­tur­wan­del der Öffent­lich­keit die maß­geb­li­che des libe­ra­len Lagers geblie­ben ist und nie­mals die idyl­li­sche Vor­stel­lung Rous­se­aus hin­ter sich las­sen konn­te, daß zwi­schen dem Gemein­wil­len, in der Öffent­li­chen Mei­nung gefaßt, und dem Wil­len aller, der als kon­fu­ses Sam­mel­su­ri­um von Auf­fas­sun­gen erscheint, tun­lichst zu unter­schei­den sei.

Auf die­se Schwä­che die­ser Argu­men­ta­ti­on hat die Gegen­sei­te früh und nach­drück­lich hin­ge­wie­sen. Schon wäh­rend der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on war beob­ach­tet wor­den, daß die Radi­ka­li­sie­rung ein­deu­tig der Mehr­heits­mei­nung wider­sprach, daß nicht ein­mal die Abschaf­fung der Mon­ar­chie brei­te Zustim­mung fand. Trotz­dem konn­ten ent­schlos­se­ne Min­der­hei­ten den Pro­zeß vor­an­trei­ben, ohne auf nen­nens­wer­ten Wider­stand zu tref­fen, und eine Gesin­nungs­dik­ta­tur errich­ten, die selbst den Wider­spruch unmög­lich mach­te. Wenn die Öffent­li­che Mei­nung so klar erkenn­bar nicht die Mei­nung aller ist, son­dern ihr Gehalt nor­ma­ti­ven Vor­stel­lun­gen ent­spre­chen muß, ihre Publi­zi­tät vom Zugang zu bestimm­ten Orga­nen – vor allem der Pres­se – oder Orga­ni­sa­tio­nen – vor allem Par­tei­en – abhängt, kann der absur­de Zustand ein­tre­ten, daß die tat­säch­li­chen Auf­fas­sun­gen über­haupt nicht mehr zur Gel­tung kom­men oder eine sehr klei­ne Grup­pe von Mäch­ti­gen sie oktroy­iert. Der Sozio­lo­ge Fer­di­nand Tön­nies hat die­se Pro­ble­ma­tik in sei­ner Kri­tik der öffent­li­chen Mei­nung knapp so zusam­men­ge­faßt: Öffent­li­che Mei­nung ist kei­nes­wegs die Mei­nung der Öffent­lich­keit, son­dern »die Wil­lens­mei­nung des geis­tig regs­ten, finan­zi­ell stärks­ten, lite­ra­risch ein­fluß­reichs­ten Tei­les einer Nati­on, der als sol­cher die anders den­ken­den Tei­le zu über­schat­ten vermag.«

Die kon­ser­va­ti­ve Pole­mik gegen die »Mache« der Pres­se, der Streit des pays réel und des pays légal, von »Land« und »Stadt«, von »gesun­dem Volks­emp­fin­den« und »Asphalt­jour­na­lis­mus«, von »Öffent­li­cher Mei­nung« und »Ver­öf­fent­lich­ter Mei­nung« ent­spricht die­sem Grund­mus­ter der Argu­men­ta­ti­on. Aller­dings ver­mag sie kei­ne Abhil­fe zu schaf­fen, denn ihr fehlt der Glau­be in die natür­li­che Ver­bes­se­rung der Zustän­de mit­tels all­ge­mei­ner Auf­klä­rung eben­so wie der in die not­wen­dig ver­nünf­ti­gen Ergeb­nis­se ver­nünf­ti­ger Debat­te. Also sieht man sich ent­we­der zum Glau­ben an eine prä­sta­bi­le Har­mo­nie gezwun­gen, die nur vor­über­ge­hend gestört wird, bis man zu gesun­den Ver­hält­nis­sen zurück­kehrt, oder gezwun­gen, im poli­ti­schen Kampf auf eben die Metho­den zurück­zu­grei­fen, die man eigent­lich verabscheut.

 

In gewis­ser Wei­se ste­hen Libe­ra­le und Kon­ser­va­ti­ve vor dem­sel­ben Dilem­ma, inso­fern sie auf Ver­hält­nis­se Bezug neh­men, die längst ver­gan­gen sind: Die einen hal­ten an der idea­li­sier­ten Welt des Bür­ger­tums fest, die ande­ren stel­len eine Ord­nung vor, in der Tra­di­ti­on und Reli­gi­on fest ver­an­kert sind und es eines Sub­sti­tuts wie der Öffent­li­chen Mei­nung nicht bedarf. Die tat­säch­li­che Ent­wick­lung ist über bei­des längst hin­weg­ge­gan­gen. Wer heu­te von Öffent­li­cher Mei­nung spricht, muß die Rea­li­tät der Mas­sen­ge­sell­schaft ein­be­zie­hen, die kei­ne kla­re Abgren­zung nach außen hat und in ihrem Inne­ren unüber­sicht­lich ist. Gleich­zei­tig ste­hen den Men­schen Tech­ni­ken zur Ver­fü­gung, die nicht nur ihre Mobi­li­tät dra­ma­tisch erhö­hen, son­dern auch unge­heu­re Infor­ma­ti­ons­men­gen zugäng­lich machen. Die Kenn­zei­chen der Lage sind neu, aber im Grun­de han­delt es sich nur um das Ergeb­nis einer kon­ti­nu­ier­li­chen Ent­wick­lung, die mit dem 20. Jahr­hun­dert ihren Anfang nahm.

Seit­dem hat man auch begon­nen, sich unter neu­en Gesichts­punk­ten mit dem Phä­no­men Öffent­li­che Mei­nung zu befas­sen, aus­ge­hend von der Fra­ge, wie unter den gege­be­nen Umstän­den über­haupt die »Erhal­tung eines gemein­sa­men Wil­lens« zu errei­chen sei. Die Fra­ge hat am nach­drück­lichs­ten Wal­ter Lipp­mann gestellt, der 1922 ein Buch mit dem Titel Public Opi­ni­on ver­öf­fent­lich­te, das zum Best­sel­ler wur­de. Der Aus­gangs­punkt von Lipp­manns Über­le­gun­gen war, daß es im Grun­de nicht zu erwar­ten sei, in einem so hete­ro­ge­nen Gebil­de wie der indus­tri­el­len Gesell­schaft eine erkenn­ba­re und gemein­sa­me Auf­fas­sung zen­tra­ler Sach­ver­hal­te zu fin­den. Die Annah­me einer »Über­see­le«, also etwa eines Kol­lek­tiv- oder Volks­geis­tes, hielt er für naiv. Lipp­mann glaub­te viel­mehr an die Bedeu­tung »vager Ideen« in der mensch­li­chen Innen­welt, die durch Rei­ze der Außen­welt, will­kür­li­che oder unwill­kür­li­che, sti­mu­liert wer­den. Die »vagen Ideen« ver­dich­ten sich unter Umstän­den zu »Sym­bo­len«, deren Unklar­heit kein Nach‑, son­dern ein Vor­teil ist, gera­de weil sie ein gan­zer Hof von Erwar­tun­gen umgibt. Aller­dings bedür­fen sie, um poli­tisch wirk­sam zu wer­den, der Aus­rich­tung, im Grun­de der Ver­ein­fa­chung in bezug auf die mora­li­sche Ein­schät­zung. Die kommt nicht – oder nur im Aus­nah­me­fall – von selbst zustan­de. In der Regel bedarf es einer »Auto­ri­tät«, um sie zu ori­en­tie­ren, und eines »Appa­rats«, um die Ori­en­tie­rung aufrechtzuerhalten.

Es ist selbst­ver­ständ­lich kein Zufall, daß die von Lipp­mann zur Illus­tra­ti­on sei­ner The­sen ver­wen­de­ten Bei­spie­le fast aus­nahms­los der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik aus der Zeit kurz vor, wäh­rend und nach dem Ers­ten Welt­krieg ent­nom­men waren. Er selbst hat­te regie­rungs­amt­lich Pro­pa­gan­da betrie­ben, die eine wider­stre­ben­de Nati­on kampf­be­reit gemacht und schließ­lich davon über­zeugt hat­te, einen Kreuz­zug für die Frei­heit zu füh­ren, einen Krieg, der alle Krie­ge been­det. Die­se Fixie­rung auf die USA erklärt aber sowe­nig wie Lipp­manns Deut­schen­haß die Tat­sa­che, daß sein Buch erst 1964 über­setzt wur­de. Ursprüng­lich mag eine Rol­le gespielt haben, daß sei­ne The­sen von Euro­pä­ern – Le Bon, Sor­el, Orte­ga y Gas­set, Pare­to, Michels, Weber – frü­her und argu­men­ta­tiv bes­ser gestützt vor­ge­tra­gen wor­den waren; aber nach dem Zwei­ten Welt­krieg woll­te man nicht, daß das frisch geputz­te Bild west­li­cher Demo­kra­tie blin­de Fle­cken bekä­me, durch die Lek­tü­re eines Buches, des­sen Ver­fas­ser das Hohe­lied von »Füh­rer und Gefolg­schaft« sang und offen bekann­te, daß die Pro­pa­gan­da Zwei­fel besei­ti­gen und »die Grup­pe für eine ziel­be­wuß­te Akti­on zusam­men­schwei­ßen« sollte.

 

Es geht hier aber nicht dar­um, Lipp­mann zu kari­kie­ren. Eli­sa­beth Noel­le hat ganz zu Recht dar­auf hin­ge­wie­sen, daß sei­ne Bedeu­tung als »Klas­si­ker« der Sozi­al­wis­sen­schaft dar­auf grün­det, die Macht des »Ste­reo­typs« gezeigt zu haben. Da der Mensch kein Wesen ist, das sich eine voll­stän­di­ge Sicht der Din­ge aneig­nen kann, bleibt ihm nichts, als die Kon­zen­tra­ti­on sei­ner Vor­stel­lun­gen auf bestimm­te Aspek­te der Wirk­lich­keit, will er zu Urtei­len oder Hand­lungs­kon­zep­ten kom­men. Die­sem Sach­ver­halt ist nicht zu ent­ge­hen, und nur mit­tels Ste­reo­ty­pie dringt die Öffent­li­che Mei­nung in jeden Teil des sozia­len Sys­tems. Wer sich ihrer bemäch­tigt, »beherrscht hier­durch in star­kem Maße den Weg zur Poli­tik«. Kurt Lewin sprach vom »gate­kee­per«, Hel­mut Schelsky vom »Mei­nungs­ma­cher«, dem Poli­ti­ker, Wirt­schafts- oder PR-Mann, Jour­na­lis­ten oder Leh­rer, der mit dem Ste­reo­typ Bil­der auf­ruft, Vor­stel­lungs­wei­sen und Wert­ur­tei­le fest­legt, im Grun­de dik­tiert, was als Öffent­li­che Mei­nung auf­ge­faßt wird.

Man hat bei Lipp­mann gele­gent­lich den Ein­druck, als bestün­de für den ein­zel­nen kei­ne Mög­lich­keit, sich die­ser Mani­pu­la­ti­on zu ent­zie­hen. Aber an einer Stel­le kommt er dar­auf zu spre­chen, daß dem Indi­vi­du­um in einem offe­nen Sys­tem grund­sätz­lich die Wahl zwi­schen den »Auto­ri­tä­ten« blei­be. Das ist ein schwa­cher Trost, aber immer­hin. Immer­hin bleibt damit eine gewis­se Kon­kur­renz gege­ben, auch die Mög­lich­keit, die Domi­nan­ten der Öffent­li­chen Mei­nung zu ver­än­dern. Was heißt: Man muß kei­nes­wegs gegen »Stutt­gart 21« und gegen Atom­kraft­wer­ke und für die Pira­ten­par­tei und für die Mas­sen­ein­wan­de­rung sein. Aller­dings machen es die herr­schen­den Ste­reo­ty­pen schwer, Pro­tes­tie­rer und »Schot­te­rer« und Netz­frei­beu­ter und die net­ten Migran­ten in der Vor­abend­se­rie unsym­pa­thisch zu fin­den und den vie­len zu wider­spre­chen, die auf der »rich­ti­gen« Sei­te ste­hen. Aber es ist mög­lich, und die Ent­schlos­sen­heit, sich die­se Mög­lich­keit nicht aus­re­den zu las­sen, bleibt die unab­ding­ba­re Vor­aus­set­zung dafür, Ein­fluß auf das zu neh­men, was Öffent­li­che Mei­nung ist. Aller­dings genügt die­se Art von indi­vi­du­el­lem Han­deln nicht.

Damit noch ein­mal zum Aus­gangs­punkt: Die Scheu, unse­re Mei­nung zu sagen, hat, wenn sie von der Öffent­li­chen Mei­nung abweicht, gute Grün­de. Wir müs­sen Exklu­si­on und Dis­kri­mi­nie­rung fürch­ten, ohne daß es amnes­ty schert. Die von Eli­sa­beth Noel­le so genann­te »Schwei­ge­spi­ra­le«, also die Ten­denz, eine Auf­fas­sung nur des­halb nicht mehr zu äußern, weil man annimmt, daß sie nicht der Mehr­heits­mei­nung ent­spre­che, führt zwangs­läu­fig dazu, daß die Majo­ri­tät immer stär­ker, die Mino­ri­tät immer schwä­cher wird. Das ist aber kein unent­rinn­ba­res Schick­sal. Wenn der Ver­lauf der Sar­ra­zin-Debat­te 2010 etwas gelehrt hat, dann das. Er hat aller­dings auch gelehrt, daß es nicht genügt, Bücher zu kau­fen, zu Lesun­gen zu erschei­nen, Kom­men­tar­funk­tio­nen im Netz und die Spal­ten der Leser­brief­sei­ten zu fül­len. Um tat­säch­lich etwas zu errei­chen, also nicht nur gegen die Öffent­li­che Mei­nung zu oppo­nie­ren, son­dern Öffent­li­che Mei­nung zu machen, bedarf es des­sen, was Lipp­mann den »Appa­rat« nann­te: Geld, Orga­ni­sa­ti­on, Kon­tak­te, Geld.

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