Der Dreck, der sich für uns interessiert

pdf der Druckfassung aus Sezession 45 / Dezember 2011

Am 22. November, einem Dienstag, haben sich die Abgeordneten des...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Bun­des­tags erho­ben (aus­nahms­los, frak­ti­ons­über­grei­fend, in von den Medi­en gou­tier­ter Ein­tracht), um den zehn Opfern einer Mord­se­rie in einer Schwei­ge­mi­nu­te zu geden­ken: Acht Tür­ken (eini­ge davon tür­kisch­stäm­mi­ge, ein­ge­bür­ger­te Deut­sche), ein Grie­che und eine aus Thü­rin­gen stam­men­de Poli­zis­tin sol­len von einem neo­na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Trio (Uwe Mund­los, Uwe Böhn­hardt, Bea­te Zsch­ä­pe) zwi­schen den Jah­ren 2000 und 2007 erschos­sen wor­den sein.

Egal, wie es war: Die Opfer hät­ten ger­ne noch wei­ter­ge­lebt, und die Hin­ter­blie­be­nen ver­mis­sen sie. Egal, wer es war: Es gibt kei­nen Grund für Hun­der­te Abge­ord­ne­te, sich des­we­gen zu erhe­ben und geden­kend inne­zu­hal­ten. Nach­dem im Janu­ar 1991 der ers­te US-Krieg gegen den Irak gestar­tet wor­den war, hat­te Deutsch­land den Kar­ne­val abge­sagt: Nicht in Köln, nicht in Mainz, nicht in Rott­weil, nir­gends soll­te damals gelacht und geschun­kelt wer­den. Als zwei Jah­re spä­ter der Ex-Jugo­sla­wi­en-Krieg auf sei­nen grau­sa­men Höhe­punkt zulief (nicht weit vor der deut­schen Haus­tü­re sozu­sa­gen) und selbst in Ober­schwa­ben Flücht­lings­mäd­chen ein­quar­tiert wur­den, die das Schreck­lichs­te in sich begra­ben muß­ten, debat­tier­te man kurz über ein erneu­tes Ein­frie­ren allen Humors, ent­schied sich aber dage­gen (und wand sich dabei, denn wie­so soll­te nicht mehr ange­mes­sen sein, was 1991 noch als Maß­nah­me ein­ge­leuch­tet hatte?).

Wäre er kon­se­quent, müß­te sich der Bun­des­tag längst erho­ben haben für die im Mut­ter­leib getö­te­ten Opfer indi­vi­dua­lis­ti­scher Lebens­pla­nung oder für die Opfer deut­schen­feind­li­cher Gewalt von Aus­län­dern, um nur zwei Bei­spie­le zu nen­nen. Der Bun­des­tag hat dies nicht getan, und wenn er es täte, wäre dadurch nichts bes­ser: Die Meß­lat­te läge wei­ter­hin zu hoch, man kann sich nicht stän­dig erhe­ben oder den Kar­ne­val aus­fal­len lassen.

Und hat sich der Bun­des­tag viel­leicht über­haupt vor den fal­schen Opfern ver­neigt, viel­leicht vor Opfern der tür­ki­schen Mafia und vor dem weib­li­chen Opfer einer Bezie­hungs­tat oder eines Geheim­dienst-Kom­plotts? Ich kann das nicht weni­ger dop­pel­deu­tig schrei­ben, es tut mir leid. An dem Fall des Zwi­ckau­er Nazi-Tri­os ist nichts ein­deu­tig. Jede Erzäh­lung ist frag­wür­dig, jede psy­cho­lo­gi­sche Deu­tung unrea­lis­tisch, jedes Indiz für ein Inein­an­der von Neo­na­zis, Ver­fas­sungs­schutz und Dro­gen­ma­fia aufs neue atem­be­rau­bend. Wir kön­nen vie­les wis­sen, wis­sen aber nichts so Stich­hal­ti­ges, daß wir davor bewahrt wür­den, das zu glau­ben, was wir glau­ben wol­len. Denn was wis­sen wir wirk­lich über die Vor­gän­ge, in die Uwe Mund­los, Uwe Böhn­hardt und Bea­te Zsch­ä­pe ver­wi­ckelt waren?

Wir wis­sen, daß alle drei dem maß­geb­lich von einem Agen­ten des Ver­fas­sungs­schut­zes auf­ge­bau­ten »Thü­rin­ger Hei­mat­schutz« ange­hör­ten. Der Chef die­ser rechts­extre­men Grup­pie­rung, Tino Brandt, hat­te seit 1994 rund 200 000 DM für sei­ne Dop­pel­funk­ti­on als Orga­ni­sa­tor und Bespitz­ler sei­ner selbst vom Land erhal­ten. 2001 flog er auf.

Wir wis­sen, daß Mund­los, Böhn­hardt und Zsch­ä­pe am 24. Janu­ar 1998 unter­tau­chen konn­ten, wäh­rend die Poli­zei in Jena sie­ben Woh­nun­gen und eine von Bea­te Zsch­ä­pe ange­mie­te­te Gara­ge durch­such­te und Rohr­bom­ben ohne Zün­der sicherstellte.

Wir wis­sen, daß die­ses Trio zehn Mor­de, einen Nagel­bom­ben­an­schlag und ein Dut­zend Bank­über­fäl­le ver­übt haben soll. Jeden Tag tau­chen nun neue Mit­wis­ser und Unter­stüt­zer aus der rechts­extre­men Sze­ne auf, NPD-nah man­che, und wir wis­sen, daß Mund­los, Böhn­hardt und Zsch­ä­pe trotz die­ser vie­len Mit­wis­ser einer von VS-Leu­ten durch­seuch­ten Sze­ne drei­zehn Jah­re lang unter­ge­taucht in Deutsch­land leben und ihr ter­ro­ris­ti­sches Ziel ver­fol­gen konnten.

Wir wis­sen, daß beim neun­ten Mord an einem aus­län­di­schen Klein­ge­wer­be­trei­ben­den, dem Inter­net-Café-Besit­zer Halit Y., ein Beam­ter des hes­si­schen Lan­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz in einer Ecke des Rau­mes saß, als die Schüs­se fie­len. Er stell­te sich nicht als Zeu­ge zur Ver­fü­gung, wur­de jedoch aus­fin­dig gemacht und ver­hört. Ein Bewe­gungs­pro­fil des VS-Man­nes ver­riet, daß er bei drei der neun Mord­fäl­le in unmit­tel­ba­rer Nähe zum Tat­ort gewe­sen war.

Wir wis­sen, daß nach die­sem Kas­se­ler Mord im April 2006 eine Mord­se­rie auf­hör­te, die als sol­che nicht erkannt wur­de und den­noch eine rechts­ter­ro­ris­ti­sche Mord­se­rie zum Zwe­cke der Ver­un­si­che­rung der in Deutsch­land leben­den Aus­län­der gewe­sen sein soll.

Wir wis­sen, daß nach dem Ende der Mord­se­rie noch ein Mord geschah: In Heil­bronn wur­de 2007 die Poli­zis­tin Michél­le Kie­se­wet­ter erschos­sen. Sie wohn­te bis zu ihrem Weg­gang nach Baden-Würt­tem­berg in Ober­weiß­bach bei Rudol­stadt. Dort rich­te­ten Ange­hö­ri­ge der Neo­na­zi-Sze­ne in einem Gast­hof einen Treff­punkt ein, der von 2005 bis 2007 Bestand hat­te. Michél­le Kie­se­wet­ter könn­te dort gewe­sen sein, könn­te befreun­det gewe­sen sein, könn­te jeman­den wie­der­erkannt haben, könn­te ein Gerücht gehört haben.

Wir wis­sen, daß das Zwi­ckau­er Trio erst fünf Jah­re nach dem letz­ten Mord ein Beken­ner-Video auf den Post­weg brin­gen woll­te, und wir ken­nen kei­ne ande­re ter­ro­ris­ti­sche Ver­ei­ni­gung, die ohne poli­ti­sches Bekennt­nis, ohne Stel­lung­nah­me, ohne For­de­rungs­ka­ta­log, ohne Bot­schaft mor­de­te. Mund­los, Böhn­hardt und Zsch­ä­pe haben sich nicht wie Ter­ro­ris­ten ver­hal­ten, son­dern wie Seri­en­mör­der. Sie haben – wenn sie es denn waren – über ein gan­zes Land ver­teilt und in zusam­men­hangs­lo­sem zeit­li­chem Abstand Män­ner erschos­sen, die ganz sicher für eines nicht ver­ant­wort­lich gemacht wer­den konn­ten: für die mas­sen­haf­te, iden­ti­täts­ge­fähr­den­de Ein­wan­de­rung nicht­in­te­grier­ba­rer Unterschichten.

Umschlä­ge mit der Beken­ner-DVD fand die Spu­ren­si­che­rung in einer voll­stän­dig durch eine Explo­si­on zer­stör­ten Dop­pel­haus­hälf­te in Zwi­ckau, in der auf­grund der extre­men Hit­ze­ent­wick­lung Metall zu Klum­pen zer­schmol­zen war. Wir wis­sen, daß Bea­te Zsch­ä­pe die­ses von ihr und ihren bei­den Kom­pli­zen bewohn­te Haus am 4. Novem­ber zer­stört haben soll, um Beweis­mit­tel zu vernichten.

Wir wis­sen, daß Uwe Mund­los und Uwe Böhn­hardt zu die­sem Zeit­punkt bereits tot waren. Sie hat­ten sich um die Mit­tags­zeit mit Pis­to­le und Gewehr durch Kopf und Brust in ihrem Wohn­mo­bil erschos­sen, weil sich eine Poli­zei­strei­fe weni­ge Stun­den nach dem Über­fall auf eine Eisen­acher Bank die­sem Ver­steck näher­te. Zwi­schen den Schüs­sen ging das Wohn­mo­bil in Flam­men auf. Die Poli­zei konn­te neben der Beu­te zwei­er Bank­über­fäl­le und »rech­tem Mate­ri­al« auch wei­te­re Waf­fen sowie vor allem die Dienst­pis­to­le ihrer Kol­le­gin Michél­le Kiese­wetter, deren Hand­schel­len und deren Mul­ti­funk­ti­ons­werk­zeug sicher­stel­len und damit auch die­sen Mord aufklären.

Wir wis­sen, daß Anwoh­ner eine drit­te Per­son aus dem Wohn­mo­bil sprin­gen sahen. Von die­ser Per­son ist seit­her nicht mehr die Rede. Auch wol­len nun – ent­ge­gen frü­he­rer Aus­künf­te – die ers­ten Poli­zei­be­am­ten vor Ort aus dem Wohn­mo­bil her­aus beschos­sen wor­den sein.

Wir wis­sen, daß die bis­her kalt­blü­tig han­deln­den Mund­los und Böhn­hardt den Selbst­mord einem letz­ten Gefecht eben­so vor­zo­gen wie einer Fest­nah­me, die es ihnen ermög­licht hät­te, vor gro­ßem Publi­kum end­lich über die Moti­ve und das Ziel ihrer Taten auf ähn­li­che Wei­se zu refe­rie­ren, wie es der Oslo­er Atten­tä­ter Anders Brei­vik nun kann.

Wir wis­sen, daß es auch eine ganz ande­re Erklä­rung für die Mord­se­rie gibt: Danach soll es sich um Ein­schüch­te­rungs- und Dis­zi­pli­nie­rungs­maß­nah­men gehan­delt haben, aus­ge­führt von Ange­hö­ri­gen eines tür­ki­schen Netz­werks namens »tie­fer Staat«. Die­ses Netz­werk arbei­tet als eine Mischung aus Ultra­na­tio­na­lis­mus, staat­lich gedul­de­ter Akti­on gegen die kur­di­sche PKK und Dro­gen­ge­schäft. Der in allen neun Mord­fäl­len aus­ge­führ­te Schuß ins Gesicht ist im »tie­fen Staat« das Zei­chen für den Ehr­ver­lust des Opfers. In Nürn­berg lie­fen die Fäden der bis zu 160 Mann star­ken Ermitt­ler­grup­pe »Beson­de­re Auf­bau­or­ga­ni­sa­ti­on Bos­po­rus« (BOA) zusammen.

Wir wis­sen, daß bei allen neun Mor­den die­sel­be Tat­waf­fe ver­wen­det wor­den ist: eine eher sel­te­ne Pis­to­le mit Schall­dämp­fer aus tsche­chi­scher Her­stel­lung, eine Ces­ka Typ 83, Kali­ber 7,65 mm. Wer eine sol­che Waf­fe neun­mal hin­ter­ein­an­der ver­wen­det, hat ent­we­der kei­ne ande­re oder möch­te zei­gen, daß er es immer wie­der tun wer­de. Eine die­ser Ces­kas ist im aus­ge­brann­ten Zwi­ckau­er Ter­ror-Nest gefun­den wor­den – unver­sehrt wie auch die DVDs und ein USB-Stick mit mög­li­chen pro­mi­nen­ten Anschlags­zie­len, obwohl doch die Ver­nich­tung des Beweis­ma­te­ri­als der Grund für Explo­si­on und Brand gewe­sen sein muß­te. Eine ande­re Ces­ka ist der Staats­an­walt­schaft in Nürn­berg im Som­mer 2011 von einem tür­ki­schen Infor­man­ten ange­bo­ten wor­den. Die Über­ga­be-Ver­hand­lun­gen schei­ter­ten letztlich.

Damit soll es ein Bewen­den haben mit dem, was wir wis­sen kön­nen und was wir ver­mu­ten müs­sen. So viel Ver­wor­ren­heit, so vie­le Zufäl­le, so viel Ermitt­ler­glück und Täterblöd­heit neben Ermitt­lungs­pan­nen und Täter­ge­nia­li­tät: Wäre es da nicht gesün­der und ange­sichts der Unüber­sicht­lich­keit und Unver­fro­ren­heit ange­mes­sen, gar nichts mehr zu ver­mu­ten und zusam­men­zu­tra­gen, son­dern sich ein­fach einer Ver­si­on zuzu­nei­gen? So inter­es­sant es ist, sich in die Absur­di­tä­ten und Ver­wir­run­gen der seit vier­zig Jah­ren hän­de­rin­gend gesuch­ten, nun end­gül­tig ent­deck­ten Brau­nen Armee Frak­ti­on zu ver­tie­fen, so müßig ist es doch, so sehr die rei­ne Zeit­ver­schwen­dung des Gaf­fens: Die Ereig­nis­se und Erkennt­nis­se zie­hen über uns hin­weg, und letzt­end­lich weiß man in vier Wochen über den Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grund (NSU) genau­so­gut Bescheid wie über den Ken­ne­dy-Mord, das Okto­ber­fest-Atten­tat, den Tod Bar­schels, den 11. Sep­tem­ber oder die Leb­ku­chen­mes­ser-Atta­cke auf Herrn Man­nichl. Mehr noch: Es wer­den über den NSU und über die ihm ange­las­te­te Mord­se­rie ein Bild und eine Erzäh­lung geron­nen sein, aus­ge­här­tet sein, an denen nicht mehr zu rüt­teln ist und an denen zu rüt­teln, jeden Ungläu­bi­gen nicht vor die Ent­schei­dung stellt: für oder gegen die Auf­klä­rung eines ver­zwick­ten Falls, son­dern: für oder gegen die Nazis?

Men­tal haben wir mit die­sem Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Unter­grund nichts zu schaf­fen. Sol­che Taten und ein sie gebä­ren­des Milieu sind mei­len­weit von dem ent­fernt, was wir den­ken und sind, und wir könn­ten jeden Bezug igno­rie­ren, ohne zu lügen oder zu ver­tu­schen. Aber es nützt nichts, wenn wir uns für die­sen Dreck nicht mehr inter­es­sie­ren, denn lei­der inter­es­siert sich die­ser Dreck für uns.

Das kann ich illus­trie­ren: In der Köl­ner Keup­stra­ße gaben sich Mit­te Novem­ber vie­le Poli­ti­ker ein Stell­dich­ein. Dort war am 9. Juni 2004 die Nagel­bom­be explo­diert, für die eben­falls das Zwi­ckau­er Trio ver­ant­wort­lich gewe­sen sein soll. Der Spie­gel-Online-Bericht über den SPD-Chef im Fri­seur­sa­lon von Özcan Yil­di­rim war an Süf­fi­sanz über die Pein­lich­keit der Poli­tik nicht zu über­bie­ten: Sig­mar Gabri­el ent­schul­dig­te sich bei einer Tas­se Tee medi­en­wirk­sam für die Taten sei­ner deut­schen Ter­ror­lands­leu­te, als es drau­ßen vor dem Schau­fens­ter zu rumo­ren begann. Ein paar Dut­zend Leu­te woll­ten ins Geschäft drän­gen. Gabri­els Per­so­nen­schüt­zer wur­den ange­wie­sen, die Jour­na­lis­ten erst­mal drau­ßen zu las­sen. »›Das sind kei­ne Jour­na­lis­ten‹, ent­geg­net umge­hend ein gro­ßer Mann von der Spit­ze des Zuges. ›Das ist die Bür­ger­meis­te­rin von Köln, Frau Scho-Ant­wer­pes.‹ Gabri­els Gehil­fe ent­schul­digt sich, doch die Bür­ger­meis­te­rin von Köln muß trotz­dem in der Käl­te aus­har­ren, genau wie die TV-Teams und Foto­gra­fen, die Hör­funk­re­dak­teu­re und Schrei­ber. ›Ich kann auch wie­der gehen, ich habe wirk­lich genug zu tun‹, faucht Elfi Scho-Ant­wer­pes – und rührt sich nicht von der Stelle.«

Gesi­ne Lötzsch (Bun­des­vor­sit­zen­de der Lin­ken) war auch schon da, ande­re wer­den fol­gen und sich für ein paar Pres­se­pho­tos erneut von ihrem Volk distan­zie­ren. Genau dies mei­ne ich, wenn ich sage, daß sich der Dreck für uns inter­es­siert, daß wir ihm nicht ent­kom­men kön­nen, indem wir »das Schlacht­feld ver­las­sen«, wie Mar­tin Licht­mesz in die­ser Sezes­si­on an ande­rer Stel­le schreibt. Es sind unse­re Reprä­sen­tan­ten, unse­re Spit­zen­po­li­ti­ker, die sich bei jeder Gele­gen­heit von ihrem Volk los­sa­gen, und solan­ge sie nur sprä­chen, wären sie zwar ein wenig schä­big, aber harm­los. Jedoch: Sie spre­chen nicht nur, son­dern han­deln auch, und es ist kreuz­ge­fähr­lich, inner­halb der nüch­ter­nen, kal­ten Atmo­sphä­re der Poli­tik in einer Ver­faßt­heit zu han­deln und zu ent­schei­den, die man als »nach der Gedenk­mi­nu­te« bezeich­nen muß: erfüllt von dem Gefühl, nun Wie­der­gut­ma­chung leis­ten zu müs­sen, und sei es auch nur sehr indirekt.

Das ist eine Meta-Deu­tung des Falls. Thors­ten Hinz hat sie in der Jun­gen Frei­heit vom 18. Novem­ber auf­ge­bracht: »Die Ent­hül­lun­gen über eine neo­na­zis­ti­sche Ter­ror­zel­le bie­ten eine will­kom­me­ne Ablen­kung: weg vom kri­seln­den Euro und hin zum ewi­gen Hit­ler in uns. Eine kon­trol­lier­te Hys­te­rie könn­te psy­cho­lo­gisch den Boden berei­ten für geplan­te Geset­zes- und Ver­fas­sungs­än­de­run­gen.« Mar­tin Licht­mesz hat sie im Netz-Tage­buch der Sezes­si­on fort­ge­schrie­ben: »Die zwei­te gro­ße Ent­schei­dung, die dem Wil­len der Wäh­ler ent­zo­gen wer­den soll, ist die­je­ni­ge über ihre Zukunft als selbst­be­stimm­tes Volk in sei­nem his­to­ri­schen Raum. Kam­pa­gnen ›gegen Rechts‹ sol­len jeg­li­che Wider­stands­re­gung gegen die (his­to­risch bei­spiel­lo­se) Mas­sen­ein­wan­de­rung und die dar­aus resul­tie­ren­de kul­tu­rel­le, ter­ri­to­ria­le und demo­gra­phi­sche Ent­eig­nung in der Angst vor sozia­ler Iso­lie­rung und einem schlech­ten Gewis­sen erträn­ken. Indem jeg­li­cher Selbst­be­haup­tungs- und Selbst­be­stim­mungs­wil­le als unethisch und ver­werf­lich ver­schwe­felt wird, wer­den die Deut­schen psy­chisch wehr­los gemacht. Damit wird die Grund­la­ge der Demo­kra­tie selbst außer Kraft gesetzt.«

Neo­na­zis­ti­scher Ter­ror-Popanz zur Erneue­rung und Ver­fes­ti­gung der deut­schen NS-Trau­ma­ti­sie­rung also? Zu einem Zeit­punkt, an dem die Deut­schen als Zahl­meis­ter Euro­pas gefragt sind wie nie zuvor und an dem sie beim Blick auf Grie­chen­land, Ita­li­en oder die USA von einer Ahnung an Stolz auf die eige­ne, bes­se­re Posi­ti­on beschli­chen wer­den? Ein Schlag mit der Faschis­mus-Keu­le auf den Kopf einer wie­der­um ein vor­sich­ti­ges Schritt­chen mehr selbst­be­wuß­ten Nation?

Neben aller­lei Berich­te über die Ter­ror-Zel­le und den »Trös­ter-Kar­ne­val« hat Spie­gel-Online eine inter­ak­ti­ve Gra­phik über die brau­nen Zen­tren Deutsch­lands pla­ziert: Deutsch­land ist über­all ein biß­chen braun, am braun­s­ten aber in den fünf Bun­des­län­dern jen­seits der Umer­zie­hungs­gren­ze. Die all­ge­mei­ne Bedro­hungs­la­ge ist damit visua­li­siert, und über Wochen dis­ku­tier­te Deutsch­land nicht mehr dar­über, daß sich »unse­re Erspar­nis­se, Lebens­ver­si­che­run­gen und Alters­vor­sor­gen ver­flüs­si­gen« (Thors­ten Hinz), son­dern dar­über, daß es not­wen­dig sei, wei­ter­hin und noch ein­mal ver­stärkt gegen das Nazi-Gen in uns zu kämp­fen. Dar­über wird sich der Rest an natio­na­ler Sou­ve­rä­ni­tät auch noch ver­flüs­si­gen, der deut­sche, brau­ne Impuls wird sich in einem völ­lig geein­ten Euro­pa auf­lö­sen, endlich.

Viel­leicht wäre es ange­sichts der Unauf­halt­sam­keit der Ereig­nis­se in den ver­gan­ge­nen Wochen sinn­vol­ler gewe­sen, alt­grie­chi­sche Voka­beln zu reka­pi­tu­lie­ren oder ein Stück­chen Gar­ten­land umzu­gra­ben, bevor der Frost kommt. Viel­leicht ist es manch­mal doch sinn­voll, das Schlacht­feld zu ver­las­sen und sich um die Siche­rung des ganz und gar Eige­nen zu küm­mern. Oder – wie es jüngst ein spä­ter Gast aus­drück­te: in Deckung gehen, über­rol­len las­sen, auf­ste­hen, weitermachen.

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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