Die Verachtung des Eigenen

pdf der Druckfassung aus Sezession 45 / Dezember 2011

45von Frank Lisson

Was ist das Besondere an der geistigen Entwicklung des Abendlandes? Was kennzeichnet das »abendländische Denken«? Welche Antriebe lagen diesem Kulturkreis zugrunde, die ihn von anderen deutlich unterschieden und ermöglichten, daß sich das christliche Europa fast konkurrenzlos zum Weltgestalter erheben konnte? Und wie erklärt sich der Bruch in der Selbstwahrnehmung, der verantwortlich dafür ist, daß die Sorge um den Zustand der eigenen Kultur fast gänzlich verstummt ist, während sie bis etwa 1970 in allen geistigen Lagern diskursbestimmend war? Welche mentalen Veränderungen ereigneten sich im europäischen und deutschen Menschen vor allem während der gewaltigen Schwellenjahrzehnte nach 1950, die ihm seine neue, subalterne Rolle in der Welt, seinen Eintritt in den geistigen Ruhestand schließlich völlig akzeptieren ließen? Was ist passiert, wenn ein Kulturkreis in die Phase der Selbstvergessenheit eintritt und dies nicht als Verlust, sondern als »Fortschritt«, als wünschenswerten »Schritt von sich weg« begreift und alles Alte, Tradierte, aus dem es einst seine Lebenskraft bezog, schließlich sogar zu verachten beginnt?

Haß, in wel­cher Form auch immer, kann nur dort ent­ste­hen, wo zuvor Lie­be war. Ande­ren­falls gibt es gar kein Ent­kom­men aus dem Kraft­feld der Gleich­gül­tig­keit. Jeder nega­ti­ve Impuls speist sich aus einem posi­ti­ven, des­sen Ver­le­ben­di­gung geschei­tert ist. Des­halb ist ein has­sen­der Mensch in Wahr­heit immer ein ver­hin­der­ter lie­ben­der. Die Ener­gien und Emo­tio­nen, die ihn zer­fres­sen, sind die glei­chen, die ihn, wäre er kein Ent­täusch­ter, zu Glück und Güte befähigten.

Das Agens schöp­fe­ri­scher Exis­ten­zen, das zugleich das Agens schöp­fe­ri­scher Kul­tu­ren ist, drückt sich im Stre­ben nach etwas noch Uner­reich­tem aus, nach etwas, das noch kei­nen Ort hat. Die­ses Stre­ben bil­det den Kern kul­tu­rel­ler Unzu­frie­den­heit, den Antrieb zur Krea­ti­vi­tät. Laut Hegel ist bekannt­lich das Ver­lan­gen nach Aner­ken­nung das eigent­li­che schöp­fe­ri­sche Ele­ment im Men­schen. Aus die­sem erwächst die Lust am Tun. Doch jedes der­ma­ßen moti­vier­te Tun ist ziel­ge­rich­tet und zweck­orientiert, es geschieht in Erwar­tung einer Fol­ge­leis­tung. Bleibt die­se Leis­tung aus, ist das Ziel ver­fehlt, war der Ein­satz umsonst; die posi­ti­ve Ener­gie ver­pufft. Wie­der­holt sich die­ser Vor­gang oft genug, wan­delt sich posi­ti­ve Ener­gie in nega­ti­ve. Ver­hin­der­tes Glück wird als Krän­kung emp­fun­den. Das kann gesche­hen, weil ein Ziel aus Man­gel an Kraft oder Bega­bung ver­fehlt wird, oder weil es von vorn­her­ein uner­reich­bar war.

Kul­tu­rel­ler Selbst­haß tritt etwa dann auf, wenn sich ein Kol­lek­tiv der man­geln­den Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit und Fehl­bar­keit von Kul­tur bewußt wird, weil das Kon­strukt Kul­tur die Mög­lich­keit des Schei­terns ent­hält. Kul­tur kann miß­lin­gen. Und zwar dann, wenn die »Ver­spre­chen«, die sie impli­ziert, nicht erfüllt wer­den, oder sich her­aus­stellt, daß die­se »Ver­spre­chen« auf Miß­ver­ständ­nis­sen beru­hen. Kul­tu­rel­ler Selbst­haß ist ein Zei­chen von Resi­gna­ti­on, von Ent­täu­schung über den Rest »Natur« im Men­schen, der sich immer wie­der Bahn bricht, sobald die Mit­tel der Kul­tur an Inte­gra­ti­ons­kraft nach­las­sen. – »Natur« und »Kul­tur« wer­den hier als Gegen­sät­ze ver­stan­den, die ein­an­der kom­ple­men­tär gegen­über­ste­hen; Kul­tur bezeich­net das »Ver­fei­ner­te«, vom Men­schen bewußt Gemach­te und Reflek­tier­te, das her­aus­ge­wach­sen ist aus dem Zustand des »unbe­wuß­ten« Han­delns in der Natur. Erst mit der strik­ten Unter­schei­dung und Abgren­zung die­ser zwei Lebens­for­men konn­te sich jener über­höh­te Anspruch bil­den, an des­sen Ein­lö­sung der abend­län­di­sche Mensch schließ­lich scheiterte.

Kul­tur ent­läßt den­je­ni­gen aus ihrem schüt­zen­den Gehäu­se, der ihre Mit­tel nicht mehr aner­kennt, weil er sich dar­über­stellt. Und die­sen Kon­flikt trägt jeder in sich sel­ber aus: nicht sein zu kön­nen, was die Natur dem Men­schen zu sein vor­gibt in ihrer Reni­tenz, die mit den kul­tu­rel­len Vor­stel­lun­gen des ver­fei­ner­ten, »ver­nünf­ti­gen« Men­schen ein­fach nicht ver­ein­bar ist. Kul­tu­rel­ler Selbst­haß ist ein Haß gegen Kul­tur als sol­che, die man sel­ber ver­kör­pert. Er ent­steht aus Ermü­dung, stän­dig gegen die inne­ren Befeh­le rebel­lie­ren zu müs­sen, weil die­se ein­fach nicht »leb­bar« sind im Sin­ne der sich über die Kul­tur selbst auf­er­leg­ten Moral.

Die Geschich­te des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses ist die Geschich­te eben die­ses Abkopp­lungs­pro­zes­ses. Sie ver­sucht zu beschrei­ben, wie aus einem früh erwach­ten Unbe­ha­gen an der Kul­tur ein Schei­tern der eige­nen Ansprü­che wur­de, wor­aus das Bedürf­nis nach Ent­las­tung folg­te. Das Pro­jekt Moder­ne ver­stand sich selbst als gro­ße Abrech­nung mit den fal­schen Ver­spre­chun­gen von Kul­tur, denen es sei­nen Dekon­struk­ti­vis­mus als Prin­zip gene­rel­ler »Befrei­ung« ent­ge­gen­setz­te. Die Ver­tre­ter einer sol­chen Moder­ne ver­such­ten, den Kno­ten zu lösen, indem sie sich offen dazu bekann­ten, iden­ti­täts­los zu sein; Iden­ti­tä­ten über­haupt als Kon­struk­te ent­lar­ven woll­ten und dadurch mein­ten, der Mise­re des Abend­lan­des an die Wur­zel zu gehen. Denn die Geschich­te des abend­län­di­schen Euro­pas war von Anfang an eine Suche nach den eige­nen reli­giö­sen und kul­tu­rel­len Wur­zeln. Und zwar des­halb, weil das Abend­land kei­ne genui­ne Iden­ti­tät besaß, sich folg­lich erst eine »erfin­den« oder aneig­nen muß­te, wozu es sich maß­geb­lich aus den Quel­len zwei­er frem­der Kul­tu­ren speis­te: dem Juden­tum und der grie­chisch-römi­schen Anti­ke. – Es gab aber kei­ne Kon­ti­nui­tät mit der Alten Welt, nicht ein­mal eine trans­la­tio impe­rii, die kei­ne bloß admi­nis­tra­ti­ve und pro­pa­gan­dis­tisch her­bei­ge­sehn­te war. Selbst das Chris­ten­tum war ein Import aus dem Ori­ent mit jüdi­schen Wur­zeln, was die Gläu­bi­gen immer wie­der unter Recht­fer­ti­gungs­druck gestellt hat und von der Kir­che nie geleug­net wur­de. Die­ser inne­re Kampf hat den poli­ti­schen Ver­lauf Euro­pas ent­schei­dend mit­be­stimmt. Er wirkt bis heu­te nach und ist für man­che Abson­der­lich­keit im Umgang mit dem eige­nen Erbe verantwortlich.

Nach den Erfah­run­gen von Dik­ta­tur, Krieg und Nie­der­la­ge bekam der kul­tu­rel­le Selbst­haß eine neue Qua­li­tät. Der Natio­nal­so­zia­lis­mus als Aggres­si­ons­form und Pro­dukt des Nihi­lis­mus war der Ver­such, des­sen Ener­gie nach außen zu len­ken durch Impe­ria­lis­mus und Krieg. Die gebrann­ten Kin­der die­ses geschei­ter­ten Unter­neh­mens und Besieg­ten der Geschich­te gin­gen genau den ent­ge­gen­ge­setz­ten Weg. Sie ver­ur­teil­ten Impe­ria­lis­mus und Krieg mit der glei­chen Ent­schie­den­heit, mit der die­se zuvor geführt wor­den waren, und lenk­ten die Ener­gie des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses nun­mehr wie­der und zwar aus­schließ­lich nach innen. Dadurch wur­de das Phä­no­men, das so lan­ge eher unter­schwel­lig und als dif­fu­ses Unbe­ha­gen gewirkt hat­te, erst­mals offen sicht­bar. Fer­ner zeig­te sich – nicht weni­ger deut­lich, aber kaum bemerkt –, wie sehr die soge­nann­ten 68er ihrer geis­ti­gen Anla­ge nach waren, was sie nie sein woll­ten, näm­lich Reak­ti­on auf das Schei­tern des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Sie stell­ten gera­de kei­ne wirk­li­che Gegen­be­we­gung dar, son­dern Fort­füh­rung, nur jetzt in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung. Statt Erobe­rungs­wil­le und Ras­sen­wahn nun tota­ler Macht­ver­zicht (wenigs­tens nach außen), statt Gleich­schal­tung nun Nivel­lie­rung, statt Haß auf das Frem­de nun Haß auf das Eige­ne. Jede qua­li­ta­ti­ve Dif­fe­ren­zie­rung wur­de als Makel emp­fun­den, wes­halb sie auf­ge­ho­ben wer­den müs­se. Der ehe­ma­li­ge Herr­scher, der »Täter« von Geschich­te, begann sich mit den »Opfern« zu iden­ti­fi­zie­ren. Der Trä­ger­ty­pus die­ser eben­falls genu­in tota­li­tä­ren Bewe­gung bil­de­te die per­ver­tier­te Form des­je­ni­gen, aus dem er her­vor­ge­gan­gen war. – So konn­te das Para­dox des an sich tota­li­tär moti­vier­ten »Anti­fa­schis­mus« zur neu­en deut­schen Staats­dok­trin werden.

Das mit dem kul­tu­rel­len Selbst­haß eng zusam­men­hän­gen­de Phä­no­men des Schuld­kom­ple­xes bil­det dafür die psy­chi­sche Grund­la­ge. Jedoch ist der kul­tu­rel­le Selbst­haß nicht aus dem Schuld­kom­plex als Ergeb­nis zwei­er ver­lo­re­ner Krie­ge her­vor­ge­gan­gen, son­dern umge­kehrt. Der kul­tu­rel­le Selbst­haß war viel­mehr eine der Ursa­chen der Kata­stro­phen des 20. Jahr­hun­derts in Euro­pa, und nicht bloß deren Fol­ge. Es muß also nach den Bedin­gun­gen gefragt wer­den, die ein sol­ches Ver­hal­ten, eine sol­che Kol­lek­tiv­n­eu­ro­se wie die des deut­schen Schuld­kom­ple­xes und die der Ver­ach­tung des Eige­nen erst ermög­li­chen konn­ten. Die sich auf­drän­gen­de Ver­mu­tung, die­ses Phä­no­men sei eine logi­sche Fol­ge aus dem Völ­ker­mord an den Juden, greift deut­lich zu kurz. Frei­lich wäre die Inten­si­tät des Kom­ple­xes unter Deut­schen weit gerin­ger aus­ge­fal­len, wenn mit der Bewußt­wer­dung des Mas­sen­mor­des nicht zugleich das Erlei­den einer tota­len, bis dahin bei­spiel­lo­sen mili­tä­ri­schen Nie­der­la­ge ver­bun­den gewe­sen wäre, weil der Zusam­men­bruch das gan­ze Aus­maß der Ver­bre­chen über­haupt erst ans Licht gebracht hat. Doch fin­det sich die Bereit­schaft, als »Volk« oder als »Kul­tur« zu ver­schwin­den oder in einem iden­ti­täts­frei­en Welt­ver­bund auf­zu­ge­hen, eben nicht nur in Deutsch­land, son­dern in fast allen Natio­nen des spä­ten Abend­lan­des. Fer­ner darf nicht ver­ges­sen wer­den, daß eine der wir­kungs­mäch­tigs­ten Aus­drucks­for­men des kul­tu­rel­len Selbst­has­ses, näm­lich die poli­ti­cal cor­rect­ness, in dem Sie­ger­land USA ihren Anfang nahm und in völ­lig »unschul­di­gen« Staa­ten wie Schwe­den beson­ders eif­rig prak­ti­ziert wird.

Denn hier wir­ken kul­tur­psy­cho­lo­gi­sche Pro­zes­se, die als über­eif­ri­ge Reak­ti­on auf gesamt­his­to­ri­sche Macht­ver­schie­bun­gen und Bewußtseins­einschnitte auf­ge­faßt wer­den müs­sen: sowe­nig der Christ noch das Gefühl des anti­ken »Ver­lo­ren­seins« in der Welt kann­te, nach­dem sich ihm »Gott« offen­bart hat­te, sowe­nig weiß der »Welt­bür­ger«, der in der Zivi­li­sa­ti­on ange­kom­men ist, von der »Fremd­heit«, die der abend­län­di­sche Mensch gegen­über die­ser neu­en welt­ge­schicht­li­chen Epo­che vor­aus­ah­nend emp­fand. Das heißt: Je mehr die Zivi­li­sa­ti­on vom Den­ken Besitz ergreift, des­to weni­ger dürf­ten die Kämp­fe des 19. und 20. Jahr­hun­derts ihrem Inhalt nach noch ver­stan­den wer­den. – Das ist das Pro­blem aller Schwel­len­zei­ten, in denen gra­vie­ren­de Umin­ter­pre­ta­tio­nen statt­fin­den. Alte Wahr­hei­ten und Nor­men ver­lie­ren plötz­lich ihre Gül­tig­keit, neue tre­ten an deren Stel­le und ver­wan­deln Mög­li­ches in Wirk­li­ches, also in etwas, wovon prak­ti­scher Nut­zen aus­geht, wäh­rend ande­res, das eben­falls mög­lich wäre, ohne Reso­nanz bleibt. Dar­aus ergibt sich die Rela­ti­vi­tät aller Din­ge, selbst sol­cher, von denen jeder glaubt, sie sei­en unwan­del­bar, wie etwa »Frei­heit« oder »Demo­kra­tie«. – Und so pas­siert es immer wie­der, daß Men­schen »frei­wil­lig« im Namen einer Sache eben die­se Sache abschaffen.

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