erhielt von der Stadt Augsburg jetzt den Brecht-Preis. Nicht weiter wichtig für einen, der schon eine ganze Liste an Auszeichnungen vorweist, aber doch Anlaß zu einer interessanten Rede:
Neben dem üblichen Protokoll, warum einer und wie nun berühmter Schriftsteller wurde, versuchte sich Schulze an einer Umdeutung eines wichtigen Brecht-Gedichts – jenes berühmten späten nämlich, das den Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR thematisiert.
Diese Gedicht fand sich in der DDR durchaus gedruckt, wurde aber offiziell ignoriert, während es selbstverständlich zum Dauerinventar der West-Lehrbücher gehörte, um den Unrechtsstaat zu thematisieren. Ingo Schultze will es gar in einem Schaukasten seiner Schule entdeckt haben, einer Schule, die ich, stelle ich mir das vor, gern besucht hätte.
Er setzt den klugen und provokanten Brecht-Text jetzt in einen neuen Bedeutungszusammenhang, indem er die Schlußzeilen (Wäre es da/Nicht doch einfacher, die Regierung/Löste das Volk auf und/Wählte ein anderes?) statt an die Regierung an die Adresse der mittlerweile allein selig machenden Finanzwirtschaft adressiert.
Man kann sich in bewußter Pauschalität und in Absehung von freilich wichtigen Details und Gesamtzusammenhängen der Wirkung dieser Pointe nicht ganz verschließen. Denn: Wer aus der allseits geschmähten oder allseits verklärten DDR kommt, durfte erleben, daß sich etwa dort, wo “überbaulich” die kommunistische (stalinistische und poststalinistische) Ideologie die Welt erklären sollte – als Lehre, „die allmächtig ist, weil sie wahr ist“ – heute eine andere, gleichfalls vollste Geltung beanspruchende etablierte, jene vom Wachstum um beinahe jeden Preis.
Man stelle sich Wachstum am besten stets in Blockbuchstaben vor, außerdem mit einem nach oben gerichteten Vektor – jedenfalls seit die Börsenachrichten vor allen anderen kommen und auf den Titelseiten der Presse als Fieberkurve neben dem Wetterbericht plaziert sind. Ach, wäre Frau Merkel das Wort von der „marktkonformen Demokratie“ doch nie auf den Redezettel geschrieben worden. Ingo Schultze und viele andere, linker Lehren gänzlich unverdächtig, halten es ihr immer wieder vor. Und zwar zu Recht!
Schultze verweist zitierend darauf, was der damals noch in allen Ehren stehende Rolf E. Breuer schon im Jahre 2000, also lange vor der Krise, in der „linksliberalen“ ZEIT forderte:
Politik muß (…) heute mehr denn je mit Blick auf die Finanzmärkte formuliert werden. (…) Offene Finanzmärkte erinnern die Politiker allerdings etwas häufiger und bisweilen etwas deutlicher an diese Zielsetzungen, als die Wähler dies vermögen. Wenn man so will, haben die Finanzmärkte quasi als ‚fünfte Gewalt’ neben den Medien eine wichtige Wächterrolle übernommen. Wenn die Politik im 21. Jahrhundert in diesem Sinn im Schlepptau der Finanzmärkte stünde, wäre das vielleicht so schlecht nicht.
Ja, es hat sich viel verändert. Nicht nur im alten Osten, sondern gleichfalls im alten Westen. Nicht nur, daß vorzugsweise die Finanzwirtschaft selbst gemäß ihrer Verwertungsinteressen mehr denn je ideologiebildend auftritt und sich eine willfährige Politik als Marketing- und PR-Büro leistet. Wo früher die Manifeste und Streitschriften standen, befinden sich jetzt die Haushaltsrechnungen, und die Gesichter der alten kalten Krieger sind durch Buchhalterphysiognomien ersetzt. Debatten, die sich nicht um die Saldi drehen, sind obsolet oder lächerlich geworden, und statt Werner Höfer soll Stefan Raab Politisches moderieren.
Man kann das sicher alles gut finden. Selbst Marx ging vom Primat des Ökonomischen aus. Aber man sollte dann nicht so viel Wunder um die Demokratie und die ihr zugeschriebene Siegelbewahrung der Humanität machen. Gut tut der klare analytische Blick, erweitert um genaue Sprachkritik. Was denn wäre Demokratie heutzutage mehr als der zu vermittelnde Interessenkonsens zwischen profitorientierten Produzenten und ihrem Discounter-Publikum? Und freilich hängen alle mit drin, so wie bei den aktuellen Fleisch‑, Amazon- und Finanzskandalen.
Schon klar, daß für die Krise der Finanzen immer noch die Staaten, also die Bürger und nicht die sogleich ihre unschuldigen Hände hebende “dienstleistende” Finanzbranche verantwortlich ist, die angeblich nur die Interessen der Kreditnehmer bedient. Schon klar, daß eine oral fixierte Gesellschaft der überbordenden Fülle der Supermärkte, Autohäuser, Versicherungen, Banken etc. in Permanenz zu bedürfen meint, selbst um den Preis völlig sinnlosen Überflusses, der im Falle überschüssiger Lebensmittel zu grüner Bio-Energie recycelt wird.
Für alle, die sich im weitesten Sinne übersättigen, gibt es glücklicherweise die ihrerseits gewinnorientierten Therapieprogramme der Klinik-Industrie; und für jene, die der ökonomische Prozeß als unfähig ausselektiert, steht dank Steuereinnahmen eine Minimalalimentierung zur Verfügung, die den Bürger immer noch in seiner Restexistenz als Konsumenten erhält. Wie gesagt, man darf das alles vernünftig finden, nur frage man sich, wo jenseits dieser vermeintlichen Logik überhaupt noch Ideen entstehen, um die es sich zu kämpfen lohnte.
Man will hoffen, die ehemaligen DDR-Bürger haben, wie der Bundespräsident stets sehr pastoral betont, tatsächlich die Freiheit gesucht – und nicht doch eher Gervais Obstzwerge und Milka-Kühe. Freiheit wird es ohne freie Wirtschaft nicht geben, aber sie ist hoffentlich ein ganzes Stück mehr als betriebswirtschaftliche Berechnung.
Gottfried
Die "ZEIT", ist das nicht dieses wöchentliche Journal, das vom Bilderberger Josef Joffe herausgegeben wird?
Nach meinem Verständnis bedeutet Wirtschaft, Güter herzustellen. Im Kleinen wäre es bereits Wirtschaft, wenn jemand sich in einem Gärtlein hinter seinem Haus ein paar Salatköpfe heranzüchtet. Wirtschaft hat nicht immer und nicht zwingend etwas mit der Abstraktion "Geld" zu tun.
Weiterhin bedeutet es Wirtschaft, eine Dienstleistung anzubieten, Haare schneiden, Rasenmähen usw.
Wenn ich aber Geld verleihe, wird dadurch kein Wirtschaftsgut hergestellt.
Von daher gibt es m.E. zwar durchaus das Finanzwesen (oder -unwesen?), bei der "Finanzwirtschaft" scheint es sich mir indes um einen weißen Rappe zu handeln.