Dreihundert

46pdf der Druckfassung aus Sezession 46 / Februar 2012

Vom Jahre 1962 trennt uns eine Kulturschwelle – oder gibt es ein anderes Wort, das besser beschriebe, warum uns wie aus einer anderen Welt die Worte vorkommen, die Gräfin Dönhoff damals zum 250. Geburtstag Friedrich des Großen in der Zeit (nicht in einem Vorläufer der Jungen Freiheit!) schrieb: »Wenn uns je die Gunst der historischen Stunde die Möglichkeit zur Wiedervereinigung schenken sollte, dann werden wir sie nur nützen können, wenn etwas von dem Geist des Mannes erhalten bleibt, der einst diesem Volk ein Staatsbewußtsein gab und dessen Geburtstag sich in diesen Tagen zum 250. Male jährt: dem Geist Friedrichs II. Wo bei uns noch staatsbildende Kräfte lebendig sind, wo noch die Nation für wichtiger gehalten wird als die Wohlstandsgesellschaft, da wird etwas deutlich von dem, was Friedrich II. einst geschaffen hat.«

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Mehr als 20 Jah­re nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung ist der 300. Geburts­tag ein guter Grad­mes­ser für die Fra­ge, ob die »Gunst der his­to­ri­schen Stun­de« in den Jah­ren 1989 und 1990 genutzt wur­de. Zumin­dest ein Ein­druck ist viel­ver­spre­chend: Soviel Fried­rich war sel­ten. Seit Herbst letz­ten Jah­res erschei­nen Bücher über »den Gro­ßen«, ver­schie­de­ne Zeit­schrif­ten prä­sen­tie­ren ihn auf dem Titel, es gibt eine Brief­mar­ke und eine Gedenk­mün­ze und schließ­lich in Ber­lin und Pots­dam zahl­rei­che Aus­stel­lun­gen, die sich fast über das gan­ze Jahr erstre­cken. Indes: Es gibt kaum eine Äuße­rung, die an die von Grä­fin Dön­hoff anschlös­se oder es mit ihr auf­neh­men könn­te. Der Geist Fried­richs ist flüch­ti­ger denn je.

Nimmt man die sieb­zi­ger und frü­hen acht­zi­ger Jah­re als Ver­gleich, fällt auf, daß Fried­rich nie­man­den mehr pro­vo­ziert. Die Zei­ten des »Preu­ßen ver­gif­tet uns« (Weh­ler) schei­nen vor­bei. Fried­rich steht mitt­ler­wei­le wie ent­schärft neben den Zuschrei­bun­gen der letz­ten Jahr­zehn­te. Er gilt als skur­ri­le Gestalt, die durch lie­bens­wer­te Anek­do­ten wei­ter­lebt. Der Spie­gel, der den Rei­gen der Fried­rich-Titel bereits Anfang Novem­ber eröff­ne­te, wirkt da schon unbe­hol­fen ana­chro­nis­tisch, wenn er Fried­rich als »Des­po­ten«, »Leu­te­schin­der« und eng­stir­ni­gen Ver­tre­ter sei­nes Stan­des prä­sen­tiert. Das alles geschieht ohne Ver­ve, ohne Schär­fe und ohne Tief­gang: der König als Kli­schee, von dem sich unse­re Zeit so unglaub­lich posi­tiv abhebt.

Weil die Deut­schen Fried­rich so wohl­wol­lend gleich­gül­tig gegen­über­ste­hen, müs­sen im Geschichts­ma­ga­zin der Zeit zwei Aus­län­der über ihn strei­ten. Für den pol­ni­schen Jour­na­lis­ten Adam Krzem­in­ski bleibt er ein Ärger­nis: Fried­rich habe die Polen ver­ach­tet, sei an der Tei­lung ihres Lan­des betei­ligt gewe­sen und des­halb so etwas wie eine Vor­stu­fe Hit­lers – schlimm also, daß es kei­ne rich­ti­ge Abscheu für Fried­rich mehr gibt. Daher stellt Krzem­in­ski, gleich­sam als War­nung, fest: »Für einen heu­ti­gen EU-Bür­ger hat Fried­rich kei­ne Bot­schaft, null, zero!« Dabei ver­gißt er, daß Fried­rich für das natio­na­le Selbst­be­wußt­sein durch­aus eine Bot­schaft hat, wenn auch eine nega­ti­ve. Was Krzem­in­ski über Fried­rich äußert, ent­spricht größ­ten­teils nicht der Wahr­heit, son­dern ist ein tra­dier­tes Bild der anti­preu­ßi­schen Pro­pa­gan­da. Daß ein Pole so denkt, mag ent­schuld­bar sein. Es gehört sicher­lich Grö­ße dazu, den über­le­ge­nen Geg­ner zu ach­ten. Symp­tomatisch an die­sem Gespräch ist eher, daß der His­to­ri­ker Chris­to­pher Clark, der ein so schö­nes Buch über Preu­ßen geschrie­ben hat, ganz sicher weiß, daß Krzem­in­ski Unsinn erzählt. Er äußert das aber nur sehr zag­haft, woge­gen der Anklä­ger star­ke Wor­te für sei­ne Sicht der Din­ge findet.

Hier wird am Bei­spiel Fried­richs der alte Wider­spruch zwi­schen Wis­sen­schaft und Publi­zis­tik, die mit ein­fa­chen Scha­blo­nen arbei­ten muß, deut­lich. Auf die­se Wei­se haben sich vie­le Mythen und Ver­zeich­nun­gen gehal­ten, die einen Zugang zur Per­son Fried­richs schwer machen. Den­noch: Jede Zeit sucht sich sei­ne Leh­re aus der Per­son selbst. Galt Fried­rich im 19. Jahr­hun­dert als ein Vor­be­rei­ter deut­scher Welt­gel­tung und Ahn­herr des deut­schen Rei­ches, wur­de er im Par­tei­en­gezänk der Wei­ma­rer Repu­blik zur über­par­tei­li­chen Instanz und im Drit­ten Reich als Ver­kör­pe­rung eines »Hel­den­tums der Beharr­lich­keit« zum Vor­bild. Und heu­te ist aus dem Kriegs­trei­ber der sieb­zi­ger Jah­re ein Schwu­ler geworden.

Ein siche­res Indiz dafür sind die zahl­rei­chen Bio­gra­phien, die zum 300. Geburts­tag erschie­nen sind. Wolf­gang Burg­dorf, der dem König nicht nega­tiv geson­nen ist, nimmt sich für des­sen »Lieb­schaf­ten« fast drei­ßig Sei­ten und han­delt die ers­ten bei­den Schle­si­schen Krie­ge auf sech­zehn ab.

Ein ande­res, popu­lär gehal­te­nes Buch argu­men­tiert ähn­lich: »Geheim­nis­se über Fried­rich gibt es denn wohl auch kaum noch zu lüf­ten, Leben und Wir­ken sind über die Jahr­hun­der­te breit erforscht – sieht man von der immer wie­der heiß dis­ku­tier­ten und psy­cho­lo­gisch sicher nicht ganz unwich­ti­gen Fra­ge nach Fried­richs sexu­el­ler Aus­rich­tung ab.« Mit die­ser Ein­stel­lung wird der oben erwähn­te Gegen­satz zemen­tiert: Fried­rich bleibt schul­dig an den Schle­si­schen Krie­gen und der pol­ni­schen Tei­lung. Hin­zu kommt jetzt (daher auch die wohl­wol­len­de Gleich­gül­tig­keit), daß er als Schwu­ler gewis­ser­ma­ßen ent­schul­digt sei, weil er sei­ne Sexua­li­tät nicht aus­le­ben konn­te und sie irgend­wie kom­pen­sie­ren muß­te. Daß er der Gro­ße bleibt, liegt eher am über­kom­me­nen Sprach­ge­brauch und nicht an einer erneu­er­ten hoch­ach­tungs­vol­len Bewer­tung sei­ner his­to­ri­schen Leis­tun­gen. Man hat heu­te nicht ein­mal mehr das Bedürf­nis, ihm die­sen Titel strei­tig zu machen.

Es gibt aber auch eini­ge aus den Quel­len gear­bei­te­te Bücher, die einen ande­ren Weg wei­sen. Ins­be­son­de­re das Buch von Nor­bert Leit­hold ist eine groß­ar­ti­ge Aus­nah­me. Leit­hold hat den Anspruch, Neu­es über Fried­rich zu zei­gen und mit Vor­ur­tei­len und Mythen auf­zu­räu­men. Und vor allem stellt er Fried­rich kon­se­quent vor dem Hori­zont sei­ner Zeit dar. Das kul­tur­ge­schicht­li­che Pan­ora­ma reicht dabei von den Aben­teu­rern, für die sich Fried­rich inter­es­sier­te, bis zu den Zei­tun­gen, die er beför­der­te, nimmt sich aber auch der zen­tra­len Punk­te an, bei­spiels­wei­se dem Kriegs­be­ginn 1740. Damals hat­ten auch ande­re Staa­ten die Absicht, nach des Kai­sers Tod die Gunst der Stun­de zu nut­zen und Öster­reich den Krieg zu erklä­ren. Fried­rich wuß­te das und kam den ande­ren zuvor: »Fried­rich han­del­te nicht mora­lisch, son­dern nach dem Kal­kül des Macht­er­halts und der Macht­er­wei­te­rung.« Er han­del­te also wie jeder ande­re Fürst auch. Eben­so stellt Leit­hold klar, daß man bis heu­te der habs­bur­gi­schen Pro­pa­gan­da auf­sä­ße, wenn man Fried­rich für die pol­ni­sche Tei­lung ver­ant­wort­lich mache. Es hand­le sich um eine rein ideo­lo­gi­sche Wer­tung, die den Alli­ier­ten in Jal­ta sehr gele­gen gekom­men sei und bis heu­te aus geschichts­po­li­ti­schen Grün­den auf­recht­erhal­ten werde.

Leit­hold erin­nert auch dar­an, daß es unter Fried­rich dem Gro­ßen kei­ne poli­tisch moti­vier­ten Unru­hen gab, son­dern ledig­lich sol­che, die aus Ehren­hän­deln, etwa zwi­schen Zünf­ten, resul­tier­ten. All die­se Din­ge sind bekannt, ohne bis­lang in das öffent­li­che Bewußt­sein vor­ge­drun­gen zu sein. Inso­fern ist es auch kein Wun­der, daß es kei­ne Einig­keit mehr dar­über gibt, was uns Fried­rich heu­te noch zu sagen hat. Daß dies nicht an die Mon­ar­chie gebun­den sein muß, hat Grä­fin Dön­hoff 1962 deut­lich gemacht. Doch Din­ge, die »immer gel­ten«, wol­len immer wie­der neu ange­eig­net werden.

Fried­rich bleibt für sei­ne Bewun­de­rer – und das sind sozu­sa­gen die Preu­ßen von heu­te – das viel­be­schwo­re­ne Bei­spiel eines Opfers für etwas: in die­sem Fall für den preu­ßi­schen Staat. Im Hin­ter­grund steht die Wand­lung der Per­sön­lich­keit, die aus einem über­durch­schnitt­lich begab­ten jun­gen Mann, der vor allem die schö­nen Küns­te und die Phi­lo­so­phie im Sinn hat­te, die Per­so­ni­fi­zie­rung der selbst­lo­sen Pflicht­er­fül­lung mach­te. Auf wel­chem Weg das gesche­hen ist, muß dabei mit­be­dacht wer­den. Kate­go­rien wie Glück und Selbst­er­fül­lung, die unser heu­ti­ges Den­ken bestim­men, las­sen die tra­gi­sche Geschich­te des jun­gen Kron­prin­zen in einem schlech­ten Licht erschei­nen. Hier spielt der unge­lieb­te Vater eine gro­ße Rol­le, der mit sei­ner uner­bitt­li­chen Stra­fe nach dem Flucht­ver­such des Prin­zen letzt­lich den Bestand Preu­ßens gesi­chert hat: Die Ent­haup­tung des Flucht­hel­fers von Kat­te vor den Augen des Thron­fol­gers ist wohl eine der bekann­tes­ten Sze­nen aus dem Leben »des Großen«.

Fried­rich recht­fer­tig­te die­se Dra­ko­nie sei­nes Vaters durch sei­ne Ent­sa­gung: Er war nach der Thron­be­stei­gung der ers­te Die­ner sei­nes Staa­tes. Die­se Hal­tung strahlt bis heu­te aus, so daß sich man­ches Urteil über pflicht­ver­ges­se­ne Poli­ti­ker unbe­wußt am Bei­spiel des Preu­ßen­kö­nigs orientiert.

Ein wei­te­res ein­zig­ar­ti­ges Moment, das uns heu­te noch Vor­bild sein kann, ist zwei­fel­los sein Nach­den­ken über sich selbst und sein Han­deln. Fried­rich ist das gro­ße Vor­bild für jeden Herr­scher, der ohne Will­kür, son­dern aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den han­delt. Er hat in Brie­fen und Schrif­ten Zeug­nis davon abge­legt und bleibt bis heu­te der per­so­ni­fi­zier­te »eige­ne Ent­schluß«, der sich um Mehr­heits­mei­nun­gen und gute Gefüh­le nicht schert. Im Gegen­satz dazu steht Fried­richs Ruf als Hasar­deur, der immer bereit gewe­sen sei, alles auf eine Kar­te zu set­zen. Es ist ein unaus­rott­ba­res Vor­ur­teil, daß der Autor des Anti­ma­chia­vell die Maß­nah­men Machia­vel­lis abge­lehnt hät­te. Im Gegen­teil: Fried­rich war ein genau­er Beob­ach­ter sei­ner Gegen­wart und wuß­te, daß es für die ande­ren Groß­mäch­te kei­ne Hem­mun­gen gäbe, wenn sie sich in der Lage sahen, ihr Ter­ri­to­ri­um zu erwei­tern. Inso­fern ist Fried­rich kon­se­quent gewe­sen, wenn er in sei­nem Anti­ma­chia­vell Angriffs­krie­ge recht­fer­tig­te: Sie sei­en »vor­beu­gen­de Krie­ge, wie sie Fürs­ten wohl­weis­lich dann unter­neh­men, wenn die Rie­sen­macht der größ­ten euro­päi­schen Staa­ten alle Schran­ken zu durch­bre­chen und die Welt zu ver­schlin­gen droht«.

In die­sem Zusam­men­hang kommt Fried­richs phi­lo­so­phi­schem Hin­ter­grund eine beson­de­re Bedeu­tung zu. Johan­nes Bro­nisch hat die Ver­äs­te­lun­gen dar­ge­stellt und schil­dert in sei­nem Buch einen von lan­ger Hand geplan­ten Vor­stoß der deut­schen Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phie – damals vor allem in Chris­ti­an Wolff mani­fes­tiert – in die poli­ti­sche Pra­xis. Ziel die­ser »Ver­schwö­rung« war es, den Kron­prin­zen Fried­rich zum Wolf­fia­ner und Phi­lo­so­phen­kö­nig zu machen. Davon ver­sprach man sich vor allem Ein­fluß auf den spä­te­ren König und woll­te gleich­zei­tig den fran­zö­si­schen Ein­fluß gering­hal­ten. Zwei phi­lo­so­phi­sche Sys­te­me kämpf­ten um Fried­rich: Die Habs­bur­ger und Sach­sen ent­schie­den sich für Wolff, die Fran­zo­sen für Vol­taire, der schließ­lich den Sieg davon­trug. Offen bleibt, inwie­weit bei Fried­rich dafür inhalt­li­che Grün­de aus­schlag­ge­bend waren. Als Stra­te­ge konn­te er nicht viel von Sys­te­men halten.

Am Ende die­ser phi­lo­so­phi­schen Din­ge steht Kants Ant­wort auf die Fra­ge »Was ist Auf­klä­rung?«, die Jens Bis­ky in sei­nem über­aus gelun­ge­nen (sowohl in der Aus­wahl, den Kom­men­ta­ren als auch den Über­lei­tungs­tex­ten) Buch mit Zeug­nis­sen von und über Fried­rich in einem Aus­schnitt bringt. Kant nennt sei­ne Zeit gleich­be­rech­tigt das Zeit­al­ter der Auf­klä­rung und das Zeit­al­ter Fried­richs. Er wuß­te um die begrenz­te Gel­tung die­ser Auf­klä­rung, die sich in der Abso­lut­heit des Staa­tes voll­zog. Die­se Ver­ei­ni­gung der Gegen­sät­ze in der Per­son Fried­richs bleibt der Sta­chel, der immer noch sticht. Nicht umsonst unter­nimmt man am 300. Geburts­tag des Gro­ßen alles, um die­sen Sta­chel zu verstecken.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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