In Weißenfels, der Novalis-Stadt, ein paar Autominuten von der Redaktion dieser Zeitschrift entfernt, werden an jedem Wochentag rund 20 000 Schweine zum Zwecke des Verzehrs geschlachtet. Ein jahrtausendealter Zusammenhang hat seine Umkehrung gefunden: Die geopferten Tiere sind längst keine Opfertiere mehr und zubereitetes Fleisch kein Festmahl.
2010 wurde der (lesende) Verbraucher mit einiger Wucht auf dieses Dilemma gestoßen. Die Selbsterfahrungsbücher der Neo-Vegetarier Jonathan Safran Foer (Tiere essen) und Karen Duve (Anständig essen) eroberten beste Plätze auf den Verkaufslisten. Seither ist jene Abstufung Allgemeingut: Vegetarier verzichten auf Fleisch, Pescetarier genehmigen sich jedoch Fisch, Veganer meiden alle Produkte tierischen Ursprungs (neben Milch, Honig und Eiern also auch Woll- und Lederprodukte), Frutarier – als strikteste Abart der Korrektesser – verspeisen nur Früchte, deren Verzehr die spendende Pflanze unbeschädigt lassen: Obst, Nüsse, Samen.
Für Ansgar Stößel kam die Lebenswende 2007. Ein Aufenthalt in Indien, wo ein Großteil der Bevölkerung traditionell fleischlos lebt, hatte ihn schon zuvor zum Vegetariertum bekehrt. Vertiefte Lektüre ließ ihn nun erkennen, daß Veganismus die »logische Konsequenz« sei, »wenn wir die Welt noch retten wollen«. Stößel gründete eine Stiftung, einen Fernsehsender und versuchte, die Mitwelt zu überzeugen. Erfolg ist seinem Anliegen erst vergönnt, als die politische Klasse unversehens auf den veganen Zug springt: Fleischverzehr mache aggressiv, weltweit gäbe es bei veganer Ernährung keine Hungersnöte mehr, heißt es nun in Kampagnen. Ferner erscheint der auf Tiere ausgedehnte Grundsatz der Gleichberechtigung als Gebot der Stunde.
Wir befinden uns inmitten eines dystopischen Szenarios, das »Saskia Lorentz« in ihrem Roman Die Republik der Veganer. Eine neudeutsche Utopie (Salenstein: Unitall 2011, 238 S., 14.90 €) mit einer Ethik- und Ernährungsmode, etwa mit Peter Singers Animal liberation (1975), beginnen läßt. Bald wird der Randgruppentrend, flankiert von Hysterikern, zur Staatsdoktrin. Ein GAU im Kernkraftwerk Neckarwestheim Anno 2030 läßt nur die unterirdisch verbunkerte Großgemeinde der Veganer (unterirdisch, damit oben Platz entsteht für Windkrafträder und Solarzellen) und wenige zählebige andere, hauptsächlich Ausländer, überleben. Umwabert von Endzeitstimmung überrollt die Armee der veganen Elite schließlich von Berlin aus ein Dorf nach dem anderen.
Das hölzerne Strickmuster dieser sich »politisch unkorrekt« wähnenden Utopie mißachtet alle Regeln, die einem Roman zuträglich sein können, Spannung und erst recht jeder Tiefgang fehlen. Beachtenswert und nachvollziehbar ist allein die Tatsache, daß hier, jedenfalls bis zum bitteren Ende, jeder katastrophische Absturz des Gemeinwesens immer noch keinen ultimativen Schockzustand beschert. Das Ding namens Staat rollt weiter, man wurschtelt sich – so man zu den Überlebenden zählt – durch nach dem Motto: Opfer gibt es immer, sie sind der Preis des Fortschritts.
Die Art, wie hier die menschlichen Sturmgeschütze der Tierrechtsbewegung gezeichnet werden, erscheint als groteske Überzeichnung. Warum läßt »Saskia Lorentz« diese asketischen Idealisten so heillos fratzenhaft agieren? Eine Antwort wäre zu finden in der von Zeit-Redakteurin Iris Radisch und ihrem Mann Eberhard Rathgeb edierten Aufsatzsammlung Wir haben es satt! Warum Tiere keine Lebensmittel sind (Salzburg: Residenz 2011. 259 S., 19.90 €). Wir lesen zum einen, daß Vegetarismus mitnichten das Phänomen einer urbanen Wohlstandsgesellschaft ist. Die hier versammelten Texte sind zwar größtenteils Produkte der saturierten Supermarkt-Moderne, gehen aber auch zurück auf Ovid und den antiken Philosophen Porphyrius (»Über die Enthaltsamkeit«), sie liefern streckenweise ernsthaft Bedenkenswertes.
Das Buch ist ähnlich angelegt wie das 2005 von Rathgeb herausgegebene Kompendium Die engagierte Nation. Deutsche Debatten 1945–2005 (siehe: Sezession 12, S. 57), ein verdienstvolles und nützliches Werk, das in Schnellroda seinen Platz im Regal bei den Nachschlagewerken hat und regelmäßig zu Rate gezogen wird. Rathgeb, damals Feuilletonredakteur der FAZ, hatte hier die zentralen Wortmeldungen der Nachkriegsmeinungsmacher versammelt und sachlich eingeordnet.
Läse man nun das aktuelle Buch, gerade die Kommentarteile zwischen den einzelnen Texten, ohne Kenntnis der Herausgebernamen, man würde auf ein radikales Autorenkollektiv tippen, junge Leute, deren unbedingter und ahistorischer Idealismus ungebremst von erweitertem Weltwissen und einem Gespür für das adäquate Maß sich in eine Weltverbesserungsideologie verrannt hat. Strikt auf den Verzehr von Tierprodukten oder die sonstige Verwendung von dergleichen zu verzichten (woran in der Tat keiner zu hindern wäre), reicht für Radisch/Rathgeb keinesfalls aus. Darum fehlt es auch nicht an bösen Spitzen gegen Foer, der selbst zwar fleischlos glücklich ist, seinem Publikum jedoch nur ein Maßhalten beim Verzehr tierischer Produkte predigt.
Es herrsche für jeden Überzeugten – der breite Rest der Carnivoren fällt gleichsam in die Unmenschen-Kategorie – die Pflicht, aufklärend und missionarisch tätig zu sein. Denn: Würde einen »die Tatsache, daß man kein Menschenfleisch ist, moralisch dazu berechtigen, Konzentrationslager zu dulden«? »Nach dem Zweiten Weltkrieg führte ein kurzer Weg von den nationalsozialistischen Vernichtungslagern zurück zu den Schlachthöfen.« Ähnlich einem Soldaten, der durch die Routine des Krieges das Tötungsverbot überwunden habe, doch in einer feigeren Version, koste der »Fleischesser den Sieg aus über ein anderes Wesen, das er ohne Kampf erlegt« habe.
Jede ontologische Unterscheidung zwischen Mensch und Tier erscheint den Autoren als willkürlich getroffenes, ungültiges Argument, bereits die Kategorie »Tier« (statt »Lebewesen«) halten sie für unstatthaft. Bitter beklagen sie die seit Menschengedenken vorgefundenen Herrschaftsverhältnisse, in denen Tiere als Arbeits‑, Haus- und Schlachtvieh »Sklaven der Bedürfnisse ihrer Herren« seien, anstatt »nicht nur partnerschaftlich, sondern freundschaftlich« in die Kette der Lebewesen eingemeindet zu werden. Vor dem Hintergrund, daß die »Haftbedingungen« und »Hinrichtungsarten« unserer »Mitwesen« an Abscheulichkeit stets zunähmen, lasse sich die gesamte Zivilisationsgeschichte als Verfall beschreiben. Daß man dergleichen von einer ausgewiesenen Fortschrittsfreundin wie Radisch lesen darf, die jegliche »Kulturkritik« habituell unter Faschismusverdacht stellt, ist schon eine besondere, nachgerade esoterische Nummer!
Das Alltagsleben der Familie Radisch/Rathgeb mit ihren drei Schulkindern muß unermeßlich anstrengend sein. Jedenfalls, wenn dort in anderen Lebensbereichen auch nur annähernde Konsequenz herrscht. Und das sollte man bei rigiden Maßstäben in der Nahrungsaufnahme voraussetzen dürfen. Kinder, so klagen sie, die in der »widersprüchlichen Welt ihrer Eltern« aufwachsen, in welcher der Familienhund einerseits geliebt wird, dem andererseits aber das Fleisch anderer Tiere vorgesetzt wird, leben in einem »Wahrnehmungskäfig«. Schlachtabfälle (aus denen die kleinen fleischlichen Anteile herkömmlichen Tierfutters bestehen) sollten gleichermaßen tabu sein wie Schnitzel und Keule.
Wie man im Hause der Autoren – man lebt ländlich – mit sogenannten Schädlingen (die man dort möglicherweise anders nennt) umgeht, wird nicht näher ausgeführt. Jedenfalls könne auch der Anblick einer »gedankenlos totgeschlagenen« Fliege das Mark erschüttern: »Wenn man einmal eine sterbende Fliege von nahem gesehen hat, für deren langsamen Tod man verantwortlich ist, kann es passieren, daß das Mitleid für jene Kreatur, deren Leiden für unser bloßes Auge offensichtlich ist, auch auf das winzige Tierchen überfließt, das leidet.« Gandhi gilt als Vorbild, der den eigenen Tod dem Verzehr auch nur einer Fleischbrühe vorziehen wollte.
Um das Problem, das aus dem »Prinzip der Gleichheit« aller Lebewesen erwachse, ordentlich greifbar zu machen, ziehen sie eine »logische« Parallelvorstellung zum Essen von tierischen »Kadavern«: Gleichfalls könne man ja Menschen, die bei Unfällen ums Leben kommen, einsammeln, verarbeiten und zum Verzehr anbieten. Hühner-KZ, Menschen-KZ: hier wird es einerlei, sie alle wollten lieber länger leben. Ganz nebenbei könnte man bei der Schilderung jener verachtenswerten »Tötungsroutine«, verübt an Lebewesen »mit wild schlagenden Herzen«, auch an nichttierische kleine Unschuldswesen denken. Müßig zu erwähnen, daß weder Radisch noch Rathgeb je ihre Stimme gegen die Praxis der Abtreibung erhoben haben.