Zwar teilt die von der Sezession vertretene metapolitische Alternative zum Macht- und Medienkartell der Berliner Republik fraglos Grundüberzeugungen. Ich nenne stellvertretend Diagnosen wie die von der (durch die jetzige Parteienherrschaft nicht zu behebende) gesellschaftlichen Fundamentalkrise, von der substantiellen Beschädigung der Meinungsfreiheit in Deutschland oder vom Nationaltrauma als stärkstem Hemmnis einer situationsangemessenen Tagespolitik. Aber diese im wesentlichen geistige Opposition ist selbstbewußt genug zur Einsicht, daß über diverse inhaltliche Details, Wertungen, Lösungen, politstrategische Fragen usw. zuweilen durchaus verschieden gedacht werden mag. Das Schreckbeispiel einer in Kernfragen des Staates parteiübergreifend quasi verordneten bundesrepublikanischen Offizialmoral, die ja nur künstlich durch massive Sanktionen aufrechterhalten wird, dient ihr als Lehre.
Gestritten wurde in den genannten Fällen um einer grundsätzlichen Klärung willen. Und ausschließlich in diesem Sinne möchte ich aus kurzem zeitlichen Abstand nochmals auf die Internet-Kontroverse von Weißmann und Lichtmesz zurückkommen. Der Anlaß war gewiß nicht belanglos, sondern gewichtig und respektabel wie die jeweils vertretenen Positionen und Werte. Von daher dürfen wir uns auch vom Ergebnis dieses Streits zukunftsorientierte Aufschlüsse erwarten.
Der Streitgegenstand
Am 23. Februar beschäftigte sich Lichtmesz in Sezession im Netz mit der landesweit proklamierten Gedenkfeier zu Ehren der laut polizeilichen Ermittlungen vom NSU Erschossenen. Er tat es auf eine hochironische Weise, die folgende Passage illustriert:
Deutschland, 23. Februar 2012, Punkt 12 Uhr. Während die Kirchenglocken die Mittagsstunde einschlagen, erheben sich die Menschen in Deutschland, von der Waterkant bis zu den Alpen, vom Rhein bis an die Oder von ihren Sitz- und Stehplätzen, halten inne in ihrem Tun und Werken, in ihren Gedanken, Worten und Taten, schließen, sich besinnend, die Augen oder wenden sie gen Himmel.
Putzfrau putzt nicht mehr, Verkäuferin verkauft nicht mehr, Kindergärtnerin kindergärtnert nicht; Rauchfangkehrer rauchfangkehrt nicht mehr, Bäcker bäckt nicht mehr, Pfarrer pfarrt nicht mehr, Bauarbeiter baut nicht, Lehrer lehrt nicht. Landesweit klappen Schulklassen behutsam ihre Rechenhefte und Lesebücher zu, erheben sich von den Sitzbänken und verharren in schweigender Andacht. (Allein K.s Kinder täuschen wieder einmal epileptische Anfälle vor.) Die Preßlufthämmer und die Motoren der Busse stehen still.
Die Säge verharrt auf halbem Wege im Holz, der Span in der Luft. Der Kaffeebecher in der Hand des Zeitungsredakteurs stockt kurz vor der sonst so zynisch-kessen Lippe. Die Hand des Paketausträgers, dessen gespitzter Finger sich der Türklingel nähert, erstarrt jäh, als die Mittagsglocke ihr ›Gedenk, o Mensch‹ erklingen läßt.
Der Sezessionist, der gerade ein Buch über Massenwahn und kollektive Psychosen liest, hält inne in seiner frivolen Lektüre. Der Nahverkehr der großen Städte ruht, als hielte auch er den Atem an vor Erschütterung und Trauer, Betroffenheit und Empörung. Jedes einzelne angehaltene Rad und Zahnrad schreit es zum Himmel: Nie wieder!
Der Text endet so ruppig wie effektvoll mit dem die offizielle Staatstrauer hinterfragenden Satz: »Und i muaß jetzt glei speibn.« Noch am selben Abend distanzierte sich Karlheinz Weißmann im Netz von diesem Text mit der knappen Begründung, er halte ihn für »geschmacklos« und für einen »Fehler«. War er dies?
Lichtmesz’ Beitrag ist eine Satire, das heißt eine Textgattung, die mit literarisch pointierenden Mitteln soziale Mißstände aufspießt. Zudem nutzt der Verfasser – man könnte ihn von der Technik her geradezu einen Karl Kraus des Internets nennen – die besonderen Wirkungsmöglichkeiten der Dokumentarsatire. Nach späteren Angaben bestehen sogar vier Fünftel seines Blogbeitrags (einschließlich seines provokanten, von Henscheid entlehnten Schlußsatzes) aus Originalzitaten: vor allem aus Textergüssen von DGB, BDA und dem Stern. Der Autor reagiert damit auf spezifische Schwierigkeiten nicht zuletzt für heutige Satiriker, eine absurde, teils völlig aus dem Ruder gelaufene Realität erzählerisch überhaupt noch zu steigern. Seine Montage von (verfremdeten wie unverfremdeten) Zitaten belegt per se sinnfällig den politisch erwünschten und in Serie produzierten, höchstgradig kitschigen Betroffenheitskult.
Darf Satire alles?
War das »geschmacklos«, wie Weißmann meint? Ein angesichts der Trauer-Umstände zu starker Tobak? Bedienen wir uns zur Problemklärung im Lager der momentanen kulturpolitischen Orthodoxie! Halten wir uns an Kurt Tucholsky, einen Fachmann der spitzen Feder und scharfzüngigen Attacke, der nach allen Kriterien gegenwärtiger Hochschätzung gewiß als bestens legitimierter Gutachter akzeptiert ist. Sein Artikel von 1919 heißt sogar und beschäftigt sich zentral mit unserer Fragestellung »Was darf die Satire?«
Tucholskys Antwort resümiert zunächst die bis heute nicht ganz unbefangene Rezeption dieses Genres in Deutschland:
Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.
Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: ›Nein!‹ Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.
Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an.
Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese Kunst abgetan wird.
Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: ›Seht!‹ – In Deutschland nennt man dergleichen ›Kraßheit‹.
Es folgen zahlreiche (von mir übergangene) zeitgenössische Beispiele, und sein Schluß gipfelt in einem Plädoyer für die als heilsam empfohlene deftige Schreibweise:
Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.
Was darf die Satire?
Alles.
Diese Auffassung hat manches für sich. Lediglich seine Schlußpointe halte ich für eine effektvolle Übersteigerung. Dabei will ich gewiß keine noch stärkere Gesinnungszensur anregen, als sie im gegenwärtigen Deutschland ohnehin herrscht, von gesetzgeberischen Initiativen zu schweigen. Aber eine Generallizenz für jedwede Attacke, Schärfe oder Verletzung möchte ich ebensowenig erteilen. Denn auch das Schrille hat sich zu rechtfertigen. Nicht jede Abgeschmacktheit eines auf Sensationen getrimmten Regisseurtheaters brauchen wir zu billigen. Nicht jede Witzelei eines Amüsierpöbels, wie sie uns die Quotenjagd heute gängiger TV-Comedys und ‑Satiren beschert. Dagegen sollten wir aus eigenem Anspruch Grenzen setzen und einen unter die Haut gehenden satirischen Angriff nur insoweit legitimieren, als er durch ein ebenso gewichtiges Anliegen und Ethos gedeckt wird. Ist das gegeben, mögen die Fetzen fliegen. Und weil diese auf Zuspitzung gründende Kunstform stets vereinfacht, sei in Kauf genommen, daß auch mancher getroffen und in seinen Empfindungen und Werten verletzt wird, dessen Handlungsmotive weniger verächtlich sind als die seiner befehdeten Umwelt. Dazu nochmals Tucholsky:
»Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.«
Ein Beispiel aus historischer Distanz und dem linken Lager möge dies verdeutlichen: Vielen religiös geprägten Zeitgenossen zwischen den Weltkriegen mochte Grosz’ »Christus mit der Gasmaske«, über den sogar in einem Gotteslästerungs-Prozeß verhandelt wurde, als üble Blasphemie erscheinen. Anderen, die den Krieg meist nicht gewünscht hatten und lediglich aus Pflichtbewußtsein ertrugen, galten Tucholskys militärkritische, radikalpazifistische Ausfälle gegen die von ihm bekämpften »Stützen der Gesellschaft« als maßlos und unangebracht. Doch wie immer man in dieser Frage politisch, historisch oder ästhetisch stehen mochte, eines konnte man den beiden Provokateuren gewiß nicht absprechen: ein gesellschaftliches Anliegen von hoher Wertigkeit. Denn so respektlos, grobschlächtig und verletzend der Einsatz mancher ihrer Mittel wirken mochte, das Anliegen, ein zweites großes Völkermorden zu verhindern, war ein bedeutendes. Dergleichen Verstöße gegen das sittliche oder religiöse Empfinden hat eine aufgeklärte Gesellschaft zu ertragen.
Damit zurück zu Lichtmesz. »Geschmacklos« wäre sein Beitrag, wenn er sich lustig gemacht hätte über die Trauer der Hinterbliebenen. Inakzeptabel, wenn er eine Art »klammheimliche« Freude empfände, wie es seinerzeit in der relativ verbreiteten RAF-Sympathisantenszene zum guten Ton gehörte, als es zum Beispiel einen Generalbundesanwalt traf. Nichts von alledem findet sich in Lichtmesz’ Text, auch kein Bonus oder Malus für eigene oder fremde Opfer. Statt dessen attackiert er kollektive Heuchelei, Doppelmoral samt ihren verhängnisvollen innenpolitischen Konsequenzen sowie politische Instrumentalisierung. Er verfolgt damit wahrlich ernsthafte gesellschaftliche Erziehungsziele, die auch eine bitterböse Satire rechtfertigen, selbst wo sie in mißverständlicher Auslegung Pietätsgefühle verletzen könnte.
Auch der drastische Schlußsatz schreckt mich nicht, sondern erinnert mich an die Beerdigung eines mir nahestehenden Kollegen. Damals produzierte sich ein soeben ins Land gekommener Funktionsträger, der den Toten allenfalls Minuten gekannt hatte, durch eine so peinliche, schmierenkomödiantische Geste am Grab, daß ich sie mein Lebtag nicht vergessen werde. Sein Gesichtsausdruck war – bei gleichzeitig effekthascherischem Lauern in den Augenwinkeln – so schmerzverzerrt, als laste das ganze Leid dieser Erde auf seine Schultern. Auch damals hatte ich das Gefühl, ich müsse kotzen.
Kult und Macht, oder »Wenn zwei das Gleiche tun …«
Spricht aber nicht viel grundsätzlicher aus höherer Moralität doch manches dafür, auf dem Friedhof allen tagespolitischen Meinungsstreit zu verbannen und auch die satirischen Klingen zu senken? Eine mir äußerst sympathische Vorstellung, nur leider im geschichtspolitischen Raum völlig unüblich. Von Cäsars bis Lenins oder Maos Begräbnis, von Antigone, die im Mythos ihren gefallenen Bruder bestattet, bis zu Reagans Bitburg-Besuch erweist sich der öffentliche Umgang mit Toten stets auch als aktualitätsbezogene Demonstration der jeweiligen Macht, die dem Gegner, wenn der nicht kapitulieren will, eine Stellungnahme geradezu abverlangt.
Im Totenkult erfolgen durchweg Auf- und Abwertungen gemäß jeweiliger politischer Tagesvaluta, von Liebknecht und Rosa Luxemburg über Schlageter bis zur »Blutfahne« der beim Münchner Putsch Erschossenen. Weltkriege, Revolutionen oder Pogrome bieten weitere Gelegenheit zu vielfältigen Gräber-Hierarchien, wobei bereits Jüngers Modellstaat seiner Marmorklippen das schäbige Muster beschreibt, nach dem nur die Opfer des eigenen Lagers für würdig befunden werden:
Den Mord vermochten sie nur auf der Gegenseite zu erkennen, und dennoch war bei ihnen rühmlich, was dort als verächtlich galt. Während ein jeder die anderen Toten kaum für würdig hielt, bei Nacht und ohne Licht verscharrt zu werden, sollte um die Seinen das Purpurtuch geschlungen werden, es sollte das Eburnum klingen und der Adler steigen, der das Lebensbild der Helden und Seher zu den Göttern trägt.
Und knapp 70 Jahre später heißt es in Reiner Kunzes »nachricht von der menschheit«:
Ein unermeßliches leid
verwies
ein unermeßliches leid
auf die tiefere stelle am mast
und sprach:
Meiner trauer
ist keine trauer ebenbürtig
Da faltete das
auf die tiefere stelle verwiesene
unermeßliche leid
seine trauer zusammen
und ging
in die einsamkeit seiner toten.
Bei solchen An‑, Aufrechnungen oder Degradierungen laufen (Geschichts-)Politiker der Moderne geradezu zur Hochform auf. Und die Toten sind sozusagen das Salz in der mit Tagesinteressen gewürzten Suppe, anders gesagt: ihr wichtigstes humanes Spielkapital auf den Kommunikationsbörsen dieser Welt zur Fundierung von wirtschaftlichen, politischen und zahlreichen anderen Forderungen. Das dabei verursachte endlose Gezerre läßt sich zuweilen nur mit einem gehörigen Schuß Sarkasmus ertragen. Denn zweifellos gibt es modische und unmodische Tote, privilegierte und unprivilegierte, worüber gegebenenfalls Regierungen, Gerichte und nicht zuletzt Medien nach aktuellen Opportunitätskriterien entscheiden.
Was zählen etwa 100 Millionen weltweit Ermordete, sofern sie angeblich einem Menschheitstraum dienten, angesichts anderer Opfergruppen, die keine Sympathisantenlobby für sich mobilisieren können? Warum stehen einige Tote im Bewußtsein aller Deutschen ganz oben, andere nicht? Wie klassifiziert sich ein erschlagener Balte, Ukrainer oder Armenier im Aufmerksamkeitsranking? Warum werden etwa afrikanische Genozide, was Weltöffentlichkeit betrifft, eher zu Discountpreisen gehandelt, zählen umgekommene deutsche Vertriebene kaum, Bombenopfer praktisch gar nicht? Wann wird man staatsaktswürdig, wann auf keinen Fall? Man stelle sich vor, es wären bei der Bestattung von Mundlos oder Böhnhardt solche Reden gehalten worden wie am Grab von Baader, Meinhoff, Ensslin oder Holger Meins. Vielmehr ist solches hier und heute etwa genauso unvorstellbar wie ein bundesrepublikanischer Justizminister, der sich bei den Angehörigen getöteter Deutscher für verfehlte Langmut und Nachlässigkeit entschuldigte, mit der die Sicherheitsbehörden ausländischer Haßkriminalität begegnet sind.
Und auch in Literatenkreisen weiß man ganz genau, was man hierzulande darf und was nicht. Als 1969 Ludwig Harigs »Staatsbegräbnis« über den Äther ging, eine satirische Montage von Trauerreden und Reportagen während Adenauers Totenfeier, erregte sich zwar noch der Intendant des Saarländischen Rundfunks, aber die Kritik feierte den Tabubruch fast einhellig als Meilenstein bundesrepublikanischer Hörspielentwicklung. Spätere Lobredner dieses zweifellos gekonnten und reizvoll-provokativen Texts habe ich durch die Rückfrage verunsichert, was wohl geschehen wäre, wenn ein Autor das gleiche künstlerische Verfahren etwa bei Bubis’ Begräbnis angewandt hätte. Kurz: Ein herrschaftsfreier Raum ist auch der Friedhof mitnichten. Und so darf es auch dem Satiriker nicht verboten sein, auf diesem Kampffeld für die jeweils Schwächeren Partei zu nehmen.
Der taktische Aspekt
Was richtig ist, muß nicht klug sein. War Lichtmesz’ Veröffentlichung zu diesem hochsensiblen Anlaß ein Fehler? Unter schlicht parteitaktischen Gesichtspunkten möglicherweise. Denken wir etwa an Brechts politstrategische Anweisung seiner Maßnahme:
Wer für den Kommunismus kämpft, der muß kämpfen können und nicht kämpfen; die Wahrheit sagen und die Wahrheit nicht sagen; Dienste erweisen und Dienste verweigern; Versprechen halten und Versprechen nicht halten.
Sich in Gefahr begeben und die Gefahr vermeiden; kenntlich sein und unkenntlich sein. Wer für den Kommunismus kämpft, hat von allen Tugenden nur eine: daß er für den Kommunismus kämpft.
Nun ist aber die Szene um die Sezession gewiß keinem vergleichbaren Machtzynismus verpflichtet. Und nichts liegt mir ferner, als Weißmanns Vorwurf in solch dubiosem Umfeld zu verorten. Vielmehr nehme ich seine Bedenken durchaus ernst und deute sein Urteil als Resultat einer Handlungsparadoxie. Denn grundsätzlich dient man zur Zeit der gemeinsamen Sache sicher am besten, wenn man mutwillige Militanz oder Schroffheit meidet. Erschreckt diese doch allzu leicht potentielle Verbündete angesichts einer völlig verhetzten Umwelt, in der man sich die politische Rechte offenbar weitgehend als Abkömmlinge Transsilvaniens vorstellt mit Schaum vorm Mund und Killer-Dolchen zwischen den Zähnen.
Aus vielfacher Anschauung ist mir hinlänglich bekannt, wie viele Widerstände – sprich: (panische) Ängste – zu überwinden sind, bis ein durch heutigen Journalismus Sozialisierter sich auch nur darauf einläßt, alternative Argumente anzuhören, die gemäß Mainstream als kontaminiert gelten. Auch solche möglichen Bündnispartner wollen also bedacht sein. Denn die Verbreitung unseres Einflußterrains über ein kämpferisches Zentrum hinaus bleibt unverzichtbare Zukunftsaufgabe, wenn wir wenigstens in kleinen Nischen auch aktuelle Wirkung anstreben. Dabei sei am wenigsten an Politiker oder Journalisten gedacht. Denn auch für Samtpfötchen-Beiträge erteilt das gegenwärtige Kommunikationsimperium keinen Wohlverhaltensrabatt. Wir befinden uns schließlich nicht in der Sphäre freier Gedanken, sondern der der Macht. Und man unterhält nicht umsonst kostspielig Tausende von ideellen Trüffelschweinen auf der Ketzersuche.
Solch mißliche Ausgangslage, in der bereits seit Jahrzehnten der Gegner die propagandistische Lufthoheit besitzt, steigert wiederum die Neigung, sich zuweilen mit einem veritablen publizistischen Wutausbruch wenigstens persönlich zu befreien. Zu lange schon triumphieren in der politisch-medialen Öffentlichkeit die Unverantwortlichen, Halbdenker und Prasser: die geballte Arroganz, Ignoranz und Infamie, die sich auch noch anmaßt, die wenigen Nonkonformisten intellektuell und moralisch zu belehren alias zu disziplinieren. Bis zum Letzten reizen und kosten sie es aus, »gewonnen« zu haben, was zwar nicht für ihr Land, gewiß aber für sie persönlich gilt. Sollen wir angesichts eines solchen Ärgernis, um einer nebulösen Zukunft willen, auch noch die Zähne zusammenbeißen?
Lichtmesz hat dies nicht getan und dabei vielen aus der Seele gesprochen. Doch ist dieser kurzfristige Wohlfühleffekt nicht zu teuer erkauft, wenn er mittelfristig schadet? Wenn er uns in die gefährliche Nähe von (z.T. strafrechtlich unterfütterten) Verdächtigungen bringt? Wenn die mediale Korrektheitswalze bereits rollt? Nun, ich fürchte, es gibt in dieser Frage keinen großen Entscheidungsspielraum, wenn wir Profil bewahren wollen. Denn was der Autor satirisch verteidigt hat, war ideelle Kernsubstanz, die nicht mehr zur taktischen Disposition stehen darf. Sein Einspruch gegen emotionale Erpressung, politischen Bekenntniszwang, Marionettenmoral, tränenreiche Heuchelei, Mea-culpa-Kult mit verhetzender Wirkung auf unangepaßte Volksgruppen – in summa: totalitäre Gesinnungslenkung im Dienst multiethnischer Illusionen – berührt unser zentrales Anliegen.
Dieser seit 1945 eingebleuten Büßerhaltung, die sich inzwischen verselbständigt hat, in substanzlosem Alarmismus alles und jedes erfaßt und uns auch in der politischen Gegenwart keinen klaren Gedanken mehr fassen läßt, gilt der Kampf als dem Erzübel einer Kollektivpanik mit Weiterungen in zahllosen Bereichen. Nicht aus Mitleidlosigkeit, sondern eher Mitleid mit den Getriebenen einer von traumatisierten Sentimentalen und ihren Nutznießern gepeitschten Hammelherde. Aus solcher Gefühlsgemeinschaft auszusteigen, ist Sezession pur. Das mag gefährlich sein, weil es Denunzianten verlockende Beute verheißt. Aber gefährlich ist auch der Massenwahn