Angelehnt an diesen Titel fand am 13. April das 22. Berliner Kolleg des Instituts für Staatspolitik statt, das die Kontinuität „1813 – 1913 – 2013“ thematisierte und somit der Frage nachging, wie die Rezeption des schicksalhaften und die deutsche Nation einenden Jahres 1813 bis in unsere Tage hinein aussieht.
Hellmut Diwalds Worte von 1983 sind geradezu prädestiniert, als Hinführung zu einer nationsbejahenden und patriotischen Erinnerung an das Jahr 1813 zu dienen:
Mit der „geschichtlichen Stellung“ ist nichts ewig Gleichbleibendes, ein gewissermaßen experimentell nachweisbarer fester Ort innerhalb des historischen Ablaufs gemeint. Es handelt sich vielmehr um die allgemein-politische und kulturell-geistige Interpretation, die sich aus dem eigenen historischen Weg ergibt: um eine Ausdeutung des bisherigen Vergangenheit, um die Aufgaben innerhalb der Gegenwart und um die Zielsetzung in der Zukunft.
In dem dieses Zitat abschließenden Satz sind im Grunde auch die Kernanliegen des Berliner Kollegs zusammengefaßt. Zur Einführung begrüßte Dr. Erik Lehnert, Geschäftsführer des Instituts für Staatspolitik, die anwesenden 120 Zuhörer und zeigte anhand von Beispielen auf, daß es heute „offenbar gelungen ist, eines der erhebendsten Ereignisse der deutschen Geschichte zu einer nationalen Ursünde umzudeuten“. Demgemäß sollte das Berliner Kolleg eine fundierte Gegen-Öffentlichkeit herstellen und das Jahr 1813 als das darstellen, was es war: die Geburtsstunde des gesamtdeutschen Nationalbewußtseins. Herrschte noch zum hundertjährigen Jubiläum 1913 eine patriotische und aus dem Volk erwachsene Erinnerungs- und Gedenkkultur, fehlt 2013 der „Mut zur Geschichte“ völlig und die Gedenkveranstaltungen müssen mit der Lupe im erinnerungspolitischen Niemandsland gesucht werden.
Als Gipfel der Dreistigkeit führte Lehnert die Frankfurter Rundschau sowie die Zeitschrift GEO (03/2013) an, in denen der Befreiungskampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft geradezu als Beginn des mit Hitler endenden deutschen Sonderwegs dargestellt und deshalb die Nationale Erhebung von 1813 gänzlich infrage gestellt wird: „Wenn man zurückschaut auf die Kosten, wäre die andere Trikolore, die blau-weiß-rote, vielleicht gar keine so schlechte Wahl gewesen.“
Hiernach referierte der Berliner Historiker Jan von Flocken kenntnisreich und kurzweilig über „Die Befreiungskriege und die Geburt einer Nation“, der ausgehend von alltagsgeschichtlichen Episoden aus der napoleonischen Besatzung in Berlin den Bogen zu dem wachsenden Widerwillen und teils offenen Haß gegenüber der französischen Fremdherrschaft schlug. In seinen Vortrag über die Entstehung des „deutschen Einheits- und Freiheitswillen“ baute Flocken zahlreiche Zitate der großen deutschen und preußischen Geister aus der Zeit der Befreiungskriege ein und präsentierte dem Publikum so lebhafte Begegnungen mit Fichte, Arndt, Kleist und Körner. Insbesondere die Rolle des Generalleutnants York von Wartenburg zum Jahreswechsel 1812/13 würdigte der Referent ausgiebig und stellte dessen Befehlsverweigerung gegenüber seinem König als Akt des Freiheitskampfes und ‑willens heraus. Dieser erst machte den Weg für den berühmten Aufruf An Mein Volk des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. frei, der als Anfangspunkt für die Befreiungskriege gilt.
Zu recht wies Flocken darauf hin, daß zunächst nur Preußen, Mecklenburg und Anhalt die Erhebung gegen Frankreich wagten und sich die anderen deutschen Einzelstaaten erst nach und nach anschlossen. Das Verdienst der Nationalen Erhebung und der Beseitigung der Fremdherrschaft in einem gemeinsamen Kampf der deutschen Stämme lag darin, die Deutsche Frage auf die ständige Tagesordnung gesetzt zu haben. Trotz mannigfaltiger Rückschläge im Zeitalter der Restauration war doch die Saat gelegt, die 1871 mit der Reichseinigung aufgehen sollte und zumindest eine kleindeutsche Lösung bereithielt.
Den nächsten Programmpunkt setzte der emeritierte Professor für Alte Geschichte, Dr. Michael Stahl, der über „Karl Friedrich Schinkel und die ästhetische Erziehung der Deutschen“ vortrug. In seinen einführenden Worten legte Stahl die Beweggründe für seine Beschäftigung mit Schinkel dar. Er wolle einen Dritten Weg fernab von den antiquierten Kategorien rechts und links aufzeigen, der sich für ihn im Konservatismus als Garant der Freiheit und Verantwortung manifestiere. Bezugnehmend auf die Griechische und Römische Antike plädierte Stahl für einen Konservatismus (und damit Dritten Weg), der die Bildung zur ästhetischen Selbsterziehung in den Mittelpunkt des Handelns rückt. Hieraus erwachse das politische Ethos von Freiheit und Verantwortung sowie das ästhetisch Schöne, mitunter „das Wahre und das Gute“. Denn in diesem Schönen und Ästhetischen werde das Göttliche für den Menschen greifbar und somit eine integrale Kraft freigesetzt, die keinen staatlichen Eingriff nötig mache, um eine stabile und solidarische Gemeinschaft zu begründen, sondern hierfür ein Bewußtsein im Volk erwachsen ließe.
Bezugnehmend auf Winckelmann und Schiller schlug der Referent dann den Bogen zu seinem Untersuchungsgegenstand Karl Friedrich Schinkel, dessen bauliche Hauptwerke allesamt Bildungsstätten gewesen sind und der das Ideal eines sich in Geist und Schönheit selbst bildenden Bürgers vor Augen hatte. Stahl erblickte in seinem mit reichlich Bildmaterial illustriertem Vortrag eine Einheit von Schinkels Idee der Schönheit mit Schillers Idee der ästhetischen Erziehung. Detailreich wurde dargelegt, wie Schinkel die Einheit des Volkes in einer Nation anstrebte, diese aber in einer „republikanischen Monarchie“ verwirklicht sehen wollte. Im Grunde ging es Schinkel darum, ein politisches Ethos im Volk zu stiften, das die Voraussetzungen für eine konservative Sozialmonarchie schaffen würde. Doch mit dem Impuls der Nationalen Erhebung 1813 konzentrierte sich Schinkels Wirken darauf, eine neue Ordnung mittels der Kunst zu entwerfen, in deren Zentrum eine Bürgergesellschaft aus Kraft, Freiheit und Einheit stehen sollte, die ganz dem Genius Preußen verpflichtet sein müsse.
Weiter führte Stahl aus, wie Schinkels „Streben nach dem Ideal“ die umfassende Lebenswelt in den Blick nahm und an alte Traditionen anknüpfte, um Neues zu erschaffen: die ästhetische Formenwelt Alt-Europas nutzte Schinkel in diesem Sinne, um eine deutsche Identität zu stiften. Auch thematisierte Stahl den von Schinkel entworfenen Memorialbau für die deutschen Gefallenen von 1813, der aus dynastischen Gründen und den unheilvollen Vorboten der Restauration nur in kleinem Rahmen als Denkmal (für die preußischen Gefallenen) auf dem Berliner Kreuzberg realisiert wurde. Abschließend erinnerte der Vortragende noch an das von Schinkel entworfene Eiserne Kreuz, das dieser als Zeichen der Kraftanstrengung eines geeinten Volks kreierte.
„1813–1913-2013. Die gelungene Rezeption eines Mythos und der fehlende Mut zur Geschichte“ lautete der Titel von Dr. Karlheinz Weißmanns Vortrag. Der Wissenschaftliche Leiter des Instituts für Staatspolitik begann mit der von Dr. Lehnert in der Einführung dargelegten Geschichtsvergessenheit der deutschen Gesellschaft im Jahr 2013. Dem Gedenken an 200 Jahre Befreiungskriege sind in diesem Jahr nur lokale Veranstaltungen im Leipziger Raum gewidmet, doch ein gesamtdeutscher Bezug wird auch hier nicht hergestellt. Das offiziöse Schweigen erklärt sich gemäß Weißmann damit, daß das kollektive Bewußtsein der Deutschen für das Schicksalsjahr 1813 von den Besatzungsmächten nach 1945 systematisch ausgemerzt wurde. Dies war im Jahr 1913 vollkommen anders.
Als der ideologische Kulturkrieg gegen das Deutsche Reich im Jahr 1914 ausbrach, war sich das Deutsche Volk gewiß, an die „Ideen von 1813“ nunmehr mit den „Ideen von 1914“ anzuknüpfen und diese in Frontstellung zu den „Ideen von 1789“ zu stellen. Erneut wurde die Nationale Erhebung beschworen und eine abermalige Entfesselung der Deutschen Bewegung propagiert. Dies vor dem Hintergrund einer Welle von vaterländischen Veranstaltungen im Jahr 1913, der Hundertjahrfeier der Befreiungskriege, die mit der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig ihren Höhepunkt fanden. Weißmann knüpfte in der folgend dargelegten Rezeptionsgeschichte von 1813 an einen im Jahr 2006 anläßlich des 12. Berliner Kollegs gehaltenen Vortrag zum Thema „Die Preußische Revolution: 1806 – 1809 – 1813“ an und zeigte auf, wie in Kaiserreich, Weimarer Republik und Nationalsozialismus Bezugspunkte zu 1813 hergestellt wurden.
Hiernach beleuchtete er das durchaus positive Verhältnis der DDR zu ihrem preußisch-deutschen Erbe und endete mit einem Blick auf die westdeutsche Nationsvergessenheit, die im Hinblick auf das Totschweigen des 200. Jubiläums ihren traurigen Höhepunkt findet. Weißmann beklagte abschließend den deutschen Erinnerungsverlust, hält diesen aber in einem Staat wie diesem für folgerichtig, da die national-revolutionären und preußisch-patriotischen Anklänge der Erhebung von 1813 zutiefst reaktionär und verdächtig wirken müssen. Doch wäre die Erinnerung an unsere Traditionen für die politische und volkliche Gemeinschaft essentiell, da der Mensch ohne Erinnerung und Tradition identitätslos würde.
Das Schlüsseljahr 1813 müsse wieder Bezugspunkt für die gemeinschaftsstiftende Identität des Deutschen Volkes und damit unseres Nationalbewußtseins werden. Deshalb ist das Nichterinnern an die Befreiungskriege („1813 als Geburtsstunde unseres Volkes“) keine geschichtspolitische Kleinigkeit, sondern die mutwillige Zerstörung des deutschen Erbes, unserer Geschichte und damit Identität! Deshalb fordert Weißmann abschließend: „Habt Mut zur Geschichte!“
Oder mit Hellmut Diwald gesprochen:
Ein Volk, das sich seiner Vergangenheit berauben, seine Erinnerung verzerren und seinen Selbstwert verstümmeln läßt, entwurzelt seine Existenz. Wer dies einsieht und entsprechend handelt, für den kann die Geschichte wieder zum Nagel werden, an dem unser Bild hängt.