Die Gewissenhaftigkeit, mit der sich vor sechzig Jahren ein Hans Sedlmayr um die Frage nach der »Wahrheit« der Kunst bemühte, wirkt auf uns heutige Abgebrühte geradezu rührend. Ein Bild könne etwa nur dann wirklich »schön« genannt werden, wenn es neben dem handwerklichen Können auch »eine Beziehung zur Seinsordnung«, zur Wahrheit, eingehe, wenn also dem Bildgehalt angemessene, adäquate Bildmittel entsprechen. Ein Schinken etwa, der Hitler als edlen Kreuzritter zeigt, wird zu Recht als Propagandakitsch wahrgenommen; mit einem Löwen kann man nicht die Sanftmut oder Feigheit symbolisieren, und mit einer Hure oder einem Misthaufen nicht die Reinheit. Gäbe es das Kriterium der Angemessenheit von Form und Inhalt nicht, würde es logischerweise auch keine ironische, komische, satirische, absurde, »dialektische« oder gar offen »diabolische« Kunst geben.
Vergessen und verschmäht sind die klassischen Aufgaben der Kunst, etwa spielerisch die Sinne zu erfreuen und zu berauschen, dem Erhabenen und Idealen eine Gestalt zu verleihen, den Menschen über das Allzumenschliche und Vergängliche zu erheben. Dagegen ist »Kunst« mittlerweile zum Synonym für Miesmacherei, »Dekonstruktion«, »Gags«, Stümperhaftigkeit und öde Egotrips geworden. Öffentliche Kunst ist heute Teil eines subventionierten Psychokriegs gegen die Refugien der Seele. Die Kunst ist keine seelische Kraftquelle mehr, sie ist zum Feind übergelaufen, der dem Menschen ständig zuflüstert, daß es keinen Gott gebe und er ein miserables, zufälliges Stück Zellmaterie sei. Sein Bedürfnis nach dem Schönen, Monumentalen und Idealen ist von der Werbung kanalisiert worden, denn als Konsumanreiz sind diese Dinge gerade noch gut genug.
Der Alltag der Menschen ist indessen nicht weniger langweilig, mühsam und deprimierend als früher; sie selber sind nicht schöner, gesünder, vollkommener, moralischer, unsterblicher geworden. Hätten sie nicht die Fähigkeit, abzustumpfen und abzuschalten, sie müßten sich nach jeder Fahrt in einer überfüllten, verdreckten U‑Bahn die Köpfe einschlagen. Je feinfühliger ein Mensch ist, um so mehr muß er sich gegen die ubiquitären Attacken abgrenzen: Jede Häßlichkeit, jede Dummheit, jede Gemeinheit nagt an seiner Seele und Lebenskraft, zermürbt seinen mentalen Schutzschild.
Ich stelle mir nun all die müden und mürrischen Arbeitnehmer vor, die frühmorgens mit der Wiener U‑Bahn zur Arbeit fahren und spätabends wieder zurückkehren, gereizt und erschöpft, um sich dann in der Station »Museumsquartier« von den dort ausgehangenen Bleistiftzeichnungen des Rudi Wach (geb. 1934) belästigen lassen zu müssen.
Aus der Presseaussendung der Wiener Linien: »Die 18 spannungsgeladenen überlebensgroßen Zeichnungen weisen bereits auf die Einzigartigkeit dieses Ortes hin. Auch für den durchfahrenden Fahrgast wird sofort klar, daß er sich hier in einem Brennpunkt der Kunst befindet, dem er sich nicht entziehen kann.« Das klingt nicht umsonst wie eine Drohung. Die Bilder zeigen gekrümmte, düsterschwarze Lemurengestalten mit klobigen, augen- und gesichtslosen Schädeln auf halslosen, wulstig-welken Kartoffelwurstkörpern, mit gebrechlichen, verdrehten, skelettdünnen Gliedmaßen und riesigen, viehischen Klauenhänden und ‑füßen. All dies ist von solch ätzender, ausgesuchter, durchtriebener Scheußlichkeit, daß es beinah schon boshaft wirkt.
Die Figuren zeigen keine Spur von Vitalität: sie sind reine Kopfgeburten, mausetot, Gespenster, die um ihre eigene Leere kreisen. Wollte Wach mit diesem Gruselkabinett Angst, Dämonie, Entfremdung darstellen, wie Kubin, Bacon oder Giger? Weit gefehlt! Der Künstler selbst will damit nach eigener Aussage dem »Wesen des Menschen Gestalt geben«, der Zyklus nennt sich »Lauf der Geschöpfe« und ist als eine Art mystische Lobpreisung der Schöpfung und »Energiefeld der Kunst« gedacht: »Nichts ist so vielfältig und einzigartig wie das Lebendige.«
Das kann man von seiner monotonen Folge blutleerer Figuren nicht gerade sagen. Der »Sterbende« etwa sieht nahezu identisch aus wie der »Tanzende«, der »Gabenbringende«, die »Verführende«, die »Bewußtwerdung« und der »Hirte«: überall die gleichen Gesten, die gleichen freischwebend abgewinkelten Körperhaltungen und die gleichen grotesken Leiber. Humanoide, Pflanzen und Tiere sehen aus wie demiurgisch hingeknödelte Gedärm- und Hackfleischskulpturen – Ekelalpträume wie aus einem Film von Lynch oder Cronenberg.
Wach hat es sogar geschafft, die Gestalt des Tieres zu verhäßlichen und jeglicher Anmut zu berauben. Jeden Tag gehen Tausende Menschen an diesen »spannungsgeladenen« optischen Körperverletzungen vorbei, und die meisten werden wahrscheinlich gar nicht mehr hingucken. Zur Kunst pflegt der Mann auf der Straße ohnehin ein eher ironisches Verhältnis, erst recht zur »zeitgenössischen«. Wer aber hinguckt, kann zumindest folgendes erkennen: daß noch der optisch verunglückteste, lächerlichste und stumpfeste reale Mensch lebendiger, einzigartiger, »vielfältiger« und vor allem mehr »Geschöpf« ist als Rudi Wachs Spukgestalten.