Büchnerpreis-Rede von 1989 gemacht: Hans Henny Jahnns Trilogie Fluß ohne Ufer, ein zweieinhalbtausend Seiten umfassendes Werk, in der Anschaffung fast unerschwinglich und beinahe vergessen: Warum eigentlich, fragte Strauß, und stiftete sein gesamtes Preisgeld (60000 Mark damals) für einen Lektüre-Wettbewerb (die besten Beiträge wurden später in einem Buch vereint).
Die Suggestivkraft, die von Fluß ohne Ufer ausgeht, ist nicht zu vermitteln. Man muß dieses Buch langsam und gründlich lesen, in einem unausgesetzten Lese-Fluß, der sich beispielsweise bei mir über mindestens noch zwei Jahre hinziehen wird: so viel Pflicht, so wenig klösterliche Ruhe!
Aber es gibt eine erste Lesefrucht, sie ist im Auftakt der Trilogie, dem Holzschiff, am Anfang des III. Kapitels zu finden. Diese Sätze – ich werde sie nicht mehr vergessen – sind der Versuch, die ersten, beklemmenden Gespräche der vorhergegangenen Seiten aufzulösen, in denen es um die Bauweise, die seltsamen Mechanismen und die blinden Passagiere des Schiffes ging. Die Sätze lauten: »Die Wahrnehmungen der Sinne waren in Einklang gebracht mit den Übereinkünften. Die allgemeinen und augenfälligen Gesetze waren an keinem Punkt umgebogen worden. Und das Prinzip der Nützlichkeit war inmitten eines bedeutenden Aufwands zur Herrlichkeit geführt. Der Spleen eines einzelnen war widerlegt.«
Vier Sätze zur Bändigung eines Abweichlers, vier Modulationen der Warnung vor einer abweichenden Perspektive: Wo der erste Satz die aufatmende Wiederherstellung des rechten Maßes beschreibt und der zweite das Wahrnehmbare in den Bereich des Alternativlosen rückt, übertreibt der dritte die Betonung des gedeihlichen Zustands. Die Gefahr der Übertreibung spürend, rückt der vierte Satz direkt und lapidar die Verhältnisse zurecht: Das Wort »Spleen« stellt den Abweichler in die Nähe eines zwar nicht ernstzunehmenden, aber doch lästigen Durchgeknallten.
Das Entscheidende liegt indes im Ton dieser betonten Stabilität vergraben. Nichts ist stabil. Alles klingt nach brüchigem Eis, wackliger Konstruktion, fragiler Statik. Welche Wahrnehmung soll da als »Spleen« markiert werden, welches Sprechen soll da wieder in Einklang gebracht werden »mit den Übereinkünften«? Überhaupt: Wer hat diese Übereinkünfte getroffen, was an diesen »allgemeinen Gesetzen« ist »augenscheinlich«, und welche praktische Konstruktion wird hier der »Herrlichkeit« gepriesen? Dies alles ist doch der Ton derer, die keine Fragen wünschen und die den »Einklang« dadurch herstellen, daß sie sanft drohen und sanft ausgrenzen.
Mir begegnete im Vortrag Erik Lehnerts auf der vergangenen Sommerakademie in Schnellroda die Gestalt, auf die solche Sätze aus der Mitte heraus gemünzt sind: der »Seitensteher«. Lehnert (sein Beitrag »Denkstile« formuliert das aus) bezeichnete mit diesem Begriff jenen Typ Denker, der sich nicht mit dem herrschenden Deutungsparadigma abfinden oder dessen Ton aufgreifen und bedienen möchte. Der Seitensteher kratzt vielmehr am Paradigma, bereitet einen Deutungswechsel vor, widerspricht im Kern und variiert seinen Ton, um Gehör zu finden. Oder, um Jahnns ersten, entscheidenden Satz aufzugreifen: Der Seitensteher bekommt die Wahrnehmung seiner Sinne nicht mehr in Einklang mit den Übereinkünften – und artikuliert das.
Die Frage ist: Welcher Seitensteher ist der »Typ von morgen«, welcher ein Spinner? Wann bereitet der Seitensteher einen Paradigmenwechsel vor, wann treibt er eine Sackgasse ins Niemandsland? Und: Setzt er sich zwangsläufig durch, weil er recht hat, oder gibt die Geschichte (diese »Sinngebung des Sinnlosen«, wie Theodor Lessing sie nannte) nur im nachhinein denen recht, die beharrlich und hart genug waren, sich durchzusetzen?
Nichts liegt näher, als die Sezession, unsere mit dem vorliegenden Heft zum 50. Mal vorgelegte Zeitschrift, auf ihre spezifische Form des Seitenstehens hin zu lesen und zu beurteilen. Wir Redakteure sind als die jeweils ersten und gründlichsten Leser der jährlich 6×60 Seiten nicht voreingenommen, denn wo, wenn nicht in der Redaktion, läge die Notwendigkeit zur steten Kritik, zur Verbesserung, Korrektur und Daseinsrechtfertigung. Um es kurz zu machen: Die Sezessionisten sind Seitensteher ohne Spleen und Typen von morgen – ohne Neigung, die Wahrnehmung ihrer Sinne mit den Übereinkünften in Einklang zu bringen. Wir schippern nämlich wirklich auf einem planlosen Kahn durch die Zeit.