Ein Bonmot bügelt die Frage hübsch glatt, wie Wäsche zwecks Zusammenfaltung: Das Volk steht nicht links und nicht rechts, es steht an der Wursttheke. Bei existentiellen Fragen sagt man, es gehe um die Wurst, die Rede geht gleichfalls von dem, der »die Brötchen verdienen« muß. Wurst und Brötchen, diese Metaphorik ist wenig geeignet, die must haves des Jahres 2013 zu spiegeln. Nicht, wer sich die Butter unterm Käse schwer leisten kann, sondern wer sich verschulden muß beim Kauf des Zweitsmartphones, gilt heute als bedürftig. Konsumkritik ist ein alter Hut. Konsumkritik ist halb retro (weil sie den aktuellen Zustand der materiellen Welt, die auf das Immerneue aus ist, hinterfragt) und halb anti-retro, weil die Gefühlslage der Retro-Freunde auf einem Lebensgefühl fußt, das Nachhaltigkeitsverdikte nicht nur nicht kannte, sondern die Sorglosigkeit (betreffs Ressourcenknappheit, Weltklima, Ausbeutung) vergangener Generationen hochleben läßt.
Zwei sehr zeitgenössisch markierte Autoren sind nun mit der aktuellen Lage des deutschen Konsumbürgers befaßt. Wir finden sie weder rechts noch links, und sie beäugen das Angebot der Wursttheke kritisch. Da ist zum einen Harald Welzer. Welzer mag einem erscheinen wie das omnipräsente Igelpaar aus der »Hase- und Igel«-Geschichte. Igel sind bekanntlich keineswegs die schnellsten, doch wo immer auch der Hase in seinem Geschwindigkeitsrausch die Zielmarkierung erreicht, da winkt gelassen einer der stachligen Gesellen hervor: »Ick bün all dor!« Welzer, Jahrgang 1959, hat in den vergangenen sechs, sieben Jahren massenweise Bücher geschrieben oder mitgeschrieben über »aktuelle Positionen zeitgenössischer Kunst«, über »hirnorganische Grundlagen«, über »Klimalügen« und über die »Verbesserung der Geisteswissenschaften«; viel beachtet wurde sein mit Sönke Neitzel herausgegebenes Buch Soldaten (2011), das die Abhörprotokolle deutscher Kriegsgefangener auswertete. Welzer kennt sich also aus, mit fast allem.
Er hat eine eigene Professur kreiert – Transformationsdesign –, er hat eine Stiftung namens »Futur zwei« ins Leben gerufen, die sich dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichtet weiß. Die entsprechende Netzseite befriedigt Spieltriebe und zeigt neckische Videoclips wie den mit der Schauspielerin Christiane Paul, die sich im Museum um die Entsorgung ihres Pappkaffeebechers sorgt und dazu einfach mal »den Harald« anruft. (Der bescheinigt Frau Paul sinngemäß, es sei okay, daß sie sich solche Gedanken mache.)
Welzers aktuelles Buch, besser: eine seiner Neuerscheinungen des Jahres 2013, steht nun beharrlich mit schreienden Großbuchstaben oben auf den Verkaufslisten: Selbst Denken. Anleitung zum Widerstand (Frankfurt a.M.: S. Fischer. 336 S., 19.99 € ), was ein wenig den Geruch wohlfeiler Wutbürgerei im Stile von Empört Euch! und ähnlich gängigen Basta-Tiraden verströmt. Dieser Welzer jedoch hat sich gewaschen, und wie! Einer, der die Wellen zu reiten versteht wie dieser Autor, zieht sich das Gewand des grantelnden Kulturpessimisten natürlich nicht an. Er besteigt den Tiger und liest dem Biest dabei die Leviten, tumultuarisch und eloquent, ein Cowboy beim Rodeo. Das hätte man nicht erwartet!
Freilich, Welzer ist ein »Öko«, er hat zuvörderst die Wachstumsideologie mit ihrer wuchernden Produktwelt im Blick, doch darf man die Schablone, die er zwecks Entzifferung von dessen Strickmuster auf den consumer citizen, den Konsumbürger, legt, getrost auf weitergefaßte Bereiche übertragen. Welzers Klage, daß wir mehr verbrauchen, als wir zu schöpfen imstande sind, ist nicht neu. Dem System seien die Vorraussetzungen abhanden gekommen, auf die es gebaut ist: eine Abwandlung der Böckenförde-Doktrin. Das »Stählerne Gehäuse der Hörigkeit«, als das noch Max Weber den Kapitalismus faßte, ist heute zu einer überaus smarten Zelle geworden: Wir haben uns freiwillig in die Gummiwände (vulgo »sozialen Netzwerke«) der Hörigkeit begeben; im Zeitalter von Facebook ist keine Gestapo oder Tscheka vonnöten.
Nicht nur, daß wir uns unaufgefordert durchschaubar, ortbar, mögbar gemacht haben, wir lassen uns umgekehrt auch intellektuell fremdversorgen. Der consumer citizen gestaltet nicht, er reagiert nur, er ist nicht souverän. Wo er ethisch und politisch korrekt konsumiert (Welzer spricht von der »begrünten Verschwendungskultur« und der »Irgendwas-für-Afrika-Industrie«), konsumiert er zusätzlich Moral und Ideologie. Diese Freiheit des Koofmichels »entspricht ungefähr der Freiheit des Nilpferdes im Zoo, sich lieber vom einen Wärter statt vom anderen füttern zu lassen.«
Welzers dichte, kenntnisreiche und überdies geschliffen formulierte Wutschrift ist mit ein paar Bildern bestückt. Nonchalant ist ein Photo mit »Freizeitidioten« untertitelt. Wir sehen ein halb fröhlich, halb angestrengt blickendes Paar in den besten Jahren, das in Profimontur einen sogenannten Klettergarten absolviert. Das lächerliche Bild steht symptomatisch für die Großklasse jener letzten Menschen, die zwinkernd dem Abgrund entgegenlächeln, die sich technisch und »sozial« stets auf den neusten Stand hochrüsten, die sich den Haushalt mit Dingen vollstellen, von denen sie kurz zuvor nicht mal ahnten, daß sie sie benötigen: zehn Millionen Flachbildschirme, eine Million Kaffeekapselautomaten (neu: die Ökokaffeekapsel!) wurden laut Welzer 2012 verkauft! Es scheint, als könnte dieses sich selbst wunderbar stabilisierende System ewig fortdauern.
Welzer warnt: Systeme können »lange über ihr Verfallsdatum hinaus existieren, um dann wie ein von Termiten ausgehöhltes Haus geräuschlos zusammenzubrechen.« Der Markt generiere nicht allein materielle Bedürfnisse, er habe auch das Soziale okkupiert und die Wissenschaft: »Wer in diesem System ›etwas wird‹«, so Welzer, dürfe vom marktförmigen Aufstiegspfad nicht abgewichen sein, müsse sich in einflußreiche Arbeitszusammenhänge eingepaßt haben: »Daß man zum Beispiel durch das Verfassen einer ›Enzyklopädie des Holocaust‹ beim Kampf um einen Lehrstuhl punkten kann«, das sei Welzer als jungem und naivem Wissenschaftler noch absonderlich vorgekommen. Dem Konsumismus eigne das Potential, jegliche kritische Gegenbewegung zu absorbieren. Die »unbegrenzte Geschmeidigkeit kapitalistischer Aneignung« betreffe auch politische Protestformen.
Hier trifft sich Welzers Analyse mit der Wolfgang Ullrichs, der davon ausgeht, daß eine künftige Diktatur durch Imageredakteure und Produktdesigner gestützt würde. Ullrich, Jahrgang 1967 und Professor für Medientheorie, hatte gemeinsam mit Peter Sloterdijk und Bazon Brock, also als »querdenkerisch« geltenden Philosophen, seinen Hörern unlängst im Rahmen einer mehrsemestrigen Vorlesungsreihe ein Diplom zum »Profi-Bürger« feilgeboten. Die drei Scharfdenker eint rezeptionstechnisch die Vermutung, daß man nicht sicher sein kann, ob hier Zyniker am Werk sind, die sehenden Auges die tragische Wirklichkeit affirmieren, um innerhalb des gegebenen Systemzusammenhangs hier und da deftig wider den Stachel löcken zu können. Auch ein Marktmechanismus!
Ullrich (Alles nur Konsum. Kritik der warenästhetischen Erziehung, Berlin: Wagenbach 2013. 205 S., 11.90 €) hebt – schneidend wie Welzer, aber ohne dessen Furor, statt dessen distanziert – auf den Kunstcharakter und den Erziehungswert der Konsumprodukte ab. Warum, so fragt er provokant und entgegen Welzers Interpretation, sollte man den Konsumenten in einem Entfremdungszusammenhang, in einem Zustand warenmäßiger Kolonisierung begreifen? Warum sei die Inszenierung eines Produkts eine Täuschung, warum werde diese »Form der Überwältigung« anders als bei anerkannten Formen der Kunst (Belletristik, Theater) als Betrug und Entmündigung bewertet? Den Schein, das Image eines käuflichen Dings müsse man nicht als Manipulation sehen, man möge es unter den Möglichkeiten ästhetischer Fiktion werten. Was nach einem Bekenntnis zur bunten Warenwelt, nach einer Würdigung von Konsumdingen als »emotionalen Biographiemarkern« klingt, liest sich im weiteren Verlauf als spielerische Freude an intellektueller Spitzfindigkeit.
Ullrich hat Photos von Regalwänden mit Produkten geschossen, er beschreibt genüßlich die schnittige Aerodynamik eines Fahrradhelms namens Mythos (»wer ihn nur sieht, verfällt sofort in einen Geschwindigkeitsrausch«; Konkurrenzprodukte heißen Revolution, Maniac und Torero) und die Genese eines Grundnahrungsmittels – Wasser in Flaschen – zu einer luxuriösen Substanz, die exklusive Erlebnisse zu bereiten imstande ist. Je teurer, je semantisch aufgeladener, desto wirkungsvoller. Wir, die Konsumenten, wollen es so! Nicht die Industrie diktiert, sondern der Käufer treibt das Business an! Der Kunde ist König, sagt Ullrich. Der Thron ist aus Pappe, sagt Welzer. Niemand zwingt uns, sagen beide. Nur: wer ist so frei, zu handeln, als ob ihn niemand zwänge? »Das gute Leben muß man leider auch gegen sich selbst erkämpfen« (Harald Welzer).