Es fällt schwer, sich im eigenen Land nicht fremd zu fühlen, und paradoxerweise fühlt man sich um so fremder, je mehr man sich mit diesem Land, seinem Volk, seiner Kultur und Geschichte identifiziert. Das Gefühl von Fremdheit hat zwar auch mit der massenhaften Anwesenheit von Fremden zu tun – vor allem aber damit, daß man an der Masse der Deutschen vorbeiredet, wenn man eine Position rechts von dieser Masse vertritt.
Unsere Mitbürger verstehen uns um so weniger, je gebildeter sie sind. Dies ist frappierend, denn normalerweise beinhaltet Bildung die Fähigkeit, auch solche Meinungen zu verstehen, die man selbst nicht teilt. Eine Verständigung zwischen einem Rechten und einem Linken oder auch nur Liberalen ist schwieriger zu erzielen als zwischen einem Eskimo und einem Buschmann: Letztere wissen wenigstens, daß sie unterschiedliche Sprachen sprechen. Deutsche unterschiedlicher politischer Richtungen benutzen dieselben Wörter, meinen aber jeweils etwas völlig anderes damit.
Rechte verstehen Worte wie »Vielfalt« oder »demographischer Wandel« bestenfalls als Euphemismen, schlimmstenfalls als Drohungen. Umgekehrt wirken die ihnen entsprechenden rechten Vokabeln, »Überfremdung« und »Volkstod«, auf einen Liberalen mindestens befremdlich und verdächtig. Die Rechte kann sich nicht verständlich machen, weil innerhalb der meinungsbildenden Eliten westlicher Gesellschaften über politische und gesellschaftliche Fragen praktisch nur noch in Begriffen gesprochen wird, die aus liberaler und sozialistischer Tradition stammen. Die Verdrängung der Rechten aus diesen Eliten vollzog sich in einem jahrzehntelangen, schleichenden Prozeß, bei dem gezielte Personalpolitik eine ebenso große Rolle spielte wie die Tatsache, daß der Sieg einer liberalen und einer kommunistischen Macht im Zweiten Weltkrieg politische Fakten geschaffen hatte, deren normative Kraft tief in die Gesellschaft hineinreichte, im Westen übrigens mehr als im Osten.
Durch den Wegfall des konservativen Gegengewichts zu liberaler und sozialistischer Ideologie verdichteten sich deren gemeinsame Grundannahmen, das heißt das aufklärerische Paradigma, zu einer Metaideologie, die bestimmt, was überhaupt als ideologisch akzeptabel gilt. Die Leitgedanken dieses Paradigmas sind zu Selbstverständlichkeiten geworden: Den meisten Menschen, sogar solchen, die sich als »Konservative« verstehen, ist nicht bewußt, daß ihr politisches Denken auf Prämissen basiert, die ideologische Konstrukte darstellen und nicht nur hinterfragbar, sondern auch buchstäblich frag-würdig sind.
Zu diesen unbewußten Prämissen, ohne die die vorherrschenden linken und liberalen Ideen in der Luft hängen würden, gehören die miteinander zusammenhängenden Vorstellungen:
- Gesellschaft sei von Menschen gemacht und daher willkürlich veränderbar,
- voraufklärerische Wertorientierungen seien gegenüber rational abgeleiteten minderwertig,
- demgemäß sei der gesunde Menschenverstand, in dem sich die evolutionär bewährten Lösungen des grundlegenden Bestandsproblems von Gesellschaft verdichten, ideologisch fundierten Gesellschaftskonzeptionen a priori unterlegen, weswegen er auch die Domäne des »Stammtischs« sei,
- gesellschaftliche Strukturen seien repressiv und daher zu verwerfen, sofern sie nicht ein Maximum an individuellem und kollektivem Gestaltungsspielraum gewährten (also praktisch immer, sofern es sich überhaupt um Strukturen handelt),
- eine Natur des Menschen, die der Verwirklichung emanzipatorischer Ideale entgegenstünde, existiere nicht,
- Fortschritt bestehe in der Befreiung von vorgefundenen Bindungen,
- die Geschichte kenne mithin ein Ziel, mindestens aber eine Richtung – womit durch die Hintertür eben doch wieder eine »Natur« des Menschen postuliert wird, nämlich eine utopiekompatible –,
- wer diese Natur nicht habe und an traditionellen Wertorientierungen festhalte, sei daher pervers,
- wer gegen den »Fortschritt« sei, sei dies nicht aus Einsicht in bestimmte objektive Zusammenhänge, sondern aus dem bösen Willen, den »Fortschritt« zu behindern,
- die Alternative zum jeweiligen Stand der Zivilisation sei nicht der Rückfall in die Barbarei, sondern der Fortschritt zum Paradies,
- und unwahr sei nicht, was der empirischen Wirklichkeit, sondern was diesen Axiomen widerspreche, deren »Wahrheit« sich durch die Verwirklichung einer auf ihnen beruhenden Gesellschaft erweisen werde.
Eine solche Ideologie negiert von vornherein den Wert vorgefundener, also nicht bewußt erfundener und rational konzipierter Orientierungen, insbesondere die Bindungen an Familie, Volk, Tradition, Religion und überlieferte Autorität. Politisches Denken auf solcher Grundlage kann gar nicht anders, als ein Programm der Destruktion hervorzubringen, dem nach und nach die elementaren Grundlagen der Gesellschaft zum Opfer fallen. Zwar zitieren auch liberale Autoren bisweilen noch das Böckenförde-Diktum, wonach der liberale Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne, aber sie durchschauen seine Tragweite nicht. Insbesondere ist ihnen meist nicht klar, daß die Zerstörung von Bindungen gleichbedeutend ist mit der Zerstörung der Voraussetzungen der Freiheit, und daß die Zersplitterung, die Atomisierung der Gesellschaft Probleme erzeugt, die dann zunehmend nur mit repressiven, am Ende totalitären, in jedem Falle aber illiberalen Mitteln unter Kontrolle gehalten werden können.
Die aufklärerische Idee, wonach die Geschichte eine Richtung kenne, hat insofern und aus denselben Gründen einen wahren Kern, als auch die physikalische Welt eine immanente Richtung kennt, nämlich die Richtung zunehmender Entropie, das heißt zunehmender Strukturlosigkeit. In demselben Sinne, wie physikalische Systeme auf die Dauer nur durch Energiezufuhr von außen stabil gehalten werden können, fordern die durch Aufklärung in Gang gesetzten sozialen Zersetzungsprozesse autoritäre »Lösungen« heraus, bei denen die schwindende Eigenstabilität des Systems durch gewaltsame Stabilisierung von außen und oben ersetzt wird. Nicht die Freiheit als solche, wohl aber eine aus ideologischen Gründen immer weiter getriebene Liberalisierung ebnet den Weg zur Knechtschaft.
Die Kernannahmen dieser Metaideologie werden kaum jemals als solche explizit propagiert. Die meinungsbildenden Eliten streuen sie ins Volk, indem sie bis weit in die Populärkultur hinein jede erdenkliche politische und gesellschaftliche Frage unter Gesichtspunkten behandeln, die die Gültigkeit dieser Annahmen implizit voraussetzen. Dadurch, daß sie nicht thematisiert werden, sondern als Voraussetzungen gelten, werden sie zu Selbstverständlichkeiten. Der herrschende Diskurs entwickelt aus diesen falschen Prämissen ein immer engmaschigeres Netz von falschen, einander aber zirkulär bestätigenden Wirklichkeitsbeschreibungen, und die Gesellschaft, die sich in diesem Netz aus irrealen Annahmen verfängt, verliert dadurch zunehmend ihre Fähigkeit, Probleme zu lösen.
Der politischen Rechten, die einen Gegendiskurs zu etablieren sucht, fehlt aufgrund ihrer sozialen und politischen Marginalisierung der kulturelle Resonanzboden, der ihren Themen Plausibilität und Respektabilität verleihen würde. Sie macht es sich aber auch selbst schwer, indem sie sich in traditionellen, meist mehr oder weniger religiös fundierten Begriffen artikuliert, die sie selbst für unmittelbar einleuchtend und daher nicht weiter begründungsbedürftig hält. Eine darauf aufbauende Argumentationsstrategie verfängt zwar dort, wo immer noch der gesunde Menschenverstand herrscht, das heißt in den Teilen der Gesellschaft, in denen das gleichsam instinktive Wissen um die Grundlagen der politischen Ordnung und der Gesellschaft noch intakt ist. Dies sind aber gerade nicht die Eliten.
Gegenüber diesen Eliten, denen solche Begriffe eben nicht mehr einleuchten, ist die traditionelle Sprache der Rechten unangemessen. Die Kommunikationsstörung ist programmiert. Der etablierte »Konservatismus«, namentlich der Unionsparteien, sucht in dieser Situation sein Heil darin, einen Gegendiskurs gar nicht mehr zu versuchen und Kritik an linker und liberaler Ideologie überhaupt nicht mehr als grundsätzliche, sondern bloß noch als relativierende Kritik zu üben, die darauf abzielt, das Zerstörungswerk der Linken zwar zu bremsen, aber nicht mehr zu verhindern.
Andere Teile des konservativen bis rechten Spektrums bevorzugen den Rückzug ins juste milieu der Rechtgläubigen und Gleichgesinnten, in die Wagenburg der gemeinsamen Trotzhaltung, ins Kartell des gegenseitigen Schulterklopfens, und ergehen sich dort entweder im Gejammer von Verlierern oder in illusionärem Autismus, bis die Zeit endgültig über sie hinweggeht.
Wenn aber die Diagnose richtig ist, daß unsere Kommunikationsprobleme vor allem darin ihre Ursache haben, daß weite Teile der Gesellschaft eine falsche Ideologie als Selbstverständlichkeit verinnerlicht haben; wenn wir ferner bedenken, daß der Gegensatz zwischen dieser Ideologie und der Wirklichkeit für jedermann wahrnehmbar ist, daß die herrschenden Eliten deswegen immer mehr zur Repression greifen müssen, und daß sich darin ihre Achillesferse offenbart – dann ist die Schlußfolgerung unabweisbar, daß ein rechter Gegendiskurs polemisch gegen diese falsche Ideologie, ihre Implikationen und die sie vertretenden politischen Kräfte geführt werden muß.
Es genügt nicht, auf den eigenen ewigen Wahrheiten zu beharren und der Gegenseite die Unfairneß ihrer Methoden vorzuwerfen. Es genügt auch nicht, ihre aus der Utopie abgeleiteten Wahrheitsansprüche einfach (also letztlich durch Ignorieren) zu negieren, man muß sie dialektisch negieren: Man muß die feindliche Ideologie kompromißlos und bis in ihre Fundamente hinein kritisieren, indem man zeigt, daß und warum die herrschende Metaideologie, sofern die Gesellschaft sich von ihr leiten läßt, mit Notwendigkeit nicht etwa eine bloß unvollkommene Version der von ihr postulierten Ziele verwirklicht, sondern deren Gegenteil. Erst auf der Basis dieser notwendig destruktiven Vorarbeit (bei der man allerdings die sichtbare Realität zum Verbündeten hat) können die eigenen Themen und Begriffe wieder Plausibilität gewinnen. Gerade für den, der sich strategisch in der Defensive befindet, gilt das Prinzip, daß Angriff die beste Verteidigung ist.
An dieser Stelle sei nicht unterschlagen, daß eine solche Strategie der Rechten in ein Dilemma führt: Die Bindung an Gott, das Volk, das Vaterland, überhaupt an traditionelle Werte verliert an normativer Kraft in dem Maße, wie sie nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Ergebnis der Kritik an einem Gegenentwurf, als Kritik der Kritik, als Aufklärung über die Folgen der Aufklärung bejaht wird. Was aufgrund eines Arguments bejaht wird, kann potentiell immer auch verneint werden, während das Selbstverständliche gar nicht erst bejaht werden muß. Kritik ist dialektische Negation, das heißt, sie enthält in sich auch das Negierte.
Die »Wagenburg-Konservativen« haben insofern instinktiv einen wichtigen Gesichtspunkt erfaßt: Eine Gesellschaft, die auf der Basis rechter Kritik an aufklärerischer Ideologie rekonstituiert wird, gleicht einem aus Scherben wieder zusammengeklebten Tongefäß, das naturgemäß nicht dieselbe Stabilität wie das unversehrte Original haben kann. Daß man eine zerbrochene Gesellschaft genausowenig in den Zustand der Unversehrtheit zurückversetzen kann wie eine zerbrochene Vase, ist freilich kein Argument, sie nicht wenigstens wieder zusammenzukleben.
(Manfred Kleine-Hartlage: Die liberale Gesellschaft und ihr Ende, Verlag Antaios, Schnellroda 2013, hier erwerben)
Kai Hammermeister
"Falsche Ideologie", "herrschende Eliten", "dialektisch negieren", "herrschende Metaideologie", "normative Kraft"...Herr Kleine-Hartlage, ist nicht vielleicht dieses Soziologendeutsch bereits ein Eingeständnis, daß der Rechten mittlerweile eine eigene Sprache völlig abhanden gekommen ist, um ihre Anliegen auszudrücken?
Vielleicht sollte man sich weniger mit der (trügerischen) Widerlegung linker Positionen aufhalten und stattdessen einem kreativen Impuls nachspüren, der genuin Eigenes und stolz aus der Tradition Gerettetes an die Stelle dieses unschönen Jargons und der darin abgehandelten Probleme setzen kann.
[Als ich die folgenden Zeilen schrieb, dachte ich just an Leute, die so argumentieren wie Sie:
MKH]