Zu einem Zeitpunkt, da neun Zehntel des konservativen Milieus ihre Hoffnung auf einen Wahlerfolg der »Alternative für Deutschland« setzen, erlaubt sich die Sezession ein Themenheft zur »Reaktion«. Die mögliche Diskussion über das Unzeitgemäße oder sogar Abseitige solcher Planungsentscheidungen wird redaktionsintern gar nicht geführt: Solche Themensetzungen beweisen, daß »Sezession« tatsächlich eine Distanz von den Erregungswellen der Tagespolitik bedeutet. Sezession (als Lebensprinzip und als konkretes Zeitschriftenprojekt): Das ist das Eigentliche, das immer gilt, auch wenn gerade irgendwo eine Rakete gestartet oder ein Luftballon aufgepustet wird.
Ernst Jünger absolvierte während des Zweiten Weltkriegs zwei vollständige Lektüredurchgänge der Bibel, man kann das in den Strahlungen nachvollziehen. Unser Autor Martin Lichtmesz wird im September ein kaplaken mit dem Titel Warum ich die Bibel lese vorlegen, und sein Antrieb ist kein anderer als jener, der seinen berühmten Vorgänger zur Lektüre führte: Vergewisserung bewährter Grundlagen und Maßstäbe in unübersichtlicher Zeit.
Lesen Sie also, was wir über das reaktionäre Lebensprinzip zu sagen haben. Was Sie letztlich aus der Lektüre »machen«, ist unerheblich: Der Ertrag daraus wird Ihnen zur Verfügung stehen, wenn Sie ihn brauchen.
Indem der 79jährige Historiker Dominique Venner sich am 21. Mai in der Kathedrale Notre Dame zu Paris erschoß, reagierte er radikal auf den Weg ins Verderben, den sein Vaterland und Europa seit Jahrzehnten beschreiten. Er reagierte dabei nicht so, wie es uns das liberale System und die offene Gesellschaft nahelegen: ertragend, selbstkritisch, ausweichend, akzeptierend, weich. Venners Reaktion war überlegt, symbolisch, männlich, frei und hart. Und sie war schockierend für all jene, die das Leben quantitativ und nicht qualitativ, individualistisch und nicht eingebettet, hedonistisch und nicht in erster Linie als Dienst auffassen. Was Venner am Altar der Kathedrale tat, begreift man entweder sofort oder gar nicht: Es umgibt sein Leben und seine Argumentation mit der Aura radikaler Unabhängigkeit und jäher Fremdheit, und alle Versuche, seine Tat zu instrumentalisieren, sind peinlich und müssen scheitern: Venner ist weit entfernt von dem, was wir zu tun haben.
Indes: Verwechseln Sie die Sezession und die darin angestoßenen Themen niemals mit jenem »Schweißtuch für die Bürger«, über das schon Friedrich Nietzsche ätzte. Ein Artikelchen für den Tag, ein Aphorismus für die Nacht – das ist es natürlich nicht! Das Wort »Reaktion« hat nicht nur jene politische Bedeutung, die von Unkundigen mit »vorvorgestern« oder »Metternich« in eins geworfen wird – jeder alte Apfelbaum ist von vorvorgestern, aber trotzdem Jahr für Jahr »unendlich neuer als ein Kabel und ein hohes Haus« (Rilke). Nein: »Reaktion« ist vor allem das Gegenteil von »Ertragen«, ist eine Antwort auf etwas, das uns widerfährt oder widerfahren könnte.
Wer reagiert, agiert antwortend. Die Sezession wäre nicht die Sezession, wenn sie nicht durch die Jahre betont hätte, daß sie unser Volk als historische Einheit nicht mehr in der actio, sondern nur noch in der reactio sehe. Geburtenschwund, historische Lähmung, Verachtung des Eigenen: Das Gesetz des Handelns ist – von der wirtschaftlichen Dynamik abgesehen – auf hungrige, hyperidentitäre, vielleicht auch bloß im voraufgeklärten Sinne »männliche« Akteure von außerhalb übergegangen.
Deutscher Rückzug an allen Fronten, verzögerte Reaktion selbst dort, wo die Dinge eindeutig liegen. Mir selbst passierte das vor Jahren einmal in Stuttgart, als ich in der Straßenbahn nach Bad Cannstatt saß und mitbekam, wie zwei Türken eine völlig verschüchterte deutsche Familie beleidigten. Verzögert war meine Reaktion, weil mir eine halbe moralphilosophische Bibliothek durch den Kopf rauschte, während ich über die Gründe des Verhaltens der Türken und meine mögliche Reaktion nachsann. Fünf Haltestellen lang begrübelte ich die Unsicherheit meines eigenen Standpunkts, badete in intellektueller Gehemmtheit und Selbstprüfung und erwog Entlastendes für diesen in Schwaben gestrandeten Pöbel. Dann – endlich! – stand der Vorsatz, beim nächsten falschen Wort, der nächsten übergriffigen Geste einzuschreiten. Aber da waren die Kerle schon aus der Tür.
Ob die Lektüre dieses Heftes für die Zukunft den Weg aus derlei Situationen abzukürzen helfen könnte, vermag ich nicht zu sagen.