In Deutschland ist er jedoch vor allen Dingen eines: nämlich nahezu unbekannt, und das völlig zu Unrecht. In Frankreich erzielen seine Bücher Millionenauflagen, seine Stellungnahmen zur Politik der Fünften Republik und zur französischen Identität sind vom Establishment gefürchtet. In Deutschland hingegen kennt ihn bisher nur ein kleiner Kreis. Vier seiner Bücher sind inzwischen ins Deutsche übersetzt worden, als bisher letztes folgt der Roman Die sieben Reiter (1993, dt. 2013 bei Antaios) den Übersetzungen von Sie waren die ersten (1986, dt. 1988), Das Heerlager der Heiligen (1973, dt. zuletzt 1985) und Sire (1993, dt. 2005).
Geboren wurde Jean Raspail im Jahre 1925 in der lieblichen Touraine, im Garten Frankreichs. Im Laufe der Jahrzehnte entstanden über 30 Werke, vom Reisebericht über ethnologische Beschreibungen kleinster Völkerschaften bis hin zum »historischen«, eher: dystopischen Roman. Viele dieser Werke wurden mit höchsten Preisen gekrönt, manche verfilmt. Hier kann nur eine Auswahl vorgestellt werden.
In den fünfziger Jahren beginnt für Raspail eine Zeit abenteuerlicher Reisen und von ihm geleiteter Expeditionen. Er hat unter anderem den amerikanischen Kontinent von Feuerland bis Alaska mit dem Auto bereist und beschrieben, er ist von Québec bis New Orleans mit dem Kanu gefahren, und an Patagonien, dem südlichen Drittel Südamerikas, hat er sein Herz verloren. Ein Resultat dieser engen Beziehung zu Patagonien ist das Buch Adiós, Tierra del Fuego, ein Buch, in dem er unter anderem das Schicksal der dortigen Indianer beschreibt: Im Verlauf der Nord-Süd-Wanderung strandeten die schwächeren, weniger entwickelten Alakaluf ganz im Süden, auch in Feuerland. Sie erteilen uns (durch Raspail) eine kleine Lektion.
Die Alakaluf überlebten in Feuerland Zehntausende von Jahren, weil sie auf primitive, aber äußerst effektive Weise an die unwirtliche Umgebung angepaßt waren. Sie trugen kaum Kleidung, rieben sich zur Wärmeisolierung mit Fischfett ein und ernährten sich von dem, was das Meer hergab: Fisch und Muscheln; an guten Tagen gab es Seehund, an sehr guten strandete ein Wal. Und dann kamen die Engländer, und mit ihnen kam die Zivilisation. Die von den Engländern eingeführten Kleider sogen sich voll Regen, der Wind kühlte die feuchten Kleider aus. Die Tragödie aber kam, als die erkälteten Alakaluf von den Engländern unwissentlich mit Decken versorgt wurden, die mit Krankheiten infiziert waren, gegen welche die Eingeborenen keinerlei Abwehr hatten: Das war ihr Ende.
Und das ist schon typisch für Raspail: die Unvermeidlichkeit des Untergangs dieses der Natur so völlig angepaßten Volkes durch die Zivilisation, die auf diese Kultur einstürmt – eine Unvermeidlichkeit, die völlig unverschuldet: also ganz tragisch ist. Raspail sei der Vorkämpfer der verlorenen Sachen, hat jemand geschrieben. Das beginnt in Patagonien, und es wird zum zentralen Thema in Raspails Leben. Das Thema »Patagonien« ist damit noch lange nicht erledigt. Eines der wichtigsten Bücher Raspails, das noch einer Übersetzung ins Deutsche harrt, ist Moi, Antoine de Tounens, Roi de Patagonie, nach einer wahren Geschichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. In der Familie eines Bauernjungen aus dem Périgord erzählt man sich, man sei von hohem Adel, allerdings verarmt und deshalb des Titels verlustig. Der Junge wird Rechtsanwalt, erstreitet vor Gericht in Paris einen Fürstentitel, läßt Visitenkarten mit Fürstenkronen drucken und wird natürlich nicht ernst genommen. Nun ist Patagonien zu jener Zeit noch nicht zwischen Argentinien und Chile aufgeteilt; so hat Antoine de Tounens die Idee, dort ein Königreich zu gründen.
Da der damalige französische Kaiser, Napoleon III. ihn und seine Pläne mit Nichtbeachtung straft, verkauft er seine Kanzlei, beleiht die Ländereien seiner Familie. Er wird nach Strich und Faden betrogen: Auf der Reise nach Südamerika schmilzt sein Staatsschatz schnell dahin, sein Siegel, seine blau-weiß-grüne Fahne und seine (vom französischen Kaiserreich abgeschriebene) Verfassung interessieren niemanden. Da bringt er in Patagonien und dem angrenzenden Araukanien einen örtlichen, stark alkoholisierten Indianerstamm dazu, »Eviva el Rey!« zu rufen (da ist er dann tatsächlich König) und unter seiner Führung eine Schlacht gegen die Chilenen zu schlagen (da hat er dann tatsächlich regiert). Weil er diese Schlacht auch noch gewinnt, erklären Argentinier und Chilenen ihn in ansonsten ungewöhnlicher Eintracht für verrückt, und seine arme Familie muß auch noch seinen Freikauf und Rücktransport nach Frankreich finanzieren.
In Paris ist er der König der Schickeria. Alle künstlerischen und gesellschaftlichen Größen seiner Zeit (wir sind, wie gesagt, in der Mitte des 19. Jahrhunderts) werden von ihm, auch gegen Bezahlung, zu Herzögen, Großfürsten und so weiter ernannt. Viermal noch fährt er in sein Königreich, viermal wird er wieder nach Frankreich geschickt. Rührend und zugleich Schlüsselszene ist jene Passage, in der Antoine in Paris in einem Zirkus »Menschenfresser aus Patagonien« entdeckt, die dort zur Erheiterung des Publikums rohes Fleisch essen und auch ansonsten Fremdartiges tun. Der König erkennt seine Untertanen, macht einen mächtigen Aufstand, tobt und kämpft – und kann diese armen Geschöpfe doch nicht befreien.
Die Fin-de-siècle-Schickeria verliert das Interesse an ihm. Der König stirbt einsam und vergessen, bis zuletzt trotz allem auf seine königliche Würde pochend, im Alter von 56 Jahren an Krebs. Er wird in einem Armengrab beigesetzt, sein Leib ist unauffindbar, sein kleines Grabmonument, später errichtet, ist leer. – Und so wird Patagonien zu einem Traum. Zu einem Traum, dem man sich ganz behutsam nähern muß, denn, so Raspail, wenn man das nicht tue, löse er sich auf. Das nun ist patagonisch, das ist Raspail. Denn: aus dem Grab des Königs heraus, schreibt Raspail, habe er, der Auor selbst, die Ernennung zum Generalkonsul des Königreichs Patagonien erhalten. Und so kann man sich um Einbürgerung bewerben, Raspail ernennt Vizekonsuln, Konsuln, es gibt auch eine patagonische Marine, die sich in regelmäßigen Abständen auf den Minquiers, einer winzigen, zur England gehörenden Inselgruppe im Ärmelkanal trifft. Dann wird zum Gedenken an den Falklandkrieg die britische Fahne ehrenvoll eingeholt und die patagonische gehißt, Kaviar gegessen, Champagner getrunken. Die britische Fahne wird mit allen Ehren am nächsten Tag in der britischen Botschaft in Paris abgegeben.
Nichts liegt ferner als der Gedanke, all das sei unernst. Halten wir die bisherigen Botschaften fest: Die Alakaluf sterben aus, weil ihnen Fremdes übergestülpt werden soll. Man will ihnen bessere Lebensweisen aufdrängen, und genau mit dieser eigentlich guten Intention sorgt man für ihr Aussterben. Der Verlust der Identität führt zum Tod. Der König von Patagonien scheitert, natürlich. Aber seine Idee, seinen indianischen Untertanen die Freiheit ihrer Eigenart zu bewahren, sie zu fördern – ist diese Idee denn falsch?
Die Überzeugung, daß eine richtige Sache getan werden müsse, auch wenn keine Aussicht auf Erfolg bestehe, durchzieht Raspails Werk. So wie der König von Patagonien seinen völlig aussichtslosen Kampf kämpft, so aussichtslos kämpft eine zusammengewürfelte Gruppe in Das Heerlager der Heiligen für den Erhalt ihrer europäischen Kultur angesichts der Masseneinwanderung einer Million armer Inder. In Deutschland ist der visionäre, dichte, voller Symbolik steckende Roman von 1973 das bisher bekannteste Werk Raspails. Er habe es wie in einem Schaffensrausch niedergeschrieben, berichtete Raspail einmal: Das Buch habe sich quasi selbst verfaßt.
Auch Sire beschreibt etwas, das geschehen muß. Die nachts und ganz im stillen erfolgende Krönung des Königs, von deren Folgen der Roman nichts erzählt, ist eine Notwendigkeit angesichts des absolut desolaten Zustandes von Staat und Gesellschaft, angesichts von allgemeinem Niedergang, von Dekadenz und Korruption – der König ist der Garant der Fortdauer, des Lebens der Nation. Die Monarchie, laut Raspail die einzige Regierungsform, die auf Liebe gegründet sei, ist das Gegenbild zu einer als korrupt empfundenen Regierungsform: Innenminister Roth, innerlich längst zur gleichen Erkenntnis durchgedrungen und deshalb kurz vor dem Rücktritt, lacht laut angesichts des Präsidenten und seiner Hunde im Élysée-Palast. Gefragt, warum er denn lache, antwortet er: »Weil du hier sitzt!« Nun kann man angesichts der aktuellen Ereignisse um den Präsidenten Hollande kaum den Gedanken vermeiden, hier handle es sich um eine weitere der Raspailschen Visionen. Sire steckt voller offener und versteckter Anspielungen dieser Art, und es ist ein intellektuelles Vergnügen, hinter einer »einfachen« Geschichte eine Fülle von Hinweisen zu entdecken.
An einer Stelle schreibt Raspail, der Erzbischof und das Allerheiligste verließen »Hand in Hand« den Bischofspalast. Das ergibt erst dann einen Sinn, wenn man weiß, daß jener namentlich genannte Erzbischof später aktiv den Kommunismus in Frankreich unterstützte, und wenn man weiß, daß »Hand in Hand« aus dem Refrain eines sozialistischen Liedes stammt. So muß die deutsche Übersetzung dann »Seit’ an Seit’« heißen und offenbart ihr kleines Geheimnis dem, der in der Geschichte nachforscht. Der Kardinal, der den König in Reims krönt, trägt den Namen eines Gegenpapstes, und er stammt aus dem Geschlecht derer von Savoyen, die nicht nur das italienische Königshaus stellten, sondern auch mehrere Selige und Heilige hervorbrachten. Noch in diesem Jahr 2013 soll Marie-Christine, Königin beider Sizilien, seliggesprochen werden. Ein weiteres, schönes Bild: Der frischgesalbte König und seine Schwester sind eineiige Zwillinge (was eigentlich ja unmöglich ist). Sie, die Schwester, stärkt den Bruder in Momenten der Schwäche durch ihr Gebet, durch ihre weibliche Stärke.
Und die Zukunft der Monarchie? Unsere Fürsten seien nicht auf der Höhe der Sache, schreibt Raspail, desillusioniert, in einem Brief an den Autor dieser Zeilen.
Eine recht gnadenlose Analyse des (geistigen) Zustandes der Gesellschaft ist Sept Cavaliers. Sieben Reiter brechen aus einer Stadt in einem erträumten Europa des 19. Jahrhunderts auf, aus welcher das Leben sich zurückgezogen hat. Sie suchen außerhalb der Stadt nach Gründen für das Sterben der Kultur, erkunden das verrottete und verkommene Umland. Wie immer bei Raspail sind die Zustandsbeschreibungen so deprimierend, wie die Gegenwart sich manchmal darstellt. Hoffnung und Licht spenden indeß die Charaktere, auch wenn der Roman nicht eben »gut« endet.
Zu einem sympathischen Gegenbild einer als kultur- und identitätslos empfundenen Gegenwart wird auch Hurrah Zara. Hier zeichnet Raspail meisterlich die Zustände in Europa vor dem Ersten Weltkrieg nach. Die Adelsfamilie von Pikkendorff ist in ganz Europa verbreitet. Jeder Zweig der Familie hat die typischen Eigenarten seines Landes, den Charakter seines Volkes, seine Identität. Und so wird jener Erste Weltkrieg zur Urkatastrophe jenes »alten« Europa. Sie reißt die europäische Familie auseinander und führt, wenn man es bis zuletzt weiterdenkt, zu einer gesichtslosen, geschichtslosen, identitätslosen EU. Raspail wird so zum entschlossenen Verteidiger einer Sache, die vielleicht noch nicht verloren, aber sicherlich höchst gefährdet ist. Zum Verteidiger wird er, indem er uns erst einmal klarmacht, was wir verlieren, wenn wir unsere ethnische Identität verlieren oder kampflos aufgeben. Er sei, sagt er in einem Fernsehinterview aus dem Jahre 2011, seit achtzehn Jahrhunderten Franzose, und er wolle diese europäische, französische Identität behalten, bewahren. Möglicherweise könne eine Mischgesellschaft existieren, vielleicht könne sie sogar gut funktionieren, er wolle sie aber für sich nicht.
Zur französischen Identität gehört eben doch auch die Religion. Wenn auch die Kirche in Frankreich ihre eigene, gallikanische Ausprägung und Besonderheit hatte und hat, so steht sie doch fraglos für die Prägung Frankreichs, so wie das Christentum ja überhaupt unser Europa mehr geprägt hat und nach wie vor prägt, als es, von innen gesehen, wohl den Anschein hat. Charles Maurras hat das erkannt und mußte durch ein tragisches Leben zeigen, daß es so etwas wie einen atheistischen Katholizismus, der einen monarchischen Staat tragen soll, nicht geben kann.
Raspail ist traditioneller Katholik. In seinem Roman L’Anneau du Pêcheur (»Der Ring des Fischers«) spinnt er die Geschichte des Pedro de Luna weiter, jenes Papstes Benedikt XIII., der sich zur Zeit des Großen Schismas und der Babylonischen Gefangenschaft der Kirche am Ende des 14. und zu Beginn des 15. Jahrhunderts (zu Recht? zu Unrecht? – die Kirche zählt ihn zu den Gegenpäpsten) halsstarrig für den rechtmäßigen Papst hält und in Portugal weiterhin Kardinäle kreiert, die dann ihrerseits nach seinem Tod seine(n) Nachfolger wählen, bis ins 20. Jahrhundert hinein. Es gelingt Raspail meisterlich, die Bedeutung des Papsttums eindringlich zu verdeutlichen, wenn er den letzten dieser Nachfolger (die sich alle nur »Benedikt« nennen), einen völlig armen, alten und schwachen Greis, sich auf den Weg nach Rom machen läßt. Wer diesen Weg im Roman mitgeht, begreift unweigerlich, wie sehr die katholische Tradition (im weitesten Sinne) Quelle unserer Zivilisation ist und welche Rolle das römische Papsttum darin spielt.
Und auch hier gilt, was für alle Romane Raspails gilt, die wir nun vorgestellt haben: Vor dem Hintergrund wesentlicher und bleibender Züge des Pontifikats Benedikts XVI., an welches zur Zeit der Entstehung des Romans (1995) in keiner Weise zu denken war, gewinnt auch dieser Roman fast visionäre Züge.
Am 7. Juli 2013 wird Raspail 88 Jahre alt, und er erlebt, daß seine Anliegen im Bewußtsein der Europäer immer mehr Fuß fassen. Um ihn selbst scheint es in letzter Zeit ruhiger geworden zu sein. Der Autor dieser Zeilen, selbst Vizekonsul des Königreichs Patagonien, hat ihn im telefonischen und brieflichen Umgang immer als sehr freundlich, zuvorkommend, ja großzügig erlebt – er soll aber auch recht ruppig werden können, wenn ihm etwas gegen den Strich geht: Es kann sein, daß er dann, wie man hört, eine Gesellschaft einfach und grußlos verläßt. Das aktuelle Deutschland der Bundeskanzlerin ist ihm nicht sympathisch; eine generell antideutsche Haltung darf man daraus aber keinesfalls ableiten. Und dann ist da ja auch noch die in Frankreich durchaus übliche Unterscheidung zwischen einem preußischen Deutschland und jenen Rheinländern, welche von »rechten« Franzosen für zwangsgermanisierte Romanen gehalten werden … aber das ist eine andere Geschichte.
Ist Jean Raspail ein Visionär? Er selbst würde es abstreiten, und das tut er auch in dem oben angesprochenen Fernsehinterview. Seine Bücher seien Romane mit Fragestellungen. Keine Visionen, keine Analysen, keine Rezepte. Und doch: wenn zur Zeit der Abfassung dieses Autorenportraits Franzosen seit Monaten gegen die sozialistischen Umbaupläne des Präsidenten Hollande massiv auf den Straßen demonstrieren, dann kann man sicher sein, daß sehr, sehr viele von ihnen Raspail gelesen haben, jenen Raspail, der von sich sagt, er sei stolz, ein »français de souche« zu sein – ein Franzose jener Abstammung, die das Land und seine Zivilisation aufgebaut hat.