Seit langem sind arrivierte Altachtundsechziger zu beobachten, die kokett nicht nur bekennen, ein bißchen »konservativ« zu sein, sondern sich auch in dieser oder jener Hinsicht zu den »Reaktionären« zählen. Dabei gab es Zeiten (und bei unseren romanischen Nachbarn sind sie nicht ganz vergessen), da war der Vorwurf »reaktionärer« Gesinnung kaum zu überbieten, und das spöttische »On est toujours le réactionnaire de quelqu’un« – »Man ist immer der Reaktionär von irgendwem« – half darüber kaum hinweg. Denn im Grunde war »Reaktionär« ein Synonym für »Faschist«, also das absolute Gegenteil dessen, was man sein sollte. Immerhin hatte der Antagonismus den Vorzug der Deutlichkeit und stand in einer Denktradition, die weit zurückreicht.
Auf die Frage: Was ist »Reaktion«?, gibt es im Grunde nur eine Antwort: Dem Rad der Geschichte in die Speichen fallen. So die Formulierung von Karl Marx, der ganz wesentlich dazu beigetragen hat, den politischen Begriff »Reaktion« durchzusetzen. Für ihn wie für die politische Linke und den Liberalismus des 19. Jahrhunderts stand dahinter der Gedanke, daß die Geschichte gesetzmäßig vom Fortschritt bestimmt werde, der die ständige Verbesserung der Menschheit in technischer, politischer und moralischer Hinsicht bedeute. Die Reaktion versuchte diese Bewegung aufzuhalten und dann umzukehren. Die Vertreter des Fortschrittsgedankens waren zwar überzeugt, daß das letztlich unmöglich sei, behielten den Reaktionär aber als Feind im Auge, weil er den Prozeß unterbrechen und fallweise erheblichen Schaden anrichten konnte. Der Reaktionär gehörte für die Progressiven zur Partei des Bösen in einer Welt, die zum Guten bestimmt war und die ihr Ziel ungleich schneller erreichen würde, wenn man der Reaktion keine Gelegenheit verschaffte und ihre Träger ausschaltete. Um es mit einem Marxisten zu sagen: »Wir werden gegenüber den Reaktionären und den reaktionären Handlungen der reaktionären Klassen unter keinen Umständen ein humanes Regiment aufziehen.« (Mao Tse-tung) Ganz im Gegenteil: die linke Avantgarde hat da, wo sie die Macht ergriff, nie gezögert, die Vernichtung »reaktionärer Individuen«, »reaktionärer Klassen«, »reaktionärer Dynastien« und auch »reaktionärer Völker« – von »Völkerabfällen« sprach Friedrich Engels – für notwendig zu erklären und durchzuführen.
Der Siegeszug des Fortschrittsgedankens erklärt hinreichend, warum die Bezeichnung »Reaktionär« bis heute praktisch immer negativ gemeint ist. Selbst die Konservativen distanzieren sich wohlweislich, und die Nationalsozialisten bekämpften ausdrücklich »Rotfront und Reaktion«. Eine Vorstellung, die nicht nur mit Hitlers Anerkennung des Progresses zu tun hatte, sondern auch mit dem revolutionären Charakter seiner Bewegung, die zwar fallweise als Gegenbewegung zu den Revolutionen 1789/1917/1918 definiert wurde, aber in vielem mit deren Methoden und Zielen übereinstimmte. Wenn der Nationalsozialismus trotzdem gewisse »reaktionäre« Züge hatte, dann erklärt sich das paradoxerweise aus dieser Eigenschaft, denn Revolutionen sind ihrer Absicht nach Reaktionen: nicht in dem platten Sinn, daß sie auf Bestehendes reagieren, sondern in dem wörtlichen, daß es sich dem Grundgedanken nach um »Rückbewegungen« handelt, gemeint ist: Rückbewegungen hin zu einem früheren, weil besseren Zustand.
Die Vorstellung von einem solchen Zurück wurde zwar durch den utopischen Charakter moderner Fortschrittsideologien verdeckt, ist aber nie ganz in Vergessenheit geraten. Deutlich zu erkennen war das Element sowieso in den Bauernaufständen des Spätmittelalters, der Reformationszeit und des englischen Bürgerkriegs, aber auch in der Weltanschauung jener Führer der Französischen Revolution, die unter dem Einfluß Rousseaus standen und eine Welt ersehnten, die wieder einem »Naturzustand« nahekommen sollte, der die Anfänge der Menschheit bestimmt hatte. Ein Konzept, das linke Denksysteme nachhaltig beeinflußte, auch das des »wissenschaftlichen« Sozialismus, für den der Kommunismus nur auf ein höheres Niveau setzte, was den Urkommunismus ausgemacht hatte: Beseitigung von Privateigentum und Ehe, allgemeine Gleichheit, Fehlen des Staates.
Sehr früh haben Anhänger wie Kritiker auf die religiöse Grundierung solcher und ähnlicher Vorstellungen hingewiesen, darauf, daß 1789 eine »schlummernde Religion« geweckt worden sei, denn »der revolutionäre Wunsch, das Reich Gottes zu realisieren, ist der elastische Punkt der progressiven Bildung« (Friedrich Schlegel). Da war der Hinweis unumgänglich, daß in den Ideologien der Linken wie in der jüdischen und der christlichen Eschatologie ein Endzustand vorgestellt werde, der dem Urzustand entspreche: das Reich Gottes zum Schluß, das Paradies am Beginn. Und unter Hinweis auf die moderne Ethnologie könnte man noch einen Schritt weiter gehen und die biblische Vorstellung zurückbeziehen auf eine allgemeine, den reaktionären Menschheitstraum, den Wilhelm Mühlmann als Widerspiel von »Nativismus« und »Chiliasmus« beschrieben hat. Nativismus bezeichnet dann die Sehnsucht nach den reinen Anfängen, Chiliasmus den Wunsch nach einer vollständigen Neuordnung. Beide wollen Zustände, die gekennzeichnet sind durch Egalitarismus und einen Schlaraffenlandcharakter, sie werden angekündigt von Propheten und herbeigeführt durch messianische Gestalten, die nach den apokalyptischen Wehen das »tausendjährige Reich« heraufführen, das nicht nur jede bis dahin bestehende Sozialform aufhebt, sondern als »verkehrte Welt« charakterisiert werden kann, insofern die Gleichen eine Paria-Elite bilden und man so in eine Situation zurückkehrt, die vor der Geschichte gelegen hat, mit ihrer Überlieferung, ihren Hierarchien und ihrer Tragik.
Mühlmann hat darauf hingewiesen, daß es sich bei diesem Konzept um ein universales Phänomen handelt, das erstaunlich ähnlich in allen möglichen Weltgegenden auftrat und weiter auftrittt: von den Erhebungen der antiken Juden über die Bogomilen und Adamiten, vom Täuferreich zu Münster bis zur Geistertänzerbewegung in Nordamerika, vom frühen Islamismus der Mahdi-Anhänger bis zu den Mau-Mau in Kenia, von den christlich beeinflußten Boxern in China bis zu den Arioi in Polynesien, die ihr Heidentum verteidigten. Und er bestand darauf, daß sich »Fortsetzungen und Ausläufer jenes Wellenschlages der Empörung und Revolte« auch in der europäischen Moderne finden, sei es im Primitivismus der Kunst oder im Rassismus, sei es in den nationalrevolutionären Parteien oder im Anarchismus, im Terror der Fundamentalismen wie im Egalitarismus des Wohlfahrtsstaats.
Für Mühlmanns Interpretation spielte die Geschichtslosigkeit der ersehnten alt-neuen Welt eine wichtige Rolle. Aber er verzichtete darauf, diesem Aspekt weiter nachzugehen. Das ist um so erstaunlicher, als seine Thesen fast zeitgleich mit denen des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade entstanden. 1949 hatte Eliade zuerst auf französisch ein Buch veröffentlicht, das in Deutschland unter dem Titel Der Mythos der ewigen Wiederkehr erschien. Ein Mythos war für Eliade eine »heilige Geschichte«, mit deren Hilfe die traditionalen Völker alle entscheidenden Gegebenheiten, ihre Existenz, die Vegetation, die Werkzeuge, die Sexualität, die Riten, erklären konnten. Mythen befaßten sich mit der Entstehung eines bestimmten Gegenstandes oder Sachverhaltes und boten gleichzeitig ein Modell für das menschliche Handeln: Der Mensch in diesen Kulturen erkannte »sich als wirklicher Mensch nur in dem Maß, als er die Götter, die kulturbringenden Heroen oder die mythischen Ahnen nachahmt«.
Sein Bestreben mußte es deshalb sein, die Distanz zu den Vorbildern möglichst gering zu halten, um quasi immer wieder direkt an ihr Tun anknüpfen zu können. Illud tempus, die Zeit vor der Zeit, als Götter und Menschen sich noch nahe waren, blieb das Ziel aller Wünsche. Der »Mythos von der Perfektion der Anfänge« bestimmte nach Eliade die zentralen Riten jeder traditionalen Religion, durch die eine »Vernichtung … der abgelaufenen Zeit« vollzogen wurde. In kultischen Schauspielen etwa wiederholte man die Schöpfung, gab der Welt in einem sehr real verstandenen Sinn ihre Jungfräulichkeit zurück, die die Geschichte ihr genommen hatte.
Nach Eliade war die »archaische Mentalität« bestimmt vom »Heimweh nach den Ursprüngen«. Was sie trieb, war »ontologische Besessenheit«, ein Versuch, das Werden, wenn nicht zu verhindern, dann doch zu überwinden, »Durst nach dem Heiligen und Heimweh nach dem Sein«. Der Mensch litt an der Veränderung, daher das Bedürfnis nach totaler Reaktion. Aber die Vertreibung aus dem »Paradies der Archetypen« war unvermeidlich. Wollte man sich trotzdem der Geschichte »entgegenstemmen«, blieb nur der Versuch, dem Wandel einen Sinn zu geben, indem man die historischen Ereignisse ihrer Bedeutung beraubte. Das konnte etwa geschehen durch die zyklischen Theorien, die viele antike Kulturen ausbildeten, und deren Kern die Vorstellung war, daß die Zeit, wenn nicht im Kleinen, dann doch im Großen ohne Belang bleibt, daß der Verfall durch die Zeit zwar unvermeidbar, aber begrenzt ist, begrenzt durch einen absoluten Schnitt, der die Zeit vernichtet und einen Anfang wiederherstellt, damit die überlebenden Asen nach der Götterdämmerung sich neu auf dem Ida-Feld versammeln.
Eliade wie Mühlmann vertraten die Meinung, daß das Leiden an der Geschichte und die Sehnsucht nach dem Ursprung allgemeinmenschlich sind. Aber nur Mühlmann verwies auf den irritierenden Zusammenhang mit der »perennierenden Revolution«, das heißt jenem dauernden Prozeß gesellschaftlicher Umwälzung seit der Französischen Revolution, der noch in den weniger dramatischen, dafür um so tiefgreifenderen Folgen des technologischen Wandels zu Lebensverhältnissen führt, die die meisten Erwartungen überbieten, die die »Reaktion von unten« hegte. Umgekehrt ist aber festzustellen, daß Nativismus und Chiliasmus nichts mit Reaktion im politischen Sinn zu tun haben. Ganz im Gegenteil, denn der, der üblicherweise als Reaktionär bezeichnet wird, fordert eine »Reaktion von oben«, und das heißt, daß er gerade das Historisch-Gewordene verteidigt, gegen die Zumutungen des Unhistorisch-Naturhaften, den »Exzeß der Generalisierungen« (Clemens Fürst von Metternich). Für Reaktionäre ist – wie ein Gegner treffend bemerkte – die Geschichte ihr »Gesetzbuch«, und noch jede Berufung auf Legitimität und jede Restauration wurzelt in der Vorstellung, es gelte nicht irgend etwas Vergangenes oder gar einen Urzustand wiederherzustellen, vielmehr gehe es darum, eine Kontinuität zu beleben, einen Bezug auf das konkrete Früher zu nehmen und daran anzuknüpfen, letztlich den »Wert der Erfahrung und der Geschichte« (Julien Freund) zu verteidigen.
Inwieweit das überhaupt noch möglich ist, bleibt dahingestellt. Denn das »Schreckbild einer Menschheit ohne Erinnerung« (Theodor W. Adorno) ist längst kein Schreckbild mehr, sondern Realität, und immer klarer konturiert tritt hervor, daß Geschichtsbewußtsein im anspruchsvollen Sinn eine aristokratische Sache ist. Daher schwindet auch der relative Optimismus, den die ersten Reaktionäre zeigten, und hat sich im 20. Jahrhundert Stück für Stück die Chance verloren, jene Bestände noch aufzufinden, die einen Bezugspunkt für die Reaktion ergeben könnten. »Die Rechte ist unbestreitbar auf dem Rückzug«. Mit diesem Satz bilanzierte Jacques du Perron, ein französischer Autor, der zu den wenigen zählt, die sich offen als reaktionär bezeichnen, die Situation in seinem Buch Droite et Gauche – Tradition et Révolution. Die Begründung, die er liefert, ist ebenso nüchtern wie zutreffend: »Unsere antitraditionelle Zivilisation hat schon die stärksten Stützen der Rechten zerstört, angefangen mit dem Ende der Monarchien, der Aversion gegenüber der Kirche, der Schädigung des Bauerntums und auch dem Wandel der Armee.« Nach Meinung du Perrons ist die Rechte nichts anderes als ein Rest jener uralten Ordnung, die auf den Prinzipien der organischen Gliederung, dem Vorrang des Geistlichen gegenüber dem Weltlichen und der Anerkennung von Patriarchat und Familie als den wichtigsten Bausteinen der Gesellschaft beruhte. In dem Maß, in dem diese Basis zerfiel, wurde jede Reaktion unmöglich.
Die Argumentation du Perrons ist wesentlich durch jenen Traditionalismus geprägt, der seine Wurzeln einerseits in einer bestimmten katholischen Denkschule, andererseits in den Lehren jener Esoteriker hat, die sich an René Guénon, Julius Evola oder Frithjof Schuon orientierten, und die Stück für Stück jede Hoffnung aufgaben, irgendeine Art politischer Wirksamkeit zu entfalten. Denn es ist nichts geblieben – und es konnte nichts bleiben – von der Vehemenz reaktionärer Bewegungen wie der Chouannerie in Frankreich, der Tiroler Bauern, der Karlisten in Spanien oder der »Weißen« in Rußland, und es ist nichts geblieben – und es konnte nichts bleiben – von jenen Grandseigneurs der Reaktion, deren letzte Vertreter Gonzague de Reynold, Erik von Kuehnelt-Leddihn und Nicolás Gómez Dávila waren. Der Bedeutungsverlust vollzieht sich zwangsläufig, denn er entspricht einer Bewegung, die in den letzten zweihundertfünfzig Jahre alles aufzehrte, was für den längsten Zeitraum »historischer Existenz« (Ernst Nolte) Geltung hatte.
Der Reaktionär versteht sich immer als Sachwalter des Ganzen, deshalb fällt ihm die Parteibildung schwer. Er glaubte sogar, die Revolution durch »das Gegenteil einer Revolution« (Joseph de Maistre) aufhalten zu können, und hat sich erst dann an einer Gegenrevolution versucht, die letztendlich die Methoden des Gegners übernahm – man sprach früh von »weißem Jakobinismus« oder »weißem Terror« –, um auch daran zu scheitern. Selbst da, wo die Machtmittel zur Verfügung standen, im Spanien nach der Befreiung von der napoleonischen Herrschaft, im Frankreich der Restauration, im Kirchenstaat Pius X., zuletzt noch im Portugal Salazars, gelang es nicht, die perennierende Revolution zum Stillstand zu bringen oder gar ihre Tendenzen umzukehren. Das bedeutet das Ende der Reaktion als politischer Kraft, aber der Reaktionär als Typus ist deshalb nicht verschwunden, und es handelt sich bei diesem Typus auch nicht einfach um den, der wie de Reynold als Berufsbezeichnung »Landbesitzer« eintragen kann und ohne eigenes Zutun von Beständen leben darf, die seine Vorfahren zu besseren Zeiten anhäuften. Gemeint ist nicht der Reaktionär als Erbe, sondern der Reaktionär als Überzeugter, als Partisan einer als richtig erkannten Sache. »Es gibt nichts Dümmeres …«, schrieb Charles Maurras, »als eine Sache für verloren zu erklären«.