Rehabilitiert man einen Sympathisanten des Nationalsozialismus und unbelehrbaren Antisemiten, wenn man seine Kantate “Von deutscher Seele” aufführt? Ja, warnt Dr. Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland einen (!) Tag vor dem Konzert des Deutschen Symphonieorchesters zum Tag der Deutschen Einheit 2008, nicht ohne Chefdirigent Ingo Metzmacher in gedankliche Nähe zum Nationalsozialismus zu rücken: “Wer bei Pfitzner die Musik vom politischen und biographischen versucht zu trennen, der hat nichts aus der Nazi-Diktatur gelernt. Die Aufführung gerade am Tag der Deutschen Einheit erweist dem Land und den Menschen einen denkbar schlechten Dienst und bestärkt rechtsextremistische und nationalistische Umtriebe.”
Kündet die Pfitzner-Renaissance also das Vierte Reich an? Aufführungen von “Der arme Heinrich” in Dortmund (1999), “Die Rose vom Liebesgarten” in Zürich (1998) und Chemnitz (2008), “Das Christelflein” in Berlin-Neukölln (2003), München (2004, konzertant) und Hamburg (2008), “Das Herz” in Rudolstadt (1993) und Würzburg (2006), von Pfitzners Hauptwerk “Palestrina” 2009 in München und angekündigt für Frankfurt, Augsburg und Odense (konzertant), Einspielungen fast aller Orchesterwerke, Konzerte, Chorwerke und Lieder auf Tonträger scheinen das seit den neunziger Jahren stetig gewachsene Interesse an dem Komponisten, insbesondere an seinen Bühnenwerken zu belegen.
Von notorischen Mahnern und Warnern unkommentiert, waren einige Instrumentalwerke Pfitzners auf den Konzertspielplänen und sein Hauptwerk, die Musikalische Legende “Palestrina”, auf den Opernspielplänen auch früher mehr oder weniger präsent, in München und Wien zählt das Werk sowieso zum Kernbestand des Repertoires. Als 1983 eigens eine Inszenierung an der Ostberliner Lindenoper angesetzt wurde, um dem Tenor Peter Schreier sein Rollendebüt zu ermöglichen, versicherte man sich bei der im selben Jahr veröffentlichten Dissertation über Hans Pfitzners Schriften über Musik und Musikkultur von Detlef Rentsch (Universität Halle-Wittenberg), daß der Nationalkonservative Hans Pfitzner bestimmt kein Nationalsozialist gewesen sei, und schon gar nicht zur Entstehungszeit des Werks. Auch als 1996 auf Wunsch eines einzelnen Herrn, des designierten Chefdirigenten der Deutschen Oper Berlin, die Kulissen der Ernst-Poettgen-Inszenierung von 1962 aus dem Magazin geholt und entstaubt wurden, blieb der empörte Aufschrei aus dem Leo-Baeck-Haus aus.
Anders zwölf Jahre später. Schon in der unsäglichen Kampagne gegen den Dirigenten Rolf Reuter in der ersten Jahreshälfte 2008 (mittlerweile an Krebs verstorben) war Reuters lebenslanger Einsatz für den Komponisten gegen den Dirigenten ins Feld geführt worden. Aber erst Ingo Metzmachers vollmundige Ankündigung, unter dem Motto der Pfitzner-Kantate eine ganze Spielzeit lang dem Deutschen in der Musik nachhören zu wollen, was sich im nachhinein als geschickte dramaturgische Verklammerung nicht unüblichen Repertoires herausstellte, schien antifaschistischen Gesinnungspolizisten einen Ansatzpunkt zu bieten, ihre Kampagnenfähigkeit in Sachen political correctness auf dem Gebiet der musikalischen Hochkultur zu erproben. Metzmachers höfliche, aber bestimmte Zurückweisung wie die fachliche Inkompetenz ihrer Initiatoren ließ die Kampagne schnell in sich zusammenfallen, obwohl einschlägiges Feuilleton sich noch wochenlang mühte, sie am Köcheln zu halten.
Eine Oper, “Palestrina”, die bislang unbeanstandet durchgegangen war, nun auf einmal als nationalsozialistisch zu entlarven, hätte zum einen die wachsamen Initiatoren jahrelangen Tiefschlafs überführt. Und wenn schon Hanns Eisler in den fünfziger Jahren auf seine listige Frage im Komponistenverband, was denn, Genossen, eine “sozialistische Flötensonate” sei, von Fachmännern keine rechte Antwort erhalten konnte, wie wollten da erst staatlich alimentierte Sozial- oder Politikwissenschaftler etwa ein “nationalsozialistisches Sextett” technisch lokalisieren, wenn sie doch nie in ihrem Leben eine Partitur von innen gesehen haben? Bleibt also nur die bewährte Methode, von privaten Äußerungen des Delinquenten auf seine Gesinnung zu schließen, von der Gesinnung auf die Ästhetik, von der Ästhetik auf das Werk.
Daß Text/Partitur und Autor/Komponist in widerspruchsvollem, dialektischem Verhältnis zueinander stehen, von Heiner Müller zu dem Diktum zugespitzt, der Text widerlege den Autor, hat sich herumgesprochen. Die Genese von Hans Pfitzners Nationalkonservatismus, Antidemokratismus, Antisemitismus hat bereits vor 20 Jahren der Musikwissenschaftler Frank Schneider in seinen politischen Porträts großer Komponisten verfolgt und – soweit 1988 in der DDR möglich und in deutlichem Abstand zu den Argumentationslinien Fred K. Priebergs (1982) oder Michael H. Katers (1997) – gerecht gewertet. Sie nun in seinem tonsetzerischen, kunsttheoretischen und schriftstellerischen Schaffen aufzusuchen, zu widerlegen und zu belegen, heißt die Frage stellen, deretwegen uns dieses Schaffen permanent weiter heimsucht, nämlich die deutsche Frage. Wer sie verhindern will, muß schon Pfitzners Musik verhindern.
Wer sie umgehen will, muß sie in die glorreich überwundene Vergangenheit abschieben. Wenn Pfitzner gespielt wird, muß noch lange nicht Pfitzner gemeint sein. Ohnehin geht das Kalkül der Verantwortlichen und Profiteure des Tonträgermarkts eher dahin, Trouvaillen zutage zu fördern, die der Sammler auch dann zu kaufen bereit ist, wenn die Interpretation höchst mittelmäßig ist, und das Kalkül der Opernbühnen, überregionale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Bühnenaufführungen in Kaiserslautern 1999 und Chemnitz 2008 waren Nebenprodukte von CD-Produktionen. Noch jeder Regisseur, oder wer sich für einen hält, hat anläßlich seiner Inszenierung eines Pfitznerschen Bühnenwerks betont, daß man es so, wie es sei, heute keinesfalls mehr aufführen könne, freilich ohne je in Bild und auf Begriff gebracht zu haben, wie das Werk denn nun eigentlich sei. Nicht geringe Hoffnungen, daß es auch anders gehen könnte, richten sich auf die Neuinszenierung des “Palestrina” durch Harry Kupfer an der Frankfurter Oper.
Das warenproduzierende System scheint an seine lang und detailliert vorhergesagte innere Schranke gelangt zu sein, mit ihm seine gesellschaftliche Verfaßtheit. Man kann den Zerfall nationalstaatlicher Strukturen, ohne daß sich die deutsche Nation nach 1945 wieder konstituiert hätte, ihre Auflösung in einem kulturlosen, prekarisierten Völkergemisch, lustvoll durchleben und als Multikulturalismus deklarieren, aber man kann auch den geschichtslosen Moment in einen geschichtsträchtigen zu wenden suchen, nicht verloren geben, was nicht verlorengehen darf. In solchem Moment erhält ein Werk der deutschen Nationalkultur unverhoffte Aktualität, das in ähnlich empfundener Situation entstand.
Längst ersetzt ist die Frage, ob Hans Pfitzner gespielt werden dürfe, wenn sie denn je aktuell gewesen sein sollte, durch die Frage nach dem Wie. Würde darüber Einigkeit erzielt werden, wäre er außerhalb Münchens und Wiens allerdings der tote Hund, für den ihn seine Gegner, die Gegner seiner Musik, erklären wollen. Die Diskussion um Hans Pfitzner – “ein deutscher und nur den Deutschen geläufiger Komponist” (Frank Schneider) – ist nur vordergründig eine um die Gesinnung des Komponisten, in ihrer Tiefe jedoch eine um Latenzen seiner Musik und seiner Ästhetik und um die unabgegoltene Frage nach dem Deutschen in der Musik. Die Wahrheit der Noten haben alle Aufführungen der letzten Zeit musikalisch in einigen Momenten, die Inszenierungen jedoch keineswegs zur Erscheinung gebracht. Nicht wir retten die Musik, die Musik rettet uns: Hans Pfitzner ist mit uns noch nicht fertig!