Sloterdijks jüngstes Werk scheint mehr noch als alle seine voraufgehenden einen Nerv getroffen zu haben, was nicht nur Verkaufszahlen sondern allseits überbordende Rezeptionen beweisen. Ein Nerv ist stets zuverlässig dann getroffen, wenn es weh tut, und ein gewaltiges Weh muß es schon sein, was uns Kinder der Neuzeit zu in solchem Ausmaß schrecklichen deformiert hat, wie der Autor auf rund 500 Seiten eindringlich und sprachgewaltig darlegt. Was allerdings letzteres, nämlich die Sprachgewalt angeht, so spielen die Virtuosität und kapriziöse Selbstverliebtheit, mit der er das Thema abhandelt, dem Autor manchen Streich, indem häufig unnötig ins Bombastische, Überladene abgleitet, was sich auch und vielleicht sogar überzeugender, einfacher formulieren ließe, sodaß der Verdacht narzißtischer Eitelkeit nicht immer von der Hand zu weisen ist und dem letztlich doch in seinem wesentlichsten Anliegen zutiefst überzeugenden Text zuweilen schadet.
Hat man sich aber einmal eingelassen auf diesen rasanten, von Fremdwörtern und Neologismen strotzenden Metaphernwirbel, so vermag die artistische Eloquenz Sloterdijks, sein Aphorismen- und Anekdotenreichtum in seiner Brillanz durchaus mitzureißen. Ob der anläßlich eines gesellschaftlichen Ereignisses launig hingeworfene Ausspruch einer Madame Pompadour tatsächlich mit so viel Bedeutung aufgeladen werden kann, wie es hier geschieht, daß er sogar zu einer Art geheimem Motto dieses Buches hinaufstilisiert, ob in diese kapriziöse Salondame nicht überhaupt etwas zuviel hineingeheimnist wird (schließlich war ihre Stellung als „maitresse en titre“ im ancien regime nicht außergewöhnlich, allenfalls vielleicht die außergewöhnliche Machtfülle, die sie sich in dieser Eigenschaft erwarb) sei dahingestellt.
Entscheidend ist, der Autor verleiht ihr eben diese schicksalhafte Position und weiß dies im Rahmen seines – vor allem durch jenen vielseitig einsetzbaren Ausspruch „Nach uns die Sintflut“ – Gesamtkonzepts einleuchtend zu argumentieren, und entscheidend eben auch, daß sie die letzte ihrer Art war, auf dem Grat einer Zeitenwende balancierend, von dem sie ahnungsvoll in eine katastrophale Zukunft Ausblick zu halten schien. Diese Eigenschaft hat sie mit allen im Text erwähnten historischen Personen gemein, die eben nicht mehr als Repräsentanten einer Tradition fungierten, sondern Verkörperungen eines Bruchs mit allem Hergebrachten, Überlieferten waren (hier Filiation genannt), auch wenn sie , wie Jesus, ursprünglich als Vollender dieser Tradition antraten, oder, wie das Kind der Revolution, Napoleon, eine neue Tradition zu begründen suchten und damit scheiterten.
Durch eindringliche Kurzporträts geschichtlich bedeutender Personen gewinnt der Text an Anschaulichkeit, gemeinsam ist diesen allen auch, was das zweite Motto des Textes zu sein scheint, nämlich die Versinnbildlichung geschichtlicher und gesellschaftlicher Brüche durch die etwas eigenwillige Erfindung des Begriffes „Bastardisierung“, nämlich der ungewissen, illegitimen Herkunft und der Verachtung allen Herkommens und aller gewachsenen Bindung.
Die Ursünde und gleichzeitig Geburtsstunde der traditionsverachtenden Moderne aber sieht der Autor im Jahr der Französischen Revolution 1789 als gegeben an, wohl weniger, weil hier erstmals einem Monarchen der Kopf vor die Füße gelegt wurde (da waren die Engländer mit der Enthauptung Karls I rund ein Jahrhundert früher bereits „fortschrittlicher“ unterwegs), sondern wohl vor allem wegen der umfassenden gesellschaftlichen und weltanschaulichen Konsequenzen, die diese zur Folge hatte.
Welche Weltanschauung der Autor vertritt, ist weder in diesen Passagen, in denen auch ausführlich auf den ultrakonservativen De Maistre Bezug genommen wird, noch in andern Textstellen auszumachen. Er vertritt als Diagnostiker nur eine Position, und die ist jene seiner Thesen und der möglichst unanfechtbaren Untermauerung derselben. Und diese Thesen sind jedenfalls spannend genug, daß man manches Gewaltsame und Überredende seiner Argumentation und einer in Teilen gewissen Willkürlichkeit des herangezogenen politischen oder sonstwie bedeutenden historischen Personals, mit dem er reichlich beglaubigend zu Felde zieht, gerne hintan stellt.
Die Französische Revolution erhält ihre singuläre Stellung als Geburtsstunde der Moderne – einer Art explodierender Supernova, deren Strahlung bis weit in unsere Zeit hineinreicht – wohl auch deswegen, weil hier erstmals bewußt und radikal auf den herkömmlichen christlichen Gottesbezug verzichtet und statt dessen als oberste Instanz eine Form vergöttlichter Freiheit etabliert wurde, deren rationalistischer rigider Charakter in der Konsequenz seiner angestrebten Verwirklichung in puren Terror mündete, in einem Welt – und Menschenbild, das in der Definition des neuen Menschen nicht weniger intolerant und engherzig war als jedes beliebige totalitäre theologische System. Es scheint, daß nicht nur der „Schlaf der Vernunft Ungeheuer gebiert“, sondern ebenso die absolut gesetzte Ratio in ihrer bornierten Selbstüberhebung Monstren erzeugt.
Es scheint, daß die Religiosität (auch sie eine Form der Bindung, eine Form des Hergebrachten), die man zur Vordertür hinausschickt, zur Hintertür mit ungleich schrecklicheren Eigenschaften und Ergebnissen wieder hereinkommt. Die pseudoreligiösen totalitären Weltanschauungen und diktatorischen politischen Systeme der Neuzeit künden davon. Besonders ausführlich nimmt sich der Autor der Genese und des Verlaufs des Marxismus sowjetischer Prägung an, illustriert mit ebenso brillanten wie kompakten Portraits einiger seiner Hauptprotagonisten, die es in ihrer Heilsgewißheit und ihrem unduldsamen Sendungsbewußtsein mit jedem Religionsgründer aufnehmen konnten, ohne den Menschen wenigstens noch die Hoffnung auf ein tröstendes Entkommen aus ihrer zeitlichen Hölle, ein ausgleichendes Jenseits zu lassen (siehe auch Hölderlin „Hyperion“: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß der Mensch ihn zu seinem Himmel machen wollte“).
Eine unheilvoll konsequente Entwicklung also, deren früheste Ausformungen der Autor bereits im ausgehenden Mittelalter beziehungsweise in der Renaissance verortet, eine genuin europäische Angelegenheit zwar, deren Strahlkraft in der Folge allerdings globale Wirkungen zeitigte und dies immer noch tut. Die absolut gesetzte Freiheit bedingt auch eine Absolutsetzung des Ich, dessen mißverstandene Freiheit aber in einen Circulus Vitiosus mündet und in eine Perversion dessen, was einmal tatsächlich Originalität genannt werden konnte. Weil dieses Ich jedoch unter anderem aufgrund seiner Geschichtslosigkeit substanzlos ist, hechelt es verzweifelt einer vorgeblichen Originalität nach, die es sich ständig um ihrer selbst willen vergeblich zu beweisen versucht, lächerlich stolz auf seine fortgesetzten Regelverletzungen ohne noch zu verletzende Regeln vorzufinden. Aber auch unfähig, selbst Regeln aufzustellen, Traditionen zu begründen, einen verbindlichen Kanon zu etablieren, angesichts dessen es dann endlich wieder Sinn machen würde, sich daran lustvoll abzuarbeiten und echte oppositionelle Kräfte und Inhalte zu bilden.
Natürlich ist Sloterdijks Blickwinkel von grandioser Einseitigkeit bestimmt.
Reaktionär ist er deswegen, wie mache Rezensenten konstatieren, allerdings nicht. Er ist lediglich Diagnostiker und weist als solcher mit gleichsam distanzierter Leidenschaft und mit unüberbietbarer Präzision auf einen Krankheitszustand hin. Was das zeitgenössische Ich mit seiner Anbetung der Individualität betrifft, so entlarvt er diese Haltung als letztlichen Mangel an wahrer Identität, als bloßen Konsumindividualismus, dessen quasi spirituelle Konsumabhängigkeit, dessen Drang nach egoistischer materieller Selbstverwirklichung nichts als Ersatzbefriedigung ist für echte Strukturen kulturellen Selbstbewußtseins und menschlicher wie transzendenter Bindungen.
(Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin: Suhrkamp 2014. 489 S., 26.95 € – hier bestellen.)
W. Wagner
Glänzende Rezension, daraufhin werde ich mir das Buch nun doch anschaffen. Danke, auch für die Idee mehrere Besprechungen zu veröffentlichen!