Zwei Kennzeichen, die in Europa immer wieder als charakteristisch für die Ostkirche empfunden wurden, sind die Ikonenverehrung und der „Nationalismus” in den autokephalen, also selbstverwalteten Teilkirchen mit eigenem Oberhaupt. Dabei markieren beide Erscheinungen nicht etwa theologische Unterschiede zu den westlichen Kirchen, sondern werden in der orthodoxen Theologie für gewöhnlich der Oikonomia, also dem göttlichen Heilsplan, zugerechnet. Lassen sich an Eikon und Ethnos auch keine dogmatischen Eigenheiten festmachen, so können beide Begriffe doch zur hermeneutischen Annäherung an die politische Stellung der Orthodoxie im heutigen Griechenland dienen.
Die Kunstform der Ikone ist im dritten und vierten Jahrhundert nach Christus entstanden und bindet verschiedene Darstellungstraditionen an die vorhergehende Geschichte des Begriffs Eikon, in der sich die platonische Sichtbarkeit des Denkbaren mit der jüdischen, dann mit der christlichen Gottebenbildlichkeit vereinigt. Nachdem das Trullanum, das 691 / 92 von Kaiser Justinian II. in Konstantinopel zur kanonischen Rechtsetzung einberufene Konzil, durch seinen Kanon 82 die symbolische Darstellung Christi als Lamm durch die wirklichkeitsnahe Darstellung seiner Erniedrigung am Kreuz ersetzt hatte, wurde die Ikone im Bilderstreit zum Politikum. In der ersten Phase des Bilderstreits im achten Jahrhundert reagiert Johannes von Damaskus auf bilderfeindliche Handlungen des Kaisers Leon III. mit drei Reden. Darin hält er dem Nomos – gemeint ist das mosaische wie das dadurch gestützte kaiserliche Gesetz – die Ikone entgegen. Nach dem Zitat von Hebräer 8, 5 fragt Johannes die Bilderfeinde: „Wenn nun das Gesetz Bilder verbietet, selbst aber nur der Umriß eines Bildes ist, was sollen wir da sagen?”
In der zweiten Phase des Bilderstreits, im neunten Jahrhundert, pocht Theodor Studites, der Abt des Studion-Klosters, gegen das bilderfeindliche Argument, Jesus Christus sei nicht darstellbar, weil er nicht die Gestalt eines einzelnen, sondern des „Menschen im allgemeinen” angenommen habe, auf den konkreten Vollzug der Menschwerdung in der Person mit Namen Jesus. Gegenüber Häresien, für die sich die Menschwerdung nicht in vollem Maße (Monophysitismus) oder nicht in Wirklichkeit (Doketismus) vollzog, bezeugt die Ikone deren konkrete Fülle. Anhand dieses greifbaren Zusammenhangs von Menschenbild und Menschwerdung läßt sich verstehen, was der Erzbischof von Athen und ganz Griechenland Christodoulos meinte, als er im Mai 2000 in seiner Rede über „Kirche und Menschenrechte” anprangerte, der „gottlose Humanismus” habe zu einem „Mit-Füßen-Treten der menschlichen Ikone” und zum „Sturz des menschlichen Bildes in die Abgründe der Verleugnung jeder menschlichen Würde” geführt, weil er den Menschen von Gott und mithin von der Menschwerdung abgelöst habe. Und wie das Kreuz in Bayern ist die Ikone auch heute wieder Gegenstand politischer Streitigkeiten mit dogmatischem Hintergrund: Im Namen der liberalen Religionsfreiheit soll sie aus griechischen Schulen und Gerichtssälen verschwinden.
Während die Ikonenverehrung, die ja in geringerem Ausmaß auch in der katholischen Kirche anzutreffen ist, in Europa noch mit Wohlwollen als Volksfrömmigkeit wahrgenommen wird, gilt dem zweitgenannten Charakteristikum der orthodoxen Kirche(n) nur Verachtung: Ausgerechnet der preußische Hoftheologe Adolf von Harnack hat den Nationalismus einmal als „Holzwurm” der orthodoxen Kirche bezeichnet. Hier ist zunächst begriffliche Vorsicht geboten: Ethnos ist nicht im Sinne der deutsch-romantischen Sprachnation und auch nicht als eine Art französischer Staatsnation zu verstehen. In Aristoteles’ Politika bezeichnet der Begriff – im Gegensatz zur Polis – einen Verband gleichartiger Menschen. Nach der Verwendung von Ethnos als negativem Gegenbegriff zu Laos im Alten (heiliges Volk der Juden) und im Neuen Testament (heiliges Volk der Christen), dauerte der Gebrauch des Wortes zur Fremdzuschreibung an. Erst im Osmanischen Reich, wo das Patriarchat von Konstantinopel weltliche Pflichten übernahm, um den herrscherlosen orthodoxen Ethnos sicher durch diese heilsplanmäßige Auferlegung zu führen, erlebte Ethnos eine positive Umdeutung: Der Patriarch übernahm auch den zweiten, kaiserlichen Kopf des Doppeladlers und wurde zum „Ethnarchen”.
Der griechische Anteil am orthodoxen Ethnos, der sich zur Revolution hin zunehmend als eigener (Hypo-)Ethnos absetzte, ging 1822 in die erste griechische Verfassung von Epidavros ein: Das Verfassungsvolk besteht demnach aus „allen einheimischen Bewohnern des Territoriums Griechenland, die an Christus glauben.” Gemäß der Verfassungslehre von Carl Schmitt kann man also sagen, daß die Substanz der demokratischen Gleichheit in Griechenland von Beginn an eine religiöse ist – wenn in Anbindung an die Religion sicher auch Herkunft und Sprache von Bedeutung sind. In der heutigen griechischen Verfassung schlägt sich diese Substanz immer noch in einigen Artikeln nieder, vor allem in Artikel 3 Absatz 1, der die Religion der östlich-orthodoxen Kirche als „vorherrschend” bezeichnet. „Vorherrschend” meint nicht, wie von Verfassungsrechtlern oft behauptet, ein statistisches Faktum, sondern die kulturelle Substanz des griechischen Staates.
Jede Verfassungsrevision in Griechenland – auch die diesjährige – wird von Forderungen danach begleitet, Artikel 3 abzuschaffen oder mit einem neutralisierenden Zusatz zu versehen. Der antibyzantinische Affekt des griechischen Verfassungsrechts wurde maßgeblich von einem Büchlein beeinflußt, in dem der ehemalige Rektor der Universität von Athen, Michalis Stathopoulos, die vollständige Reinigung der Verfassung von orthodoxer Substanz verlangte. Als sozialdemokratischer Justizminister leitete er 2000 auf den länger zurückliegenden Tadel im Beschluß B3-0061/93 des europäischen Parlaments hin die Streichung des Bekenntnisses aus den Personalausweisen in die Wege. Die überwältigende Unterschriftensammlung der Kirche gegen diese Löschung des griechischen Kirchenvolkes aus dem Staatsvolk blieb letztlich nur ein symbolischer Akt.
Ein scheinbar milderer Vorschlag zur religiösen Neutralisierung der griechischen Verfassung wurde vom ehemaligen sozialdemokratischen Kultus- und Justizminister Evangelos Venizelos unterbreitet: Der Verfassungsrechtler fordert in Anlehnung an die französische Charte constitutionelle von 1814 einen interpretatorischen Zusatz, wonach unter vorherrschender Religion „die Religion der Mehrheit” zu verstehen sei. Vermutlich geht Venizelos von der Annahme aus, daß die orthodoxen Griechen weiterhin die unangefochtene Mehrheit des Verfassungsvolkes bilden werden. Bedenkt man jedoch die niedrigen Geburtenraten innerhalb dieser Mehrheit und den steigenden Unwillen zur kirchlichen Hochzeit, der sich – fällt der Druck der älteren Generation weg – zu einem Unwillen zur Taufe auswachsen kann, und nimmt die um einiges höhere Geburtenrate innerhalb der türkischen Minderheit mit griechischer Staatsbürgerschaft in Thrakien und der zahlreichen einbürgerungswilligen Albaner hinzu, so scheint hier Demokratie wieder einmal ohne Demographie gedacht.
Allerdings verfügt die Kirche noch über genügende Machtmittel, um substantiellen Rodungen entgegenzuwirken. Da die Forderungen nach einer Trennung von Verfassung und Christentum auf europäischer Ebene ihren Ausgang nehmen, wird die griechische Kirche weiter politischen Anschluß an Rußland suchen, wo die Kirche nach Jahrzehnten der Unterdrückung wieder ins Recht gesetzt ist. Wie es auf Dauer um das Amt des Ökumenischen Patriarchen bestellt sein wird, der als Beamter des türkischen Staates aus dem schwindenden Teil des griechischen Ethnos mit türkischer Staatsangehörigkeit rekrutiert werden muß, ist unklar. Wichtiger aber erscheint die Frage, wie sich die Einheit der Orthodoxie, derzeit noch in der dogmatischen Bindung aller Teilkirchen an Konstantinopel bestehend, wahren läßt.