Der Alltag in westlichen Gesellschaften ist angefüllt mit Paradoxien. So scheint z.B. die Vereinsamung der Menschen stetig anzuwachsen obwohl sie in urbane und damit dicht von Menschen besiedelte Zentren wohnen und obwohl sie zunehmend in einer Vielzahl an reellen und virtuellen Netzwerken integriert sind, Politiker fordern Nachhaltigkeit und fällen Entscheidungen die genau dieser Forderung zuwiderlaufen und Menschen wandern einer Gesellschaft zu um gerade in ihr Ressentiments gegen diese aufzubauen obwohl sie von ihr in höchstem Maße abhängig sind und erst diese ihnen eine sorgenarme Existenz ermöglicht.
Homosexuelle verbünden sich bei bestimmten politischen Themen mit Menschengruppen, die diesen in der Werteorientierung auf vielen Ebenen diametral entgegenstehen und während viele Menschen mit einem gewissen Exhibitionismus ihre zum Teil absurden Tätowierungen, Piercings und damit ihre Körper obszön zur Schau stellen, laufen nur wenige Schritte von ihnen entfernt Menschen, die zum Teil bis auf wenige Quadratzentimer ihre gesamte Haut mit religiös bedingten Tüchern verhüllt haben.
Der Ursprung des gegenwärtigen Gesellschaftsmodells und eben dieser aus ihm stammenden Paradoxien scheint jedoch bisher unerklärt geblieben zu sein, trotz jahrzehntelanger Forschung, Studien und Erklärungsmodellen. Unaufhaltsam schreitet die Entwicklung der sogenannten Moderne voran mit immer neuen, zum Teil absurd wirkenden Auswüchsen, doch spätestens seit der Finanzkrise von 2007/2008 aus der beinahe eine Systemkrise geworden wäre, ist auch in den Chefetagen der Wirtschaft und Politik ein flaues Magengefühl entstanden – man will die Moderne erklärt wissen. Hieran wagt sich der Philosoph Peter Sloterdijk und die Hoffnungen sind hoch gesteckt wenn er versucht Teilaspekte des Phänomens Moderne in seiner Monographie „Die schrecklichen Kinder der Neuzeit” zu erklären.
Wenngleich ihm dieses Unterfangen letztendlich nicht ganz gelingt, so schmälert das nur in geringem Maße sein jüngstes Werk: Das Buch ist lesenswert, absolut lesenswert. In dem für ihn typischen assoziativen, gelegentlich grenzwertig tangentiellen, und manchmal ans Plaudern angelehnte Erzählton bietet er seinem Leser nicht nur eine einzelne, sondern eine Sturzflut an Wirkungsursachen an. Die von ihm angegebenen Erklärungsmuster und Beispiele prasseln nur so nieder auf den Leser und selbst viele der Fußnoten enthalten Denkanstösse, die bei anderen Autorden mitten im Text, aber bei einem derart breit gebildeten Autor wie Peter Sloterdijk gerade wegen seines extrem hohen Textinhaltes eben in den Fußnotenbereich ausgelagert wurde.
Das Hintergrundwissen des Autors ist, wie man es von ihm kennt, abgrundtief – wenngleich er vor allem auf französisch‑, deutsch- und englischsprachige Werke zurückgreift und damit wesentliche Impulse des russischen und asiatischen Raumes nur gering oder gar nicht beleuchtet – und das Buch fordert selbst den gebildetesten Leser angsichts des überreichen Wissen- und Wortschatzfundus heraus. Jede Seite ist eine Belohnung, jedes Kapitel ein intellektuelles Erlebnis.
Zunächst ist es wenig überraschend wenn sich Sloterdijk bei seinen Gedankenkonstrukten oft auf Friedrich Nietzsche und zu einem etwas geringeren Teil auf Martin Heidegger stützt und der Französischen Revolution von 1789 eine maßgebliche Rolle in der Entstehung der Moderne zuerkennt. Doch spätestens hiernach enhält Sloterdijks Buch Seite um Seite Überraschungen: Für ihn ist beispielsweise der Gang der Geschichte nach der Französischen Revolution weniger eine gelenkte Entwicklung als ein stetes „Vorwärtsstürzen” bei der Improvisationsgenies wie Napoleon oder Lenin ihre prominenten Rollen nicht eben wegen eines überlegenen Konzeptes oder Intellektes spielen, sondern weil sie genialisch die chaotisch ablaufenden Entwicklungen durch kurzzeitige Anpassungen ihrer Pläne zu ihren Gunsten nutzen. Ein Vorwärtswurschteln, mit immer weniger Rückschau auf Vergangenes, kennzeichnet laut Sloterdijk die Moderne und ihre Entstehung.
Auch die zunehmende Abkopplung des modernen Menschen von seinen Vorfahren und Traditionen, deutlich wahrnehmbar in den intergenerational immer häufiger stattfindenden Werteverschiebungen und dem Schrumpfen der Familien- und Kinderzahlen, beleuchtet Sloterdijk eindrücklich als Mitursache der Moderne und zieht einen großen Bogen, der von Sokrates über Jesus bis hin zu Philosophen wie Max Stirner, Gilles Deleuye und Félix Guattari im 20. Jahrhundert reicht. En passent werden eine kaum zu zählende Schar an Phänomene wie der Egoismus der self-made men Nordamerikas, die Konsumsucht der Moderne, die Nachhaltigkeitslüge der Gegenwart, das Destruktive des von Sloterdijk als „Techno-Kreditismus” genannten Kapitalismus und vieles mehr dargestellt, oft kühl sachlich, aber nicht immer ohne eine Prise Ironie oder gar Bissigkeit.
Im rasanten Gedankentempo werden historische Momente beleuchtet anhand welcher die allmählich Ausreifung der Moderne erkennbar wird: Z.B. das Entstehen der Kunstbewegung des Dadaismus am 5. Februar 1916, die die „Unmöglichkeit, glaubhafte Nachkommen und Nachfolger zu haben” erstmalig artikuliert oder einen Novembertag im Jahr 1757 an dem die Marquise de Pompadour beim Vernehmen einer französischen militärischen Niederlage statt auf Trauer vielmehr auf Weiterfeiern bestand, eine Jetztfixiertheit an den Tag legend mit ihrem bekannt gewordenen Ausspruch „Nach mir die Sintflut”.
Ob nun die Ermordung der russischen Zarenfamilie im Jahr 1918 oder die Dollarvormachtwerdung in Bretton Woods im Jahr 1944, Peter Sloterdijk bietet seinen Lesern eine Vielzahl an historischen Beispielen und Schritt um Schritt schreitet die Moderne voran. In einem längeren Kapitel wird auch das Konzept des „Bastarden” und der allmählichen Zurückdrängung des Legitimen durch das Illegitime dargestellt, und es wird dem Leser allmählich verständlich, daß erst durch all diese Ereignisse die Jetztfixiertheit, der Egozentrismus, das Antigenealogische, der Hang zum Verdrängen des einstmals Legitimen sich ausbilden konnte, alles Charakteristika der Moderne.
Am Ende des reichhaltigen Buches werden zwei wenig schmeichelhafte Gedankenbilder vermittelt: Das eine ist das einer Pilzpflanze, eines Rhizoms, das statt baumhaft aufrecht und stetig verzweigend zu wachsen, ähnlich dem familiären Stammbaum der alteuropäischen Vergangenheit, unterirdisch wächst, um scheinbar willkürlich und unabhängig von den anderen Trieben plötzlich in die Höhe zu wachsen. Es soll ein Symbol des modernen Menschen sein, der scheinbar losgelöst von seinem Ursprung, seiner Vergangenheit, autonom sich emporwachsen sieht. Das zweite Bild zeigt ihn im großen Zusammenfluß, im Flußdelta: Viele einzelne Flüsse vereinen sich zu einem riesigen, heterogenen Delta, dem Ozean entgegenströmend, Unterschiede und Hekünfte zurücklassend, den Generationenprozeß verlierend. Das Bild wird düster beschrieben und von einer Stagnation im Delta geschrieben, dem Gerinnen des Ozeans zu einer undurchdringlichen Mauer.
Peter Sloterdijk beendet mit diesen Bildern sein umfangreiches Buch und gibt dem modernekritischen Leser zwar viele Eindrücke, aber eben keine Lösungen an die Hand. Doch die Eindrücke und Beschreibungen sind derart eindringlich, derart intellektuell, daß dem Leser immerhin der Trost des Verstehens bleibt. Mancher Leser wird auch den Schluß ziehen, eben nicht die eigene Generationenfolge abzukappen, eben nicht ausschließlich ich-fixiert zu leben sondern gerade im Weiterbestehen der Kultur durch eigene Kinder eine Lösung finden zu können. Trotz des Fehlens einer konkreten Lösung kann dieses Buch jedem an der Moderne interessierten empfohlen werden und Peter Sloterdijk bietet ein Verständnis der Jetztzeit wie nur wenige Autoren vor und wohl auch nach ihm.
(Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin: Suhrkamp 2014. 489 S., 26.95 € – hier bestellen.)
eulenfurz
Eine wunderbare Idee, Gastleser Rezensionen schreiben zu lassen und damit etwas buntes Treiben in diesen Blog zu bringen.