Daß die Lebensreform gerade in Deutschland einflußreich wurde, obwohl es auch in den USA, Großbritannien oder Frankreich ähnliche Tendenzen gab, hing mit der besonderen deutschen Geistestradition zusammen. Zeitgenossen haben die Lebensreform als Teil eines „Neuidealismus” oder einer „Neuromantik” betrachtet. Romantisch war das „Lichtgebet” in jedem Fall, nicht nur, was die Form betraf, sondern auch, was seine zentrale Aussage anging.
Der 1868 unter dem bürgerlichen Namen Hugo Höppener geborene Fidus gehörte zu einer Generation, die vom radikalen Wandel des späten 19. Jahrhunderts geprägt war, als sich Deutschland in rasantem Tempo entwickelte und eine pluralistische Gesellschaft entstand. Er war kein akademischer Künstler, sondern Autodidakt, bewegte sich früh in einem Milieu, das nicht einfach Künstler-Bohème war, sondern Subkultur im genauen Sinn. Eine Subkultur, die zwar Einfluß auf den mainstream ausübte, aber mit vielen Vorstellungen und Entwürfen randständig blieb und das auch so wollte. Denn die Lebensreformer waren darauf aus, ihre Ziele weder durch Revolution noch durch staatlichen Eingriff zu erreichen, sondern durch Wandlung des Einzelnen. Man hielt deshalb nichts von Parteigründungen, sondern bildete Zellen, die durch ihr Vorbild auf das größere Ganze wirken sollten. Diese Zellen waren entweder basisdemokratisch organisiert oder gruppierten sich als „Kreis” um einen „Meister”. Die Nähe zu religiösen Gemeinschaftsstrukturen war kein Zufall, sondern beabsichtigt. Große Teile der Lebensreform strebten auch eine neue Frömmigkeit an, die, wenn nicht kirchenfeindlich, so doch kirchenfern war, vor allem pantheistisch und nietzscheanisch gestimmt.
Fidus hatte enge Beziehungen zu den einflußreichsten Gruppen der Lebensreform – Vegetariern, Nudisten und Freireligiösen – und kann als ihr künstlerischer Programmatiker gelten. Neben seinen Gemälden und Zeichnungen schuf er vor allem Auftragsarbeiten, die dazu dienten, die Ideen der Lebensreform optisch zu fassen und sich in zahllosen Reproduktionen auf Plakaten, Drucken, Postkarten, Vignetten oder als Buchillustrationen wiederfanden. Seine Weltanschauung war mit den Hauptanliegen der Lebensreform deckungsgleich, im Religiösen zuerst theosophischokkult, dann völkisch-heidnisch geprägt. Ihm ging es wie der Bewegung um das große Erziehungsprojekt, das der Natürlichkeit zum Durchbruch helfen sollte. Seine Bilder dienten vor allem deren Vorwegnahme und Ästhetisierung, was nicht verhindern konnte, daß die „Fidus-Menschen” auf Zeitgenossen irritierend wirkten. In seinen Lebenserinnerungen erwähnte Fidus eine Diskussion mit Richard Dehmel und Gustav Landauer, die sie immer „zu mager fanden”, und er verteidigte sich noch 1946 mit dem Hinweis: „Die Wahrheit war, daß ich zum ersten Male jugendliche und nordische Nacktheit darstellte, die bisherige Kunst aber südliche Üppigkeit, dralle Putten oder herkulische Männer”. Die Gestalten seiner Bilder waren tatsächlich stark typisiert, immer überschlank und hellhaarig; die Geschlechtlichkeit trat ganz zurück, bis an die Grenze der Androgynität, sie wirkten oft gedehnt, was nicht nur künstlerischen Konzepten des Jugendstils, sondern mehr noch den Idealen der „Freikörperkultur” und den Übungsvorlagen der zeitgenössischen Gymnastik entsprach, falls die nicht nur der physischen Ertüchtigung diente, sondern auch die „Schönheit unseres herrlichen Menschenleibes und des adligen Hochsinnes” (Karl Vogt) wecken wollte.
Das „Lichtgebet” hat dem zentralen Anliegen von Fidus so überzeugend Ausdruck gegeben, daß das Bild in zahllosen Wiedergaben nicht nur in der Lebensreformbewegung, sondern weit darüber hinaus, auch auf der sozialistischen Linken, Verbreitung fand. Zwischen 1890 und 1938 erarbeitete Fidus elf Fassungen, die gewisse Abweichungen zeigten, aber im Kern doch unverändert blieben: Ein blonder Jüngling steht auf der Felsenklippe, reckt die Arme zum Himmel und zur aufgehenden Sonne. Es gibt Schätzungen, wonach das „Lichtgebet” als Postkarte oder Druck schließlich in jedem zehnten deutschen Wohnzimmer hing. Sicher hat die programmatische Aussage nicht jeder verstanden, aber doch die emphatische Stimmung wahrgenommen, die Fidus zum Ausdruck bringen wollte; Friedrich Lienhard, ein damals viel gelesener, heute vergessener Autor, schrieb in einer Art Meditation über das „Lichtgebet”: „Es könnte ein Griechenknabe sein, den unser deutscher Fidus auf den Felskegel stellt und mit ausgebreiteten Armen beten läßt. Dieser feingliedrige, schlanke Jüngling hat die Hüllen abgeworfen, bietet sich in jauchzender Nacktheit dem Lichte dar und möchte den himmlischen, kosmischen Magnetismus herableiten in erhobene Hände. In diesem Gebet, das ein erlöstes Jauchzen ist, liegt aber auch schon Segen, nicht nur Bitte: Diese Seele segnet die schöne, von blauer Luft und weißen Wölkchen anmutig umspielte Welt, nicht lebensängstlich, sondern lebensgläubig.” Das waren die Schlüsselbegriffe für das Verständnis der Darstellung: Lebensglaube – Schönheit – Jugend.
„Jugend” gehörte zu den Chiffren der Weltanschauungsdebatte an der Jahrhundertwende. Das hatte nicht nur mit den hochgestimmten Fortschrittserwartungen der Zeit zu tun, sondern: paradoxerweise, auch mit der Furcht vor Dekadenz, Vergreisung, Ohnmacht, Volkstod. Beide Aspekte waren für Fidus von großer Bedeutung und erklären etwas von seinem eigenen, manchmal das Lächerliche streifenden, Bemühen um Jugendlichkeit. Immerhin hatte das zur Folge, daß er wie selbstverständlich der „Jugendbewegung” zugeschlagen wurde, obwohl er bei deren Entstehung dem Jugendalter längst entwachsen war.
Den Ausgangspunkt der Jugendbewegung bildete der „Wandervogel”, ein 1896 gegründeter Zusammenschluß Steglitzer Gymnasiasten. Fünf Jahre später gelang es ihrem Anführer, Karl Fischer, einen Trägerverein unter Vorsitz des Dichters Heinrich Sohnrey zustande zu bringen, der die Bezeichnung „Wandervogel – Ausschuß für Schülerfahrten” trug. Die Bewegung breitete sich rasch in ganz Mittel- und Norddeutschland aus, blieb allerdings auf die Oberschulen und das hieß das Bürgertum beschränkt. Mit dem Erfolg der Jugendbewegung kam deren organisatorischer Zerfall. Bereits 1904 spaltete sich der „Wandervogel e. V.” von einem „Alt-Wandervogel” ab. 1907 entstand der für die weitere Entwicklung bedeutsame „Wandervogel. Deutscher Bund für Jugendwandern” in Jena, der die (in der Jugendbewegung immer umstrittene) Aufnahme von Mädchen gestattete. Es bildeten sich daneben auch rein weibliche Bünde. Schon 1910 soll es 78 Wandervogel-Ortsgruppen mit insgesamt 1.500 Mitgliedern gegeben haben, bei Beginn des Ersten Weltkriegs zählte man 14.000 Wandervögel im Reich, außerdem noch Gruppen in der Habsburgermonarchie, in der Schweiz, in Flandern und im Baltikum.
Obwohl der Wandervogel seine weltanschauliche Neutralität erklärte und allein das Erlebnis von Natur, Heimat und jugendlicher Gemeinschaft zu seinen Anliegen machen wollte, war die Zahl der Beeinflussungsversuche groß. Nachhaltige Wirkung hatten sie aber nicht. Die Jugend der Wandervögel war ein Grund dafür, der andere ihr Interesse an der Praxis, also dem Herumstreifen ohne elterliche Aufsicht, Freundschaft, Abkochen, Lagerfeuer, Übernachten unter freiem Himmel. Das erklärt auch die eigenartige Folgenlosigkeit des „Ersten Freideutschen Jugendtags”, der mit zwei- bis dreitausend Teilnehmern vom 11. bis 13. Oktober 1913 auf dem Hohen Meißner abgehalten wurde. Der bald so genannte „Meißner-Tag”, brachte keine Einigung der zersplitterten Bewegung, sondern nur eine kurze gemeinsame Resolution („Meißner-Formel”), in der das Recht der Jugend auf selbstbestimmte Lebensgestaltung festgehalten wurde.
Fidus hatte für die Festschrift zum Meißner-Tag ein Bild beigesteuert – „Hohe Wacht” – und die 6. Fassung des „Lichtgebets” erarbeitet, die während der Veranstaltung auf Postkarten angeboten wurde und reißenden Absatz fand. Ein Überlebender der ersten Jugendbewegung, Alfred Ehrentreich, sprach davon, daß seither die Fidus-Werkstatt zum „Wallfahrtsort” der Wandervögel wurde. Der Künstler hatte ganz offensichtlich einen Ton getroffen, der – ohne daß man seine Vorstellungswelt im einzelnen kennen oder teilen mußte – von den Jungen begeistert aufgenommen wurde. Wenn sich das „Lichtgebet” in den folgenden Jahren so außerordentlich verbreitete, nicht zuletzt wegen der modernen Drucktechniken, so hatte das mit dieser Gemeinsamkeit des Empfindens zu tun, dem, wie ein Verehrer sagte, gleichen „Rhythmus der Seelenbewegung” (Arno Rentsch).
Die Formulierung stammt aus einem Aufsatz der Zeitschrift Junge Menschen, die 1919 durch „Freideutsche” gegründet worden war. Es handelte sich bei den Freideutschen ursprünglich um eine Gruppe älterer Wandervögel, die unter dem Eindruck des Krieges zunehmend politisiert wurde und beim Zusammenbruch entschieden nach links rückte. Darin folgten ihnen weder die „Jungdeutschen”, der rechte Flügel der Gesamtbewegung, noch die Basis. In deren Reihen hatte sich zwischenzeitlich ein Generationenwechsel vollzogen, der mit einem Mentalitätswandel verbunden war. Jedenfalls wuchs die Skepsis gegenüber den jugendbewegten Ausdrucksformen der Vorkriegszeit. Wenn Gruppen das Wandervogelleben unverändert fortsetzten, wirkte das jedenfalls nicht mehr stilbildend. Die Vorbildfunktion übten jetzt kleinere, bewußt elitäre Bünde aus, sogar die Prägung des Begriffs „bündisch” hatte mit der Veränderung zu tun.
Die ersten „Bündischen” kamen bezeichnenderweise nicht aus den Reihen des Wandervogels, sondern aus denen der Pfadfinder. Zu Beginn der zwanziger Jahre spalteten sich von den großen Pfadfinderbünden – die jugendpflegerisch, nicht jugendbewegt waren – Gruppen ab und bildeten Zusammenschlüsse wie die „Neu-” oder „Ringpfadfinder”. Die hielten an bestimmten pfadfinderischen Traditionen fest, von der einheitlichen Kluft bis zur Geschlossenheit des Auftretens, kombinierten sie aber mit Prinzipien, die aus der Jugendbewegung übernommen worden waren, wie Führerwahl und Autonomie der Ortsgruppen.
Das Zentralorgan der Bündischen war zuerst die Zeitschrift Der Weiße Ritter; ein emblematischer Name, denn bei diesem „weißen Ritter” handelte es sich um Sankt Georg. Seine Verehrung hatte in der Pfadfinderbewegung Tradition, was sich vor allem aus deren englischem Ursprung erklärt. Lord Baden-Powell, der Vater des scoutism, hatte den englischen Nationalheiligen ausdrücklich zum Vorbild aller Jungen erklärt und die Tötung des Drachen zur symbolischen Tat, mit der der ritterliche Mann das Böse besiegte. „Ritterlichkeit” war sicher die wichtigste Leitidee in der Anfangsphase der Bündischen. 1921, mitten in Nachkrieg, politischer, wirtschaftlicher und sozialer Krise, gab der Wortführer der Neupfadfinder, Martin Voelkel, die Parole aus: „Hie Ritter und Reich!” und fügte erläuternd hinzu: „Entscheidend ist nur: daß in aller Stille die deutsche Jugend die natürliche Form ihres Jugendlebens findet und sie organisch in das Volksleben eingliedert, nämlich die Jungmannschaft als Kampfbahn und Heimat des eingebornen Rittertums; daß diese Ritterschaft ihre Sendung erfüllt, indem sie das deutsche Schicksal entschlossen bejaht und dabei weder vor äußeren noch inneren Feinden zurückbebt, auch weder von Abend- noch Morgenland sich verführen läßt, vielmehr aufbricht für das heilige Reich; und daß sie dies tut, weil sie die Gnade erkoren und zum Hüter des Grals bestellt; weil sie dem neuen Menschenbild, dem Weißen Ritter, in Zucht und Treue dient.”
Natürlich hatte die Dreiheit Wandervogel-Pfadfinder-Ritter etwas Überspanntes, war getragen von einem Pathos, das sich an der Dichtung Stefan Georges ebenso nährte wie an der Lektüre germanischer und deutscher Sagen und überhaupt dem begeisternden Bild des Mittelalters, das Teil der Nationalerziehung seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war.
Aber man sollte die Wirksamkeit deshalb nicht unterschätzen. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie viele bedeutende Köpfe aus den Reihen der frühen bündischen Bewegung hervorgegangen sind, welche charakterliche Prägung man offenbar durch eine Pädagogik erreichen konnte, die insbesondere die Jungen mit Bildern umgab, in denen die Notwendigkeit des Kampfes – gegen äußere Feinde wie gegen den Feind in sich selbst – so sehr betont wurde. Das lyrische Selbstverständnis des Wandervogels war hier abgelöst, von einem zwar nicht minder romantischen, aber härteren.
Auch ein Ausdruck dieses Wandels war das Verschwinden der Fidus-Bilder aus den Zeitschriften der Jugendbewegung. Anfeindungen von links hatte es früh gegeben, dann auch von konservativer Seite, vor allem aber haftete seiner Kunst etwas Überständiges an, selbst sein prophetischer Gestus war irgendwie wilhelminisch geblieben. Umgekehrt hat die Bündische Jugend bis zum Ende der zwanziger Jahre keinen künstlerischen Ausdruck ihrer Vorstellungswelt gefunden. Zwar gibt es in den Veröffentlichungen zahllose Darstellungen des Heiligen Georg, anderer Drachentöter oder Kämpfergestalten, aber keine kanonische. Bei den besten handelt es sich um Reproduktionen aus der Vorkriegs-und Kriegszeit.
Die Lücke wurde erst durch einen Künstler geschlossen, der nicht nur aus der Jugendbewegung hervorgegangen war, sondern einige der bedeutendsten Bilder aus ihrem Geist geschaffen hat: A. Paul Weber. Weber, 1893 geboren, hatte dem Wandervogel der Vorkriegszeit angehört, aber das ist für diesen Zusammenhang kaum von Bedeutung. Wichtiger erscheint, daß er seit dem Beginn der zwanziger Jahre in engen Kontakt zum „Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband” (DHV) trat, der mitgliederstärksten nichtlinken Arbeitnehmervereinigung. Weber arbeitete für die Hanseatische Verlagsanstalt, die dem DHV gehörte, für dessen Zeitschrift Deutsches Volkstum und vor allem für die Nachwuchsorganisation, die „Fahrenden Gesellen”.
Neben den Textillustrationen und Gelegenheitsarbeiten, die Weber anfertigte, war die Nähe zum DHV der Hauptgrund für die außerordentliche Verbreitung, die seine Arbeiten in allen Fraktionen der „Konservativen Revolution” fanden, vor allem unter Jungkonservativen, Nationalrevolutionären (Weber arbeitete eng mit Ernst Niekisch zusammen, dessen Zeitschrift Widerstand er zeitweise mit herausgab und gestaltete) und Bündischen. Deren Selbstverständnis hat er auf unübertroffene Weise zum Ausdruck gebracht. Wiedergaben fanden sich vor allem in den Zeitschriften und Broschüren der nationalistisch ausgerichteten Bünde wie der Fahrenden Gesellen selbst, des „Jungnationalen Bundes”, der „Geusen”, der „Freischar Schill”, der „Schilljugend” und der „Adler und Falken”, aber seit dem Anfang der dreißiger Jahre tauchten sie auch in den Veröffentlichungen der weniger politisierten Gruppen, etwa der evangelischen Jugend, auf. Kennzeichnend waren weiter die von Weber geschaffenen Gemälde und Ausstattungsgegenstände für mehrere Jugendherbergen, die auf Kosten des Mäzens Alfred C. Toepfer gebaut wurden, der Weber nicht nur als Künstler schätzte, sondern auch seine „nationalbolschewistischen” Überzeugungen teilte.
Die Kunst Webers erlebte in den zwanziger und dreißiger Jahren ihre Reifephase. Während seine Anfänge noch stark der Konvention verpflichtet waren, machten sich jetzt neben dem Einfluß der altdeutschen Meister vor allem Vorbilder wie Ferdinand Hodler und Albin Egger-Lienz bemerkbar. Das ist etwa an den eigenartig kantig wirkenden Wanderern zu erkennen, die Weber 1921 für Hjalmar Kutzlebs Landfahrerbuch schuf, oder an einem der selteneren Ölbilder, das einen Bündischen zeigt, der seinen „Affen” aufsetzt, und dessen Gestaltung ganz offensichtlich Hodlers „Aufbruch der Freiwilligen” nachempfunden war. Das alles waren aber nur Vorstufen jener Arbeiten, mit denen Weber dann die bündische Weltanschauung darstellen sollte: als Idyll – etwa das bäuerliche, „volkhafte” Leben – als Ideal – die Ritterlichkeit, das Frontkämpfertum, Führer und Gefolgschaft – oder als Karikatur – den Touristen, den Bourgeois, die Masse.
Die Bilder, die Weber in jener Zeit schuf, waren von unterschiedlicher Qualität. Einigem merkt man den Druck des Broterwerbs an, aber vieles gehört zum besten, was im Umkreis der Jugendbewegung künstlerisch hervorgebracht wurde. Armin Mohler hat vorgeschlagen, einen Holzschnitt Webers mit marschierenden Jungen vor übergroß im Hintergrund erscheinenden Soldaten als den optischen Ausdruck des Bündischen zu betrachten. Damit ist ohne Zweifel erfaßt, daß die Ritterromantik der Anfangszeit ganz zurückgetreten war und der moderne den mittelalterlichen Kämpfer als Vorbild ersetzt hatte. Allerdings ist nur eine kleine Minderheit der Bündischen dem Weg konsequent bis zur „Wehrjugend” gefolgt, für die Mehrheit wirkten zwar die Straffheit des Auftretens, die Militanz und die symbolische Männlichkeit anziehend, aber man scheute doch vor dem Schritt zur aktiven Vorbereitung eines neuen Waffengangs mit den deutschen Gegnern zurück.
Bei der Mehrzahl der Bündischen ging es eher um ein – jugendtypisches – Avantgardebewußtsein ohne letzte Klarheit. Insofern erscheint ein künstlerisch schwächeres Bild Webers aussagekräftiger. Es handelt sich um eine 1932 veröffentlichte Zeichnung, die einen bündischen Zug hinter der Adlerfahne in einer Ruinenlandschaft zeigt. Während die Umgebung im Schatten liegt und finstere Gestalten nach Verstecken suchen, zieht der Trupp unbeeindruckt seine Bahn, der Weg ungewiß, aber in helleres Licht getaucht.
Diese Darstellung kam dem Selbstbild der meisten Bündischen sehr nahe, für die sich Nachkrieg und große Krise zusammenzogen in der Wahrnehmung, zwischen Trümmern der Vergangenheit leben zu müssen, in einer Welt, die nicht nur bürgerliche Sicherheit verloren hatte, sondern auch ohne Werte und Metaphysik auskommen mußte. Das entsprach dem zeittypischen Pathos der Entschiedenheit und Ernst Jüngers Figur des „preußischen Anarchisten”, der das Chaos durchstreift auf der Suche nach einer neuen Ordnung, nur bewaffnet mit dem „kategorischen Imperativ des Herzens”. In konkrete, etwa politische Maßnahmen war ein solches Selbstverständnis aber kaum umsetzbar. Die von Niekisch 1929 ausgerufene „Aktion der Jugend” gegen den Young-Plan scheiterte bezeichnenderweise an der Irritation und dem Zögern der Bünde.
Zu diesem Zeitpunkt sahen sich diejenigen, die die Politisierung forciert hatten, genauso wie die Führer der Traditionsgruppen einer neuen Opposition aus den eigenen Reihen gegenüber. Es entstanden noch einmal „Energieverbände” (Eberhard Koebel – tusk), die versuchten, die Bewegung auf ihr ursprüngliches Anliegen zurückzuführen. Man wollte keineswegs zum Freischweifenden des Wandervogels zurückkehren. Graues Corps und dj.1.11 forderten vielmehr eine besondere – auch und gerade am Aussehen orientierte – Auslese und strikte Disziplin im Auftreten. Der wichtigste Protagonist dieser „Jungenbewegung” war der Führer von dj.1.11, Eberhard Koebel – „tusk”. Sein Charisma war außerordentlich, seine organisatorischen Fähigkeiten bemerkenswert. Aber die Hauptwirkung verdankte er weniger Ideen – dem Kosaken- und Samuraikult, der Faszination durch Zen und Nomadenleben -, sondern stärker der Stilbildung durch seine Entwürfe für das Layout von Zeitschriften und Büchern, für die Kleidung, für die Gestaltung der Lager, der Zelte und der Fahnen. In kurzer Zeit wurde das alles vom größten Teil der Bünde und sogar von der traditionellen Jugendpflege der Kirchen, Parteien und Gewerkschaften übernommen. Erst in dieser sehr kurzen, kaum drei Jahre dauernden, Endphase der Jugendbewegung wurde sie tatsächlich zum Generationenphänomen.
Von tusk stammte auch der Auftrag zu Oskar Justs Gemälde „Der Fahnenträger der dj.1.11″, dem letzten einflußreichen Zielbild der Jugendbewegung. Just, Jahrgang 1896, stammte aus dem sudetendeutschen beziehungsweise österreichischen Wandervogel, war aber am Ende des Krieges nach Berlin übersiedelt. Dort hatte er Verbindung zu tusk aufgenommen, und 1931 schuf er das erwähnte Gemälde, das einen betont „nordisch” aussehenden Jungen, in der neuen blauen Kluft der Jungenschafter mit der „Seidenfahne” der dj.1.11 zeigte. Die selbstbewußte Kopfhaltung und die in die Seiten gestützten Arme vermitteln jenen Eindruck des Kühnen, Stolzen, Lässigen, der von den Jungenschaftern vor allem angestrebt wurde. Das Gemälde stellte Rainer Rall dar, genannt „Mario”, der schon zu tusks Stuttgarter dj.1.11-Gruppe gehört und 1929 an der legendären Lapplandfahrt teilgenommen hatte; 1933 widmete ihm tusk seine Heldenfibel.
Der „Fahnenträger” wurde im Hauptraum der „Rotgrauen Garnison” in Berlin aufgehängt: „Die Reichsfahne von dj.1.11 hängt an der Wand. Gegenüber das große Bild von Oskar Just: Der Fahnenträger von dj.1.11. Auf Bänken und Schränken liegen Musikinstrumente, Ziehharmonikas, Banjos, Klampfen, Schießgeräte. Am schönsten ist der Raum bei Kerzenschein. Der große graue Vorhang ist zugezogen; die weißen Seidenvorhänge neben der Reichsfahne bewegen sich in der aufsteigenden Wärme. Die Buben singen und stampfen, der Hund Schascha bellt. Das ist die Garnison.”
Walter Sauer – „Wasa” – hat zu dem Bild bemerkt, daß es dem heutigen Betrachter oft als „beispielhafte Darstellung eines Hitler-Jungen” erscheine. Was nicht nur mit fehlender Kenntnis der historischen Zusammenhänge oder der bündischen Zeichensprache zu erklären ist, sondern auch mit der ganz zutreffenden Wahrnehmung, daß hier wie dort ähnliche Idealentwürfe propagiert wurden. Sieht man davon ab, daß dj.1.11 oder Graues Corps auf Grund ihrer beschränkten Größe ganz andere Möglichkeiten hatten, sich dem Ideal anzunähern, während das dem Staatsjugendverband faktisch unmöglich war, so bleibt doch umgekehrt der Sachverhalt zu betonen, daß man in der HJ-Führung nach 1933 bündische Ausdrucksformen duldete und sogar förderte, von denen – zu Recht – angenommen wurde, daß sie die Anziehungskraft stärken und den Aspekt des Zwanges mildern würden.
Es hat in den Anfangsjahren des Regimes eine große Zahl von Jungvolkführern gegeben, die nach dem Verbot aus den Bünden gekommen waren und den bekannten „Betrieb” mehr oder weniger unverändert fortsetzten. Es existierte daneben und dagegen aber auch eine unterirdische Fortsetzung. Die konnte sich in der Illegalität „Schwarzer Bünde” niederschlagen, die oft in der jungenschaftlichen Tradition standen, aber Organisationsbildung war gar nicht notwendig. Wie am Beispiel Hans Scholls eindrucksvoll ablesbar, hatte die Weiterwirkung mit dem Elitismus zu tun, der Reserve gegenüber der Massenorganisation und dem Bedürfnis nach Autonomie, das in der HJ nicht befriedigt werden konnte. In seiner Programmschrift Der gespannte Bogen hatte tusk prinzipiell zwischen „Wiederholern” und „Selbsterringenden” unterschieden; die von ihm erhoffte „neue Jugendbewegung” sollte eben von „Selbsterringenden” getragen werden.
1933 gab es viele, die hofften, daß die HJ trotz aller Fremdheit doch so etwas wie die Vollendung der Jugendbewegung im „Hochbund” sein könnte. Die Hoffnung hat getrogen. Es hatte insofern symbolische Qualität, daß Justs „Fahnenträger” zwar noch 1942 in einer kleinen Kunstausstellung der Wehrmacht im besetzten Frankreich gezeigt wurde, aber der Fahnenträger selbst schon zu Beginn des Krieges gefallen war. Die Diskreditierung der Ideale, für die er und seine Generation in der Jugendbewegung gestanden hatten, durchlief damals eine erste Phase, die zweite begann in der Nachkriegszeit und erreichte ihren Höhepunkt in den sechziger Jahren. Die Konzepte jugendlicher Ästhetik erfuhren seitdem eine dramatische Veränderung, die sie von allem entfernten, was an die Leitbilder der Jugendbewegung erinnerte. Dazu hat die Kolonisierung jugendlicher Existenz durch die Warenwelt ebenso beigetragen wie die Entfaltung destruktiver Kräfte im Kern der Gesellschaft.
Von der Jugendbewegung ist fast nichts geblieben, und die Bilder, in denen sie ihr Selbstverständnis dargestellt fand, lassen sich bloß noch mit Übersetzungshilfe entziffern. Solche Verschüttung von Vorstellungswelten ist in der Geschichte nicht ungewöhnlich, hat aber in diesem Zusammenhang eine weitergehende Bedeutung, weil die Jugendbewegung selbst als Jugendbewegung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zäsur markiert: zwischen jenen Phasen der Geschichte, in denen Jugend als selbständiger Lebensabschnitt keine oder kaum eine Rolle spielen konnte, und jenen, in denen neben fortgesetztem Infantilismus und forcierter Frühreife kein Platz mehr ist für ein „Jugendreich”.