Aber innerlich weine und lache ich zugleich. Es traten auf: Zwei Mädchen in klassisch peripubertärer Phase. Sie sind auf eine Art ugly, wie man es in diesem Alter eben meist ist. Ich aber finde sie beide wunderschön, schon allein, weil sie sich dahinstellen und ein Lied vorsingen, das sie anscheinend sehr mögen. Sie sind so unschuldig! Und sind es gleichzeitig auch nicht.
Sie tragen Klamotten, von denen sie nicht ahnen können, wie ungünstig, nachgerade häßlich sie sind. Sie tragen sie nicht mehr, weil Mama sie ihnen rausgelegt hat, sie tragen sie, weil die Mädchen im Otto- oder (in unseren Breiten) im Kik-Katalog darin so cool aussehen. Sie singen vielleicht auch nicht aus reiner Lebensfreude, sie singen, weil es irgendwelche Idole aus dem Fernsehen gibt, die das Lied ihnen vorgesungen haben. Das Lied heißt All the right moves, und Kubitschek fragt mich flüsternd: „Das heißt: Die ganze Rechte bewegt sich, oder?“ Die ersten Zeilen gingen:
All the right friends in all the right places, so yeah, we’re goin’ down,
They got all the right moves and all the right faces, so yeah, we’re goin’ down
Dann lausche und gucke ich nur noch. Die Mädchen sind nicht die aufglühenden Popsternchen, die sie vielleicht gern wären, zum Glück nicht. Ihre Blicken sind auf den Boden vor sich gerichtet. Lieblichste Schüchternheit!
Between the noise you hear, and the sound you like,
Are we just sinking in an ocean of faces?
Die beiden Backfische singen die Strophen abwechselnd und sehr langsam, glockenhell die Kräftige; mit mattem, dunkeln Timbre, Tanita-Tikaram-mäßig die Dünne. Es ist bezaubernd. Kommt ein Textchen von oben und wird vorgetragen, als ob´s das Allerinnerlichste wär. Und, ja, wer weiß es schon? Eine Romanszene! Erschütternd in vielfältigen Schichten! Abschließend noch mal und noch mal der Refrain:
Everybody knows, everybody knows where we’re goin’, yeah, we’re goin’ down,
Everybody knows, everybody knows where we’re goin’, yeah, we’re goin’ down
All the right moves
Kubitschek: “Ich versteh das nur schlecht, aber das war eine Art Hymne auf den Untergang des Abendlandes, oder?” Ja, und das exakte Gegenteil. Schaurigschön.
16.11. 2014
FAZ Redakteur Jan Grossarth, dessen wunderbares Buch (Vom Aussteigen und Ankommen. Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen) ich vor Jahren in der JF rezensiert hatte, hat in seinem Blatt einen Artikel über den Krippenwahn verfaßt, der eigentlich keiner Ergänzung bedarf. Grossarth spricht nicht von „Krippenwahn“, er handelt die Frage (nämlich das öffentliche Ersuchen um Krippenöffnungszeiten 24/7) ganz ruhig, sine ira et studio, ab. Er läßt eine Frau zu Wort kommen, die den Krippenausbau als persönlichen Freiheitsgewinn (verstanden als Freiheit, arbeiten zu dürfen) versteht: Wenn sie ihren Sohn abends abhole „dreht er sich nicht mal nach mir um“, er hat sich „super“ integriert. Grossarth:
Das wird wohl stimmen, auch die Wahrnehmung des Sachverhalts als Freiheitsgewinn. Womöglich ist sie aber etwas eindimensional. Es handelt sich um einen Gewinn von Selbständigkeit und Ungebundenheit, um eine Freiheit voneinander. Aber was können Kleinstkinder mit einem solchen Begriff von individualistischer Freiheit anfangen?
Grossarth schreibt, die nächste Stufe des Krippenausbaus könne so aussehen:
Die alleinerziehende Mutter beendet um kurz nach 24 Uhr ihre Spätschicht im Rewe und holt das seit Stunden schlafende Kind aus der Krippe ab. Der Lastwagenfahrer weckt seine Tochter um halb vier Uhr morgens und bringt sie in die Kita.
Es gibt bereits Krippen mit Nacht- und Wochendendbetreuung. Es gab sie schon vor Jahrzehnten in der DDR. Grossarth:
Je mehr Angebote es gibt, desto selbstverständlicher werden Eltern sie annehmen und die Unternehmen das für selbstverständlich halten. Das zeigt die bisherige Geschichte des Krippenausbaus. Im siebten Jahr nach von der Leyen hat sich unser Bild von der Familie normiert. (…) Ein Jahr Elternzeit der Frau, zwei Monate für den Mann, danach geht das Kind in die Krippe, und die Eltern arbeiten. Wer abweicht, macht die Erfahrung, sich erklären zu müssen: Das gilt für Männer, die länger oder gar keine Elternzeit nehmen, Frauen, die kürzer nehmen, und Frauen, die länger gehen. Gibt es ein Angebot, steigt der Bedarf. Gäbe es ein „bedarfsgerechtes“ Krippenangebot auch nachts und am Wochenende, dann würde der Bedarf steigen. Denn ein Arbeitnehmer wird sich erklären müssen, wenn er die Angebote nicht annimmt.
Ich selbst habe einige Zweifel daran, daß es rein wirtschaftlicher Druck ist, der die Eltern von ihren Kindern trennt; der uns atemlos werden läßt.
Erstens:
Sie: „Okay, es sind fast 60 km dorthin. [Zum neuen Job, hübsch vergütet, zuzüglich Pendlerpauschale]. Aber gut, da muß man durch.“
Ich: „60 km?! Also 120 pro Tag, 600 pro Woche? Pro Monat… rund 2500 km? Im Ernst? Dein Ernst?“
Sie (eventuell genervt, weil sonst andere, mitleidige Reaktionen im Sinne von „tja, heutzutage muß man…“ kamen): „Aber hör zu: Ich genieße es. Anderthalb Stunden am Tag einfach nur das Lenkrad halten. Bremsen, Gas geben. Radio hören. Ansonsten: Nicht handeln. Nicht arbeiten. Nicht putzen. Nicht erziehen. Nicht reden. Keine Gymnastik, keine Lektüre. Eigentlich: ausruhen.“
Zweitens:
Sie (eine andere Sie): „ Ja, nun ist sie halt von sieben bis vier in der Krippe. Schade, echt. Aber geht halt nicht anders. Und sie machts ganz gut. Keine Tränen beim Abschied. Und Kinder wollen ja auch unter Kindern sein, oder?“
Ich mache ihr ein bißchen schlechtes Gewissen: Studien, eigene Erfahrung, die Sache mit dem Cortisol-Spiegel der kleinen Kripplinge, mit der langfristigen außerhäuslichen Sozialisation. Ich zähle ihr auf, wo sie meines Erachtens hervorragend einsparen könnte. Da, da und da, und zwar, ohne „abzusteigen“, und zwar ohne zweites Gehalt. Die Ganztagsbetreuung kostet ja auch!
Sie, argumentativ umschwenkend: „Hör zu, ich liebe es einfach, ein paar Stunden ohne Klotz am Bein zu sein. Meine Fähigkeiten zu zeigen. Kaffeepause zu haben. Zu tratschen. Geld zu verdienen. Gelobt zu werden.“
So ist es. Und so ist es (allermeistens) nicht: Daß die Kinder allerschwersten Herzens abgegeben werden an Einrichtungen. Wie anstrengend, wie belastend Kinder empfunden werden, sehe ich dort, wo sie notgedrungen mitgeschleppt werden: Durch den Supermarkt, im Wartezimmer beim Arzt. Wird dort nett geplaudert, erzählt, erklärt, gespielt? Nö. Kind hält Gerät, Kind wird zurechtgewiesen, Kind wird angeschwiegen. Kind ist ein Klotz am Bein. Wir hatten menschheitsgeschichtlich kaum je mehr Freizeit als heute (man schaue auf die statistisch pro Tag online verbrachten Stunden!), und es gibt immer den Ausblick auf „mehr.“
Ein Kommentator zu Grossarths Artikel äfft treffend die Stimme der werktätigen Pragmatiker und wachstumsgeilen Politiker nach:
Habt euch nicht so, das hat “im Ostblock” lange Zeit funktioniert und schaut uns an: sind wir deswegen Monster?? “Äh”, sagt das Kinderherz, “ja.”
18.11. 2014
Schon toll, wie eins ins andere greift. Gerade heute, wo der Prozeß gegen Sebastian Edathy wegen mutmaßlichem Besitz kinderpornographischer Medien eröffnet wird, stellen sie im Deutschlandradio das „wunderbare“ Kinderbuch Sehr kleine Liebe des Niederländers Ted van Lieshout vor. Es ist schon vor einem Vierteljahr erschienen, aber wann, wenn nicht heute, wäre der Zeitpunkt, es einfühlsam zu bewerben?
Darin geht es – mit autobiographischem Hintergrund – nicht um eine sexuelle Schandtat an dem kleinen Jungen, der van Lieshout damals war, sondern um: Verführung, mmmh! Und darum, daß man an „so was“ nicht zu zerbrechen braucht. Außerdem gebe es einen gewaltigen Unterschied zwischen Pädophilen und Pädosexuellen. Der Autor sagt, er habe schon als Zwölfjähriger gewußt, daß er schwul sei, darum habe er dem Verführer den Gefallen getan. Schönes Wort: „Kavaliersdelikt“.
RL
Je länger dieser Wahnsinn andauert, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, daß man nur drei Bücher gelesen haben muß um diesen Wahn zu verstehen.
Aldous Huxley: " Schöne neue Welt", George Orwell: "Farm der Tiere" und "1984".
Huxley war beim britischem Geheimdienst und Orwell hoher Kader der britischen Kommunisten, sie wußten also von was sie schrieben.