So zutreffend Schirrmachers Vorschlag sein mag, er hat doch einen gravierenden Mangel: Habermas und Stoiber sind alt. Nach konventioneller Auffassung gehören sie in den Ruhestand. Ihre Präsenz muß die Angriffslust der Nachdrängenden reizen. Die Attacke auf Habermas im letzten Jahr hatte deshalb nur vordergründig mit verzehrten Meldezetteln oder der dunklen Vergangenheit eines „Produkts der reeducation” (Habermas über Habermas) als Pimpfenführer zu tun, sondern mit der Möglichkeit, einen Mann von diesem Einfluß überhaupt anzugreifen, ohne dabei größeren Schaden zu nehmen. Noch offenkundiger als im Fall von Habermas ist die altersbedingte Demontage Stoibers. Gerade war man dabei, die jämmerliche Vorstellung zu vergessen, die er in Berlin als Aspirant auf einen Ministersessel geboten hatte, da wurde seine Stellung als Landesvater und Parteivorsitzender durch den Vorstoß einer Provinzgröße in Frage gestellt, und zwar so nachhaltig, daß alles nach einem baldigen Ende seiner Laufbahn aussieht.
Sicher ist der Konflikt in der CSU vor allem ein innerparteilicher, also Normalität, und insofern unerheblich für die Einschätzung der größeren Zusammenhänge. Das ist anders im Fall der Kampagne, die gegen Habermas geführt wurde. Als der Cicero im vergangenen November mit dem Titel „Vergeßt Habermas” erschien, war das Provokation, eine Provokation, bei der die Substanz der Argumente kaum eine Rolle spielte. Habermas kennt dieses Spiel, er hat es oft genug inszeniert, und nimmt es entsprechend ernst. Seine und die Verteidigung seiner Parteigänger wirkte routiniert, aber lustlos. Die Empörungsbereitschaft ließ zu wünschen übrig. Das zeigt auch: Habermas ist noch eine Größe, aber das Interesse an seiner Person und seinen Auffassungen schwindet.
Wenn der Angriff nicht stärker durchschlug, hatte das vor allem mit fehlender Vorbereitung zu tun, auch mit fehlender Ernsthaftigkeit. Verantwortlich ist dafür Wolfram Weimer, Chefredakteur des Cicero. Offenbar betrachtete er das Ganze als eine Art Experiment, einen Test der Stimmungslage. Daß die sich wandelt, ist auch am Erfolg von Cicero zu erkennen. Viele Beobachter hatten der Zeitschrift kaum Chancen zugestanden. Mittlerweile erscheint sie fest etabliert und bildet eine Brücke zwischen den politischen Magazinen und Zeitschriften mit Beiträgen essayistischen Charakters. Was die Positionierung angeht, so liebäugelt Weimer mit dem Begriff „konservativ”. Im Juni des vergangenen Jahres ließ er etwa eine Umfrage zum Thema „Wie konservativ ist der Zeitgeist?” durchführen, aber die Ausbeute war mager, bis auf die klugen Erwägungen Jürgen Busches. Die Zustimmung hatte atmosphärische, kulturelle, biographische Gründe, aber keine politischen. Eine Positionierung im rechten Spektrum kam sowieso nicht in Frage. Diesen Ruch hat Cicero von Anfang an gemieden, unter den Mitarbeitern vor allem auch solche rekrutiert, die im linken oder linksliberalen Milieu verankert sind.
Wenn sich überhaupt so etwas wie eine Weltanschauung des Cicero erkennen läßt, dann wäre die wohl am ehesten mit „neue Bürgerlichkeit” zu bezeichnen. Der Begriff hat seine Karriere parallel zum Aufstieg der Zeitschrift erlebt und hängt mit PISA-Schock und Integrationsdebatte ebenso zusammen wie mit der Wahrnehmung neuer Zwänge, die aus Volkstod und Staatsverschuldung resultieren. Zu den wichtigsten Protagonisten gehören neben den Veteranen Arnulf Baring und Paul Kirchhof jüngere Intellektuelle wie der Historiker Paul Nolte, der regelmäßig Beiträge für Cicero schreibt. Sie betrachten sich als Stichwortgeber des Zeitgeistes. Man findet Vorbehalte gegenüber Amerika, aber grundsätzlich ist die Orientierung prowestlich, europäisch, staatsskeptisch und unternehmerfreundlich. In vielem erscheinen die Auffassungen der „neuen” wie die der „alten Mitte”, nur bereinigt um das Erbe des rheinischen Kapitalismus und gewisse Fixierungen des Kalten Krieges. Man ist auch smarter und weltläufiger. Die Denk- und Handlungskonzepte werden nach angelsächsischem Muster geformt, was bedeutet, daß man dem Deutschen als einem Spezifischen mit Reserve gegenübersteht. Patriotismus mag seinen Zweck erfüllen – auch dafür bieten die USA das Modell -, aber er muß gegenwarts-und zukunftsbezogen sein, Vergangenheit ist nicht erwünscht. Bezeichnenderweise ist das Geschichtsbild des Cicero ganz konventionell.
Das alles kann nicht getrennt werden von der ironischen Attitüde, die in den redaktionellen Beiträgen gepflegt wird. Sie bestimmt aber auch die natürliche Grenze der Wirksamkeit. Das Problem wird gelegentlich sogar den Ironikern bewußt. Im April 2004 hat Weimer seine Kolumne mit der Überschrift „Gibt es ein Jenseits der Ironie?” versehen. Die Frage stelle sich, folgt man seiner Argumentation, weil die ironische Kultur des Westens zunehmend ganz und gar unironischen Konkurrenten gegenübertrete: den sendungsbewußten Amerikanern, den leistungsstarken Asiaten, den zahlreichen Afrikanern.
Damit kehre der Ernst in die Debatte zurück, und das sei „… gar nicht schlecht. Denn dann müßte man sich wieder anstrengen, wieder neugierig sein, wieder fragen und lernen und wollen. Etwas ernst nehmen, Respekt pflegen, den Kulturpessimismus wieder als Kleiderbügel begreifen, auf den man ein ironisches Gewand hängen kann, aber eben keine Identität. Aus dem Schutt des Ironischen hieße es die Grundmauern der Tradition wieder freilegen, das Politische wieder als das Bürgerliche begreifen, das Kulturelle als das Eigene, vielleicht sogar das Religiöse als das Sinnstiftende entdecken, das Wort jedenfalls wieder als den Anfang und nicht als einen Witz am Ende.”
Man kann diesen Sätzen Hellsichtigkeit nicht bestreiten, indes weiß Weimer sehr genau, daß der ironische Gestus Existenzbedingung seines Organs ist. Den Erfolg am Markt verdankt er nicht nur außerordentlichen finanziellen Mitteln, sondern auch der ungeschriebenen Regel, ernste Fragen zu meiden, nicht nach den Verantwortlichen für die Misere zu suchen, die tatsächlichen Mängel der Politischen Klasse zu beschweigen und Möglichkeiten gründlicher Abhilfe undiskutiert zu lassen. Die Inkonsequenz des Angriffs auf Habermas paßt gut in dieses Bild.
Vielleicht würde Cicero auch Inkonsequenz als Vorzug deuten, Ausweis überlegener Einsicht, Fehlen deutsch-idealistischer Belastung. Damit wäre man jedenfalls nahe an der These, die in einem der bemerkenswertesten Bücher des vergangenen Jahres vertreten wird: Jens Hackes Philosophie der Bürgerlichkeit. Bemerkenswert ist das Buch übrigens nicht wegen der Substanz, sondern wegen seines Erscheinens überhaupt. Es befaßt sich mit dem (angeblichen) Einfluß der Schule des Philosophen Joachim Ritter auf die Debatten der Nachkriegszeit. Der Autor versteht seine Arbeit aber gleichzeitig als Versuch, der „neuen Mitte” eine Geschichte zu geben, eine Tradition, die sie mit früheren „liberalkonservativen” Ansätzen verbindet. Als wichtigste Träger solcher Überlieferung gelten ihm Hermann Lübbe und Odo Marquard, daneben noch Ernst-Wolfgang Böckenförde und Martin Kriele. Die Auswahl ist willkürlich und orientiert sich faktisch an dem Einfluß, den die betreffenden gewonnen haben. Was Hacke nonchalant übergeht, ist nicht nur die Tatsache, daß keiner von den Genannten je als „konservativ” gelten wollte, sondern auch, daß die konservativen Protagonisten des Ritter-Kreises – Günter Rohrmoser, Reinhart Maurer und Bernard Willms – vollständig ausgespart werden. Das führt nicht nur zu einer Verzeichnung, sondern auch dazu, daß etwas als Erfolgsgeschichte präsentiert wird, was nichts weniger war, als das. Die von Hakke vorgestellten „Liberalkonservativen” kennzeichnete ein Riecher für Karrierehemmnisse und die Entschlossenheit, sich etwas vorzumachen. Während die „Rechtskonservativen” immerhin für sich in Anspruch nehmen können, den Kampf aufgenommen zu haben, der dann verloren ging, zogen sie es allemal vor, im Ernstfall ein ruhiges Plätzchen zu suchen, am Bodensee etwa, am besten auf der schweizerischen Seite.
Daß solche Haltungen unter Intellektuellen durchaus auf Sympathie rechnen dürfen, kann man auch darauf zurückführen, daß sie allgemeineren Verhaltensmustern entsprechen: gespielte Überlegenheit, ruchloser Optimismus, Weigerung, auf den Kern zu kommen. In einer bemerkenswerten Analyse hat Stephan Grünewald die These aufgestellt, daß die deutsche Mentalität vor allem durch solche Züge bestimmt sei. Grünewald, von Hause Psychologe und Leiter eines privaten Instituts für Kultur‑, Marktund Medienforschung, beschäftigt sich normalerweise nicht mit dem großen Ganzen. Aber in Deutschland auf der Couch geht es genau darum: um den „Verlust des wirklichen Lebens”, gekennzeichnet durch vier Faktoren: „Das vertagte Leben”, „Der zerstückelte Alltag”, „Das schicksallose Leben”, „Das Schwinden der Alltagskompetenz”. Grünewald erklärt die kollektive Neigung, alle Erwartungen einer grundsätzlich besseren Zukunft zuzuweisen, die Fragmentierung von Zeit in (lästige) Arbeitszeit und (arbeitsartig gestaltete) Freizeit, die Illusion eines ganz beherrschbaren Daseins und den dramatischen Verlust jener Fähigkeiten, die früher der gesunde Menschenverstand garantierte, zu Ursachen für den „rasenden Stillstand”, der unsere Lage kennzeichnet, die allseits als problematisch empfunden wird, die aber niemand zu ändern vermag. Die Deutschen reagierten mit „Coolness” oder „Simulation”, aber der Anschein von Distanz oder die Flucht in ekstatische Ausnahmesituationen schafften keine Abhilfe.
Vieles von dem, was Grünewald anspricht, findet man auch bei anderen Trendforschern, Unternehmens- oder Politikberatern. Was ihn von diesen unterscheidet, ist das Fehlen der aufgesetzten Fröhlichkeit. „Mut zum wirklichen Leben”, so seine Position, bedeute auch Hinnahme der prinzipiellen Beschränkung menschlicher Existenz durch „Schicksal” und „Vergänglichkeit”. Nur wenn man beides einbeziehe, gebe es die Möglichkeit sinnvoller Existenz – für den einzelnen wie die Gemeinschaft – und entstehe jene Spannung, die den Menschen dazu bringe, sich den Herausforderungen des Daseins zu stellen und Selbständigkeit zu gewinnen.
Die Vorstellungen Grünewalds erinnern nicht zufällig an eine weltanschauliche Position, die man als „konsequent liberal” oder als „libertär” bezeichnen könnte. Auffällig ist auch, daß hierzulande das Interesse an einer Denkschule wächst, deren Einfluß in den USA oder Großbritannien seit langem große Bedeutung hat. Ein erstes Indiz dafür war schon der Erfolg des Buches Demokratie. Der Gott, der keiner ist von Hans-Hermann Hoppe. Aber für den deutschen Geschmack war daran vieles zu exzentrisch. Eigentlich hätte von Anfang an die Rezeption solcher Autoren wie Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke oder Ludwig von Mises näher gelegen. Hayek und Röpke hat Hans Jörg Hennecke, ein junger Politikwissenschaftler, in den letzten Jahren umfangreiche Biographien gewidmet. Sein Interesse ist allerdings keineswegs antiquarisch, vielmehr sucht er nach Möglichkeiten, die Position des „wahren Neoliberalismus” auch praktisch umzusetzen.
In diesen Zusammenhang gehört ein Aufsatz, den er zum Ende des zweiten Kabinetts Schröder unter dem Titel „Regieren ohne inneren Kompaß” veröffentlichte. Die Aufzählung der Fehlleistungen und Strukturschwächen war nicht neu, sowenig wie die Bemerkungen über die Defizite des politischen Personals, was aber auffiel, war die Stoßrichtung der Argumentation: „Die Krise kam nicht über Nacht, sondern ist hausgemacht: Längst haben sich die großen Reformwerke von einst – Adenauers Rentenreform, die Neuordnung des Föderalismus zu Zeiten der Großen Koalition, die Ausdehnung der Staatstätigkeit unter sozialliberaler Ägide, die Einführung einer umlagefinanzierten Pflegeversicherung in der Ära Blüm – als verhängnisvolle Fehlentscheidungen entpuppt.” Die Krise ist aus der Sicht Henneckes vor allem eine „ordnungspolitische”, beruhend auf Staatsinterventionismus, Überregulierung, Phlegma und einer fehlenden „Kultur der Freiheit”.
In einen größeren Rahmen eingefügt erscheint diese Analyse in seinem 2003 veröffentlichten Buch Die dritte Republik. Es handelt sich dabei weniger um Geschichtsschreibung mit dem Zweck, die letzten zehn Jahre zu historisieren, eher um eine Darstellung in praktischer Absicht, die vor allem die Unzulänglichkeit der rot-grünen Ansätze nachweist. Die dritte, also die „Berliner Republik”, habe, so Hennecke, nur eine Chance, wenn sie den rot-grünen Irrweg verlasse und an den „Gründungserfolg der Bonner Republik” anschließe. Der war nach Meinung des Verfassers bestimmt durch die Trias Westbindung (vor Wiedervereinigung) – Marktwirtschaft – Leistungsbereitschaft. Von den dreien interessieren ihn vor allem die beiden letzten Faktoren. Das ist auch einer „Agenda 2020” zu entnehmen, die Hennecke mit Daniel Dettling, Vorstandsvorsitzender des think tanks berlinpolis, formuliert hat. Die darin vertretenen Positionen wirken aber nur pointiert, wenn es um Deregulierung und die Forderung nach größerer Risikobereitschaft geht, sie verblassen, wenn man einen Blick auf die Bestimmung des politischen oder metapolitischen Rahmens wirft.
Immerhin hat Hennecke unlängst hervorgehoben, daß es entscheidend auf die „Erneuerung der konservativen und liberalen Prinzipien” – in dieser Reihenfolge – ankomme, aber inhaltlich bleibt das unscharf. Es stellt sich die Frage, ob das eher als Klugheit oder als Feigheit zu werten ist. Nimmt man wohlwollend Klugheit an, so darf man weiter vermuten, daß hier alles weitere ausgespart bleibt, weil die Erfahrung lehrt, daß seine Thematisierung mit einer Wucht zurückschlägt, der der einzelne nicht gewachsen ist.
Wer nicht bereit ist, solche Klugheit walten zu lassen, hat ein höheres Maß an Unabhängigkeit gewonnen, oder wird durch sein Temperament gezwungen, unangenehme Wahrheiten auszusprechen. Für den ersten Fall steht hier Peter Sloterdijk, von dem man spätestens seit dem Skandal um seine „Menschenpark”-Rede wissen kann, daß er zum Tabubruch neigt. Dieser Neigung bleibt er auch in seinem neuesten Buch Zorn und Zeit treu. Es handelt sich vordergründig um die philosophische Auseinandersetzung mit einem vernachlässigten Faktor des Weltgeschehens, eben dem „Zorn”. Sloterdijk weist auf die uns fremdartige Anschauung der Antike von der Macht des Zorns hin und rehabilitiert dessen produktive Aspekte. Das geschieht in Auseinandersetzung mit zwei Positionen: der christlichen und der aufklärerischen. Der Vorstoß gegen die biblische Lehre dürfte zu den schärfsten der neueren Zeit gehören. Jedenfalls hält sich Sloterdijk nicht lange mit irgendwelchen Nebensachen auf, sondern attackiert das Christentum in seinem Kern. Er betrachtet es als eine weltfremde, strukturell verlogene Lehre, die nur mit Hilfe absurder Zusatzannahmen ihre Prinzipien aufrechterhalten könne. Vor allem erscheint ihm das Gott zugestandene Zornmonopol indiskutabel. Es habe wesentlich dazu beigetragen, den Wert des Zorns in den Augen der Europäer zu negieren. Eine Tendenz, die aber erst in der Neuzeit vollständig zur Geltung gekommen sei, da die Aufklärung ihrerseits Affektkontrolle propagierte und einem unrealistischen Menschenbild anhing. Die großen radikalen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts – Kommunismus und Faschismus – erscheinen insofern wie Ventile eines ungeheuren Zornstaus, der sich im Laufe der Zeit aufgebaut hatte.
Die Schwächen von Sloterdijks Argumentation sind unverkennbar, vor allem das Schiefe der historischen und theologischen Bezüge, aber man darf ihre Stärken nicht übersehen. Was ihn antreibt, ist neben dem Bemühen, Anhaltspunkte für die Richtigkeit einer originellen These zu finden, die Klärung der Frage, welche Zukunftsperspektiven eröffnet werden, wenn neue „Zornbanken” mit gigantischen „Guthaben” entstehen, in den Ländern Asiens und Afrikas, in deren islamisch geprägten Gebieten vor allem, mit ihrem Menschen- beziehungsweise Männerüberschuß und einer Weltanschauung, in der Zorn und zornige Praxis als legitim betrachtet werden. Allerdings glaubt Sloterdijk nicht daran, daß der Islam imstande sein werde eine „Weltopposition” nach dem Muster der kommunistischen Bewegung zu bilden. Seine „passéistische” Grundstruktur mache das unmöglich, auch das Fehlen eines Zentrums; die Gefahr sei im Einzelfall groß, insgesamt aber zu bewältigen.
Vielleicht ist deshalb das „Axiom”, das Sloterdijk aufstellt, wichtiger als eine Reihe von Einsichten, zu denen mittlerweile auch andere gekommen sind: „In der globalisierten Situation ist keine Politik des Leidensausgleichs im Großen mehr möglich, die auf dem Nachtragen von vergangenem Unrecht aufbaut, unter welchen welterlöserisch, sozialmessianisch oder demokratiemessianisch codierten Verbrämungen auch immer.” Sloterdijk hütet sich wohlweislich, daraus konkretere Folgerungen zu ziehen und kommt uns allen Ernstes mit der „Weltkultur”, aber die Durchführung einer „hygienischen” Maßnahme, die den „Vorwurfsbewegungen” schlechterdings das Existenzrecht abspräche, hätte unabsehbare Folgen für das Selbstverständnis des Westens, Deutschlands vor allem.
Die Argumentation Sloterdijks hat einen deutlich nietzscheanischen Zug. Das verbindet sie mit derjenigen Wolfgang Sofskys, der hier der zweiten oben angesprochenen Kategorie zugerechnet wird, also der Gruppe derjenigen, die nicht anders können. Als 1993 sein Buch Die Ordnung des Terrors veröffentlicht wurde, haben viele eine glänzende akademische Karriere erwartet. Die Arbeit über die Struktur des Konzentrationslagers schien in jeder Hinsicht zu passen: Das Thema war politisch korrekt, der Erscheinungsort auch und gegen die Tendenz gab es keine Einwände. Manchmal äußerte sich aber ein gewisses Unbehagen über das abgründig pessimistische Menschenbild, das der Darstellung Sofskys zugrunde lag. Seitdem sind fast fünfzehn Jahre vergangen, und es wird zu den ewigen Geheimnissen der Rekrutierung deutscher Professoren gehören, daß Sofsky keinen Lehrstuhl erhielt. Immerhin hat ihm das die Gelegenheit gegeben, weiter zu schreiben und sich je länger je weniger an die Vorgaben zu halten, die das akademische Milieu sonst macht. Wie man den Titeln seiner letzten Bücher unschwer entnehmen kann – Traktat über die Gewalt – Zeiten des Schreckens – Das Prinzip Sicherheit – konzentriert sich sein Interesse im wesentlichen auf zwei Fragen: Was fürchten wir am meisten?, und: Läßt sich dagegen ein Mittel finden?
Die erste Frage beanwortet Sofsky mit einem Verweis auf den Schrekken der Gewalt und des Schmerzes. Seiner Meinung nach gehört das Absehen von diesen Faktoren zu den Defiziten moderner politischer Theorien, deren Annahmen und Entwürfe deshalb einen illusionären Charakter haben. Um solcher Täuschung zu entgehen, ist Sofsky sehr vorsichtig, was die Beantwortung der zweiten Frage betrifft. Im Grunde sieht er aber nur die Schaffung einer Institution, die mittels Gewalt die Gewalt eindämmt, als Möglichkeit an. In einem Essay über das Wesen der Macht heißt es: „In der Befugnis zum Verletzen und Töten liegt die Wurzel politischer Macht. Dies mag in Friedenszeiten zeitweilig in Vergessenheit geraten. Doch ist die Verleugnung des Ausnahmezustands historisch kurzsichtig und naiv. Auch die demokratische Eliteherrschaft währt nicht ewig. Auch sie greift im Ernstfall auf die Waffen zurück, welche die Ordnungshüter in den Depots bewahren. Die letzte Grundlage politischer Macht, sei sie demokratisch oder oligarchisch verfaßt, ist die Verletzungsmacht, die jeder Untertan am eigenen Leib zu spüren bekommt.” In einem seiner jüngsten Texte geht Sofsky sogar noch einen Schritt weiter und erklärt, daß zu den Voraussetzungen politischer Handlungsfähigkeit die Fähigkeit gehört, über den Feind zu entscheiden.
Trotzdem ist es bisher nicht dahin gekommen, daß mit Nachdruck auf die Parallelität der Argumentation zwischen Sofsky und Carl Schmitt hingewiesen wurde. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß er viel tut, um die Ästhetik des Ernstfalls zu meiden. Für Sofsky ist unbestreitbar, daß der Staat der Neuzeit mit seinem Gewaltmonopol die Gewalt gerade nicht beseitigt, sondern ungeheuer gesteigert hat. Daraus die üblichen Fehlschlüsse zu ziehen, versagt er sich aber ebenfalls. Freiheit bleibt für ihn ein hohes Gut, und die wird eben nicht geschützt durch Gleichheit oder Beteiligung aller an allem, sondern ist zu messen „an der Stärke der Barrieren, die den einzelnen vor den Maßnahmen der Obrigkeit, den Übergriffen der Nachbarn und den Attacken der Feinde schützen”.
Man kann Sofskys Konzept als Übertragung von Hobbes auf das einundzwanzigste Jahrhundert betrachten, aber weiter führt vielleicht, wenn man seine Thesen mit ähnlichen von Herfried Münkler oder Karl Otto Hondrich zusammenstellt. Sie alle haben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren vorsichtig, niemals ohne Camouflage, begonnen, die Selbstverständlichkeiten der Nachkriegspolitologie in Frage zu stellen und eine neue, wenn man so will „veristische” Konzeption zu entwickeln, die ohne konventionelle Lügen arbeiten will. Was ihnen dabei entgegenkam, war das Erlahmen der utopischen Energien, die Möglichkeit, auf ähnliche Ansätze in Nachbarländern hinzuweisen, und – vor allem anderen – die Veränderung der Lage. Seit 1945 litt das Nachdenken über Politik hierzulande unter der Menge normativer Vorgaben, die zwar verschieden motiviert waren, aber immer Realitätsverlust zur Folge hatten. Es war insofern gleichgültig, ob der Rahmen durch die Umerziehung, das westliche Wertebewußtsein oder die Ideologien der Neuen Linken bestimmt war, es ging immer um ein Absehen von konkreten Bedingungen. Nur Außenseiter beharrten auf der Anschauung, daß die politische „Wirklichkeit … in aller bisherigen Geschichte die konkreter politischer Subjekte in konkreten Lagen” (Hans-Joachim Arndt) war und daß es dabei bleiben werde, solange die Geschichte andauere.
Wenn nicht alles täuscht, dann wird dieser Tatbestand erst jetzt wieder allgemeiner anerkannt. Daß mancher Neophyt dabei zu Einsichten kommt, die man außerhalb des offiziell anerkannten Bereichs immer bewahrte, ist nicht gerecht, muß aber hingenommen werden. Auch diese – fallweise bittere – Einsicht gehört zu den Bedingungen lagegerechten politischen Denkens.