Ihr Kern besteht in der konsequenten Anwendung der Entwicklungspsychologie Jean Piagets (1896 – 1980). Piaget ist durch Beobachtungen und Experimente zu einem Vier-Stadien-Schema der kindlichen Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten gelangt, wobei die höheren Stadien auf den niedrigeren aufbauen. Der Säugling bis etwa anderthalb Jahre verharrt noch in einer vorstellungslosen, sensomotorischen Phase des Denkens. In ihr orientiert sich das Kind sinnlich in seiner räumlich-gegenständlichen Umgebung. Im zweiten Lebensjahr entwickelt es die Fähigkeit zum symbolischen Denken, das heißt äußere Sachverhalte innerlich zu repräsentieren. Diese präoperationale Phase dauert etwa bis zum sechsten oder siebenten Lebensjahr. Sie überwindet die Beschränkung auf das Hier und Jetzt der sinnlichen Wahrnehmung. Ab dem sechsten Lebensjahr wird allmählich die Phase der konkreten Operationen aufgebaut. In ihr gelingt der logische Umgang mit konkreten Objekten und Sachverhalten. Zum Beispiel ist das Kind nun in der Lage zu erkennen, daß in ein schmaleres Glas umgegossenes Wasser einen höheren Wasserspiegel ergeben muß (sogenannte Mengenerhaltung). Erst ab dem zehnten Lebensjahr beginnt dann die Phase der formalen Operationen. In ihr kann das Kind das logische Denken auch auf abstrakte, sinnlich nicht wahrnehmbare Sachverhalte anwenden. Erst in diesem Stadium ist es in der Lage, Hypothesen und Theorien zu entwickeln und auf die eigene Subjektivität kritisch zu reflektieren.
Piagets Erkenntnisse sind vor allem für die Kinderpsychologie und die Pädagogik fruchtbar geworden. Weniger bekannt ist, daß auch zahlreiche an Piaget orientierte Untersuchungen in außereuropäischen Kulturen durchgeführt wurden. Oesterdiekhoff spricht von mehr als tausend Untersuchungen in über hundert Ethnien in den letzten siebzig Jahren. Obwohl die Ergebnisse in eine eindeutige Richtung weisen, sind aus ihnen nie systematische Schlußfolgerungen gezogen worden. Das wundert einen auch nicht, kennt man erst einmal ihre von Oesterdiekhoff zusammengefaßten Ergebnisse: Danach durchlaufen zwar alle Menschen das sensomotorische und das präoperationale Stadium. Hinsichtlich der nächsten beiden Stadien der konkreten und formalen Operationen zeigen die Befunde aber ebenso eindeutig, daß sie in den Entwicklungsländern nur von einem Teil der Menschen oder gar nicht entwickelt werden.
In traditionellen Regionen Afrikas, Asiens, Ozeaniens oder Lateinamerikas erreichen nur etwa dreißig bis fünfzig Prozent der Menschen die Phase der konkreten Operationen. Isolierte archaische Bevölkerungen (zum Beispiel australische Aborigines) entwickeln das operationale Stadium überhaupt nicht. Das Stadium der formalen Operationen mit seinem abstrakten, begrifflichen Denken wird selbst in den modernen Industrienationen nur von einem Teil der Menschen erreicht. Je nach Schwierigkeitsgrad beherrschen in diesen Ländern knapp die Hälfte bis etwa neunzig Prozent der Bevölkerung das formal-logische Denken. In einfachen, vormodernen Gesellschaften fehlt es völlig. In den Entwicklungsländern findet man es überhaupt nur bei Menschen, die eine Schule nach westlichem Muster besucht haben.
Es überrascht nicht, daß die meisten Untersucher dazu tendierten, ihre eigenen Ergebnisse abzuschwächen, und daß sie über die transkulturelle Kognitionsforschung hinaus praktisch unbekannt blieben. Tatsächlich werden sie durch die methodisch ganz anders gearteten Ergebnisse der psychometrischen IQ-Forschung bestätigt, die in allen Ländern der „Dritten Welt” deutlich niedrigere Werte als in den westlichen Ländern fanden. Im Gegensatz zu den abstrakten IQ-Werten haben die Piagetschen Stadien jedoch den Vorteil, daß sie die kognitiven Defizite anschaulich machen. Gegenüber einer verbreiteten kulturrelativistischen Interpretation als bloß „anderes”, prinzipiell gleichwertiges Denken, gelingt es Oesterdiekhoff nachzuweisen, daß es sich um tatsächliche kognitive Defizite handelt. Natürlich kann man sagen, daß zum Beispiel in einer traditionellen Jäger-und-Sammler-Kultur keine Notwendigkeit zum logischen Denken mit abstrakten Begriffen besteht, tatsächlich wird die Fähigkeit dazu aber auch nicht entwickelt. Man muß kein Formaldenker sein, um leben, jagen, Felder bewirtschaften, Häuser bauen oder Auto fahren zu können.
Oesterdiekhoff sieht das entscheidende Stimulans im mindestens dreijährigen Besuch einer Schule nach westlichem Vorbild. Das dort eingeübte, von konkreten Gegenständen losgelöste Denken (Grammatik, Mathematik) scheint zu dem entscheidenden Entwicklungsschritt zu befähigen. Entsprechend geschulte Angehörige traditioneller Kulturen erreichen ebenso wie Westler die fortgeschrittenen kognitiven Stadien. Oesterdiekhoff hält das für den Beweis, daß die intellektuellen Unterschiede zwischen den Europäern und den Bewohnern der Entwicklungsländer nicht auf genetischen Rassenunterschieden beruhen, sondern auf den Einflüssen der kulturellen Umwelt. Da die kognitiven Fortschritte mit der Entwicklung entsprechender neuronaler Strukturen verbunden sind, steht für sie nur ein bestimmtes ontogenetisches Zeitfenster zur Verfügung. Das heißt, wer als Jugendlicher das formal-operationale Denken nicht erlernt, hat dazu als Erwachsener keine Möglichkeit mehr.
Oesterdiekhoff verfolgt im einzelnen, welchen Einfluß die kognitiven Strukturen auf die Emotionen, das Weltbild und die Moral- und Rechtsvorstellungen in den vormodernen Kulturen haben. Aus ihnen leitet er magisches Denken und Animismus ab. Charakteristisch ist die Unfähigkeit zur Trennung von subjektiver und objektiver Wirklichkeit. Fabulieren und Lügen wirken als Selbstsuggestion. Das präformale Denken ist unfähig, die Perspektive des Anderen zu übernehmen. Es gibt keinen Zufall, hinter jedem Ereignis steckt ein tieferer Sinn. Unglücke sind Strafen Gottes oder Folgen magischer Beeinflussung (Hexerei). Der Welt wohnt eine „immanente Gerechtigkeit” inne, Handlungen ziehen ihre Sanktionierung automatisch nach sich („das Kind wäre nicht ins Wasser gefallen, wenn es nicht gestohlen hätte”). Das soziale Handeln ist persönlich und konkret, nie prinzipiell. Empirische Untersuchungen über das moralische Urteilen in außereuropäischen Kulturen zeigen, daß dort die Orientierung an Gehorsam und Bestrafung sowie am eigenen Vorteil vorherrschen, und die entwickelteren, auf der Verinnerlichung abstrakter Prinzipien beruhenden Stufen fehlen.
Aus der mangelnden sozialen Perspektivübernahme resultieren das grausame Strafrecht und die Allgegenwart von Gewalt in vormodernen Kulturen. Auch das europäische Mittelalter und die antiken Hochkulturen zeigen nach Oesterdiekhoff diese Strukturmerkmale. Im germanischen Mittelalter galten Schwerter und Schiffe als beseelt. Gegenständen und Haustieren konnte der Prozeß gemacht werden. Noch im siebzehnten Jahrhundert schrieben Rechtsgelehrte Abhandlungen über Leichen, die in Gegenwart ihres Mörders zu bluten anfangen. Das formallogische Denken ist demnach keine zeitlose anthropologische Konstante, sondern erst historisch im Zuge der europäischen Neuzeit entstanden. Die Unterschiede zwischen den vormodernen Kulturen, von steinzeitlichen Jägern bis zur Antike, spielen sich nach Oesterdiekhoff alle im präformalen Bereich ab.
Oesterdiekhoffs Theorie beeindruckt durch die Folgerichtigkeit ihrer Argumentation. Da die Piagetsche Theorie schon ein gewisses Alter hat, stellt sich allerdings die Frage, wie sie von der aktuellen Entwicklungspsychologie eingeschätzt wird und ob möglicherweise neue Erkenntnisse Oesterdiekhoffs Theorie entwerten. Neuere Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß die kognitiven Stadien nicht universell, sondern eher bereichsspezifisch entwickelt werden. So lassen sich manche Fähigkeiten, die nach Piaget erst in höheren Stadien auftreten, auch schon bei jüngeren Kindern nachweisen. Das gilt für kausales Denken und auch für die Unterscheidung von Realität und Fiktion, wobei letztere aber immer noch als viel wirklicher erlebt wird als von Erwachsenen. Der Grund für das frühere Auftreten operationaler Fähigkeiten wird zum Teil in einer allgemeinen Akzeleration (Entwicklungsbeschleunigung) in den letzten Jahrzehnten in der westlichen Kultur gesehen. Oesterdiekhoffs Argumentation wird durch diese Befunde kaum entkräftet, ja, soweit man eine Entwicklungsbeschleunigung annehmen kann, sogar bestätigt.
Eine Schwäche von Oesterdiekhoffs Theorie stellt meiner Ansicht nach die allzu summarische Zusammenfassung aller vormodernen Kulturen als präformal dar. Es gibt viele Hinweise darauf, daß es auch schon in den alten Hochkulturen formal operationales Denken gab. So sind schon im alten Mesopotamien komplexe Formen wissenschaftlichen Denkens wie die Annahme von Gesetzmäßigkeiten und Hypothesenbildung nachweisbar. In der Antike hatte die Wissenschaft in der hellenistischen Zeit eine Blüte, die alle Zeichen abstrakten theoretischen Denkens aufwies (Euklid, Archimedes). So waren die Griechen schon zu einer ziemlich genauen Berechnung der Entfernung der Sonne und des Mondes in der Lage. Ebenso ist sicher auch für andere Hochkulturen die Existenz formal-operationalen Denkens nicht auszuschließen. Es dürfte sich dabei aber immer nur um die Fähigkeit einer kleinen Elite gehandelt haben, die oftmals ihr Wissen als Herrschaftswissen eifersüchtig hütete. Zu einer weiteren Verbreitung fand das formal-logische Denken tatsächlich erst im neuzeitlichen Europa.
Oesterdiekhoff sieht in der Tatsache, daß auch Nichtwestler das formale Stadium erreichen können, den Nachweis für den nichtgenetischen Charakter der vorgefundenen Intelligenzunterschiede. Ohne Zweifel ist Oesterdiekhoffs Theorie das zur Zeit schärfste Schwert im Lager der Milieutheoretiker – auch wenn die meisten von ihnen das noch nicht begriffen haben. Die Gegenthese, nämlich daß den IQ-Unterschieden genetisch begründete Rassenunterschiede zugrunde liegen, wird von dem britischen Psychologen Richard Lynn vertreten. Der gibt in seinem Buch Race Differences in Intelligence einen weltweiten Überblick über die bisherigen IQ-Ergebnisse. Die auch in einer Karte dargestellten Unterschiede sind eindrucksvoll: Der durchschnittliche IQ der autochthonen Bevölkerung (ohne eingewanderte Europäer) beträgt in Ostasien (China, Japan, Korea) 105, in Europa 100, in Südostasien 90, in Nordafrika, dem Mittleren Osten, Südasien und Amerika 85, in Schwarzafrika 67 und ist am niedrigsten bei den noch altsteinzeitlich lebenden Australiern (62) und südafrikanischen Buschleuten (56). Lynn verweist auf die Korrelation zur Gehirngröße, deren geographische Verteilung mit der des IQ weitgehend parallel geht, und sieht in den vorgefundenen Unterschieden das Ergebnis einer Evolution in Anpassung an das Klima. Die harten Überlebensbedingungen im kalten, eiszeitlichen Klima des Nordens evoluierten den hohen IQ der Ostasiaten und Europäer. Von den Umwelteinflüssen, deren Einfluß auf die geographischen IQ-Unterschiede er auf maximal fünfzig Prozent schätzt, erachtet Lynn die Ernährung, die während des kindlichen Wachstums auch die Gehirnentwicklung beeinflussen kann, als am wichtigsten, während er im Gegensatz zu Oesterdiekhoff der Erziehung nur eine geringe Bedeutung einräumt.
Oesterdiekhoff zitiert als Beleg für die große Rolle der Erziehung ältere IQUntersuchungen, die für noch traditionell lebende Chinesen und Japaner einen niedrigen IQ auswiesen, und Adoptionsstudien, die bei in weißen Mittelschichtfamilien aufgewachsenen schwarzen Kindern einen überdurchschnittlichen IQ fanden. Lynn beruft sich auf Studien, wonach südafrikanische Schüler und indische Studenten auch nach langjährigem Schulbesuch nur einen mäßigen IQ zeigen, sowie auf Adoptionsstudien, nach denen der IQ der Adoptierten dem ihrer ethnischen Herkunftsgruppe ähnlicher ist als dem ihrer Adoptiveltern. Letztere Adoptionsstudien scheinen gegenüber denen mit positiverem Adoptionseffekt zahlenmäßig zu überwiegen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß beide Autoren bevorzugt solche Untersuchungsergebnisse zitieren, die ihre Theorien bestätigen. Offensichtlich gibt es beides, Nichtwestler, die bei entsprechender Ausbildung westliches Niveau erreichen, und solche, die es trotz Förderung eben nicht erreichen. Welches Phänomen von beiden das signifikantere ist und welche Faktoren hier wirksam sind, ist noch völlig offen. Stellen die erfolgreichen Nichtwestler genetische Siebungsgruppen ihrer Populationen dar, heimische Eliten, die schon einen Aufstiegsprozeß innerhalb ihrer Kultur hinter sich haben? Sind bei den Nichterfolgreichen trotz Förderung immer noch retardierende Einflüsse ihrer Kultur und sozialen Stellung wirksam? Ausschließen kann man beides sicher nicht. Auf jeden Fall zeigen die Befunde Oesterdierkhoffs, daß man die hohe Heritabilität der IQ-Unterschiede innerhalb von Populationen nicht so ohne weiteres auf die Unterschiede zwischen den Rassen und Völkern übertragen kann.
Die von Oesterdiekhoff zusammengestellten Befunde stellen eine eindrückliche Warnung vor einer naiven Verallgemeinerung europäischer Denkmuster dar. Stärker noch als die IQ-Untersuchungen machen die entwicklungspsychologischen Daten deutlich, wie weit die Realität der meisten außereuropäischen Kulturen von jenen verharmlosenden Multikultur-Vorstellungen entfernt ist, die in kulturellen Unterschieden lediglich folkloristische Äußerlichkeiten sehen wollen. Das weitgehende Fehlen formal-operationalen Denkens dürfte auch der Grund für das Fehlschlagen so vieler Demokratisierungs- und Entwicklungshilfeprojekte in der „Dritten Welt” sein. Politisch legen die kognitionspsychologischen Erkenntnisse meines Erachtens vor allem zwei Schlußfolgerungen nahe: Erstens müssen die Gefahren einer ungesteuerten Einwanderung deutlich gemacht werden, und zweitens die Notwendigkeit konsequenter Schulbildung, insbesondere schon im Vor- und Grundschulalter.