Es ist bezeichnend, daß das oben erwähnte Buch Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947 (München: Deutsche Verlags-Anstalt 2007. 896 Seiten, geb mit SU, Abb., 39.95 €) nicht von einem Deutschen stammt, sondern von einem Australier, der in England lehrt: Christopher Clark. Hierzulande ist es vielmehr üblich, ein Werturteil zu übernehmen, um dann an diesem Leitfaden die Fakten auszuwählen (Ausnahmen gibt es natürlich, zum Beispiel Hagen Schulze oder Thomas Nipperdey). Es ist, wenn man sich optimistisch gibt, erfreulich, daß das Buch bislang geradezu enthusiastisch besprochen wurde. Clark läßt die Vorurteile gegenüber Preußen nun nicht krachend einstürzen. Es ist kein kämpferisches, sondern ein sehr ausgewogenes Buch, das immer beide Seiten eines Sachverhalts zu Wort kommen läßt und oftmals in dieser Antinomie verharrt, ohne sich für eine Argumentation zu entscheiden. Dabei steht offensichtlich die Überzeugung im Hintergrund, daß auch das Leben von Staaten nicht aufgeht, und daß es uns nicht ansteht, etwas zu verdammen, was wir nicht einmal ganz erfassen können.
Clark erzählt die Geschichte Preußens am Leitfaden der Entwicklung des Herrscherhauses, den Hohenzollern. Er setzt mit der Reformation ein, von der Vorgeschichte erfährt man recht wenig, und endet gefühlsmäßig 1871, den Fakten nach 1947. Mit dem Auftakt ist einer der tragenden Themenschwerpunkte Clarks bereits bezeichnet: Religion. Diese Gewichtung macht deutlich, daß ein Staat auf Religion gegründet sein muß. Ein Genie wie Friedrich der Große konnte sich nur vor dem Hintergrund der pietistischen Durchformung der Eliten Preußens entfalten. Seine Aufklärung hat daher nicht wenig Schuld am Untergang Preußens. Friedrich war zwar der erste Diener seines Staates, er war aber in einem positiven Sinn auch der Staat. Sein Tod hinterließ ein Vakuum.
Die Kraft des Pietismus, der in dem Offizier nicht den Haudegen favorisierte, sondern den von „Mäßigkeit, Selbstdisziplin und unbedingtem Gehorsam” geprägten Führer, war dahin. Wie ein Fanal wirkt der tollkühne Tod von Prinz Louis Ferdinand. Zu den besten Stellen des Buches gehört die Verteidigung der Wöllnerschen Religionsedikte, die scheinbar eine alte Orthodoxie wiedererrichten wollten, in Wirklichkeit aber erkannt hatten, daß die Freiheit eine zweischneidige Sache ist, die den Untertan zu überfordern drohte. Wöllner hatte begriffen, daß es ohne Religion nicht geht. Aber dieser nüchterne Gedanke zeigt, daß es zu spät war. So wie jede „konservative Revolution” war auch Wöllners Ansatz ein Kind der Aufklärung, der die Religion rein funktional bewertete.
Ähnlich, wenn auch ganz anders, war die romantische Opposition gegen den aufklärerischen Rationalismus, der sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts zeigte, gelagert. Hier standen gleichsam Gefühl, Jugend und Poesie gegen Verstand, Alter und Moral. Staatspolitisch war Preußen nach dem Tod Friedrich des Großen „zur Norm in europäischen Dynastien” (Clark) zurückgekehrt. Nach ihm kam ein großer Versager (unter dem Preußen ironischerweise die größte Ausdehnung seiner Geschichte erreichte) und dann kam Napoleon, der „Weltgeist zu Pferde”. In dieser Zeit ist das neue Buch von Günter de Bruyn Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 (Frankfurt am Main: S. Fischer 2006. 524 Seiten, Ln mit SU, Abb., 24.90 €) angesiedelt. Der Titel bezieht sich auf eine Bemerkung, die Friedrich Wilhelm III. zu einer militärischen Denkschrift von Gneisenau machte: „Als Poesie gut!” Gneisenaus Erwiderung, daß allen „patriotischen, religiösen, sittlichen Gefühlen Poesie zugrunde läge und somit auch ‚die Sicherheit der Throne‘ auf Poesie gegründet sei”, ist gleichsam die These de Bruyns. Er erzählt deshalb in etwa fünfzig Kapiteln die Kulturgeschichte Preußens zwischen den Jahren 1786 und 1807 mit besonderem Blick auf Berlin, das sich damals zum „Spree-Athen” entwickelte. Damit ist auch der tragische Zwiespalt bezeichnet, der sich zwischen dem König, der Poesie für Spielerei hielt, und den geistigen Eliten, die das von Friedrich dem Großen hinterlassene Vakuum wieder auffüllen wollten, auftat.
Anhand von Biographien bekannter und weniger bekannter Persönlichkeiten erzählt de Bruyn auf seine unnachahmliche Weise, gelehrt und unterhaltsam zugleich, die Geschichte jener Jahre. Unter anderem werden die beiden Könige, Königin Luise, Schadow, von der Marwitz, Kleist, de la Motte Fouqué, Zelter, Rahel Varnhagen von Ense, die Schlegels, die Tiecks, Schleiermacher, Schiller, Jean Paul, Clausewitz und Madame de Staël portraitiert. Daneben aber auch jemand wie der „Sokrates aus der Mark” August Ludwig Hülsen, der lange als Hauslehrer tätig war und von den Schlegels wegen einiger Aufsätze im Athenaeum geschätzt wurde. Hülsen hatte die Sinnlosigkeit seines öffentlichen Wirkens eingesehen, kritisierte die Romantiker für ihre Rittervorlieben und wollte nur noch mit Sicherheit nützlich sein und seinen eigenen Garten anbauen, was er dann in Schleswig Holstein tat. Gestorben ist er in der Mark, als er zu Besuch in der Heimat war. Es gibt kein Bild von ihm, nur die Zeugnisse seiner Freunde. Ein ähnlicher Fall ist der des Pfarrers Schmidt, damals ein bekannter Dichter, über den sich Goethe seiner Einfalt wegen lustig machte, der aber, was auch Goethe anerkannte, ein reines Herz hatte und sich so schließlich Goethes Achtung verdiente. Er sehnte sich nach einer Berufung aufs Land, die er erhielt, und von dort an führte er sein Leben „einfach, genügsam, in schuldloser Abseitigkeit” (Bruyn) und gab das Dichten schließlich auf.
De Bruyn schließt mit Fichtes Reden an die deutsche Nation, die er in ihrer Ambivalenz schildert: Sozialisten und Nationalisten hätten versucht aus Utopien, die Fichte paradigmatisch präsentiert habe, Realität werden zu lassen, „woraus dann hoffentlich das einundzwanzigste Jahrhundert, in dem es nicht mehr die Deutschen sind, die ihre Art zu leben für die wahre und weltbeglückende halten, seine Lehren zieht.” De Bruyn sieht einen engen Zusammenhang zwischen Nation und Demokratie, „so daß man Gefahr für die Demokratie wittern sollte, wenn es, wie manche wünschen und schon bald erreicht zu haben meinen, mit den Nationen zu Ende geht.” Die preußische Entdeckungsreise de Bruyns macht durch die Rückbindung der Personen an Ort und Zeit deutlich, wie wichtig Maß und Überschaubarkeit für die Bildung einer Persönlichkeit und damit auch des Staates sind. Fichtes Reden verraten daher noch preußischen Geist: Ohne Erziehung zur Idee der Sittlichkeit im gemeinschaftlichen Handeln kann der Einzelne nicht er selbst sein.