Dabei macht er auch vor Wohngebieten nicht halt. Jetzt sollen drei Wölfe in der Lüneburger Heide in Niedersachsen einen Chihuahua getötet haben.“ Gut, so ist das eben im Tierreich. Das Recht des Stärkeren.
Eigentlich lese und höre ich ganz gern von den nach Mitteleuropa zurückkehrenden Wolfsrudeln, ich kann mich wider alle zivilisatorische Vernunft von romantisch-ökologischen Reflexen nicht ganz freimachen – ich will die Wölfe zwar nicht füttern und unterschätze sie auch nicht, denke aber, die Natur kehrt halt zurück. Wie schön. Und überhaupt:
Chihuahua, also bitte. Ich rufe mir Bilder dieser den Namen Hund kaum verdienenden Tierchen auf den Bildschirm – klarer Fall, entfernt es sich mehr als zwei, drei Meter aus dem sorgenden und schützenden Umkreis von Herrchen und Frauchen, ist es nur selten länger als fünf Minuten überlebensfähig.
Dann schieben sich andere Bilder vor das innere Auge. Bilder von Menschen, die den Wölfen gleich auch von weit her zu uns kommen und nun – ebenfalls analog zu den Wolfsrudeln – meist in Gruppen in unseren Wohngebieten auftreten und – - – ja, manchmal passiert dann wohl auch etwas, was einen an den Chihuahua denken lässt. Das Recht des Stärkeren halt. Er fragt nicht, bittet nicht, sondern nimmt sich mit großer Selbstverständlichkeit das, was er will. Da kann der Ortsansässige noch so sehr jammern: Aber das ist doch meins, was wollen die hier und warum von mir.
Man denkt an die Zeit der Völkerwanderung, als Vandalen und Goten binnen weniger Jahrzehnte kreuz und quer durch Europa zogen, teils sogar Nordafrika erreichten, getrieben von etwas anderem, das stärker war als sie selbst – doch wo sie ankamen, fand ohne zartfühlende Rücksicht auf die Ansässigen die Landnahme statt: brutal und von harter Notwendigkeit. Man fragte nicht.
Nicht anders einige Jahrhunderte später die Wikinger. Eine Handvoll Nordmänner, selten mehr als fünfzig oder sechzig, zog in drei, vier Drachenbooten die mitteleuropäischen Ströme hinauf und fiel raubend, plündernd, mordend und brandschatzend über die erste lohnenswert erscheinende Stadt am Ufer her, deren nach Zahlen stets weit überlegene Einwohnerschaft froh sein konnte, wenn es ihnen nur an die materiellen Dinge und nicht ans Leben ging.
Sie hätten sich bei mehr als hundertfacher Überlegenheit doch leicht wehren können. Warum taten sie es nicht? Sie gehörten schließlich einer weit überlegenen Zivilisation an. Diese paar Nordmänner – wilde Zausel, ungehobelte Kerle, gute Seeleute zwar, doch ansonsten unzivilisierte Schreckensgestalten, lebten daheim in ihren Förden und Fjorden in Einfachheit und Kargheit, waren Bauern und Händler, hausten mehr als daß sie wohnten, verbrachten die langen Winter vermutlich in Suff und Depression (kann man im Norden noch heute beobachten). Doch sobald es Frühling wurde, raffte man seine Expeditionsausrüstung (Helme, Schilder, Waffen) zusammen und stach in See.
Wer unter den zivilisierten Städten Europas dann von den Männern aus dem Norden aufgesucht wurde, hatte nichts zu lachen. Die Bewohner reicher Städte wie Hamburg, Paris oder Nantes ließen sich in Angst, Schrecken, Panik versetzen allein durch den Anblick einer Horde wild aussehender und wilder noch sich benehmender Männer (Frauen und Kinder waren nie darunter). Innere Lähmung setzte bei den Heimgesuchten ein – erst des Geistes und dann der Muskeln. Oder umgekehrt? Die Heimgesuchten verfielen in so etwas wie eine kollektive Duldungsstarre. Warum wehrten sie sich denn nicht?
So ähnlich wird es dem Chihuahua ergangen sein: Ein Blick auf die drei Wölfe und er wusste Bescheid. Ließ sich wahrscheinlich ohne Gegenwehr erledigen. Blickt man nochmals auf dieses arme Tierchen und was von ihm übrigblieb, fällt einem das Wortpaar Degeneration/Dekadenz ein. Negativer Zuchterfolg, negativ vor allem mit Blick auf die Überlebensfähigkeit.
Wie viel Chihuahua steckt eigentlich in uns? Man muss sich das fragen, wenn man sieht, wie schicksalsergeben wir alles hinnehmen, obwohl man doch eigentlich gar nicht mehr wegsehen kann. Nachrichten über weiter anschwellende Flüchtlingsströme jeden Tag, dazu – längst nicht mehr nur aus den Ballungszentren an Rhein und Ruhr – vermehrt Nachrichten über Gewalttaten, deren Urheber zwar in den halbamtlichen Medien nur selten genannt werden, die aufgrund bestimmter wiederkehrender Muster aber nahezu zweifelsfrei als Nicht-Einheimische identifiziert werden können. Als – bleiben wir im Vergleich – Wölfe also.
Doch darf man Vorgänge im humanen Raum vergleichen mit Vorgängen in der Tierwelt? Wenn ich das hier mache, geschieht dies nicht in der Absicht einer Herabwürdigung der einen oder anderen Seite der miteinander Verglichenen, sondern weil ich den Menschen in vielerlei Hinsicht von jenen Trieben und Instinkten gesteuert sehe, die auch im Tierreich walten. Damit macht man den Menschen nicht zum Tier, sondern weist auf einen bestimmten Teil der menschlichen Verfassung, der conditio humana, hin.
Zurück zu uns. Wir sehen Fremde nahen. Doch die meisten Einheimischen verfallen nicht etwa in Angst und Schrecken, nein, sie nähern sich zutraulich, öffnen ihre Herzen und Brieftaschen. Der Reflex: Fremde nahen – Bedrohung zieht herauf, dieser Reflex ist ausgeschaltet. Wie konnte das passieren? Hat die westliche Zivilisation, diese Mischung aus griechisch-römischer Antike und christlich-jüdischem Glauben, später angereichert durch Wissenschaft, Technik und soziale Lehren, über die Jahrhunderte das für alle Zeiten ausschalten können, was zuvor Jahrtausende ganz selbstverständlich dazugehörte? Oder ist das nur so eine Art Wackelkontakt – ist die Ausschaltung nur vorübergehend, kann der alte Strom der Instinkte wieder fließen, kann der Selbsterhaltungstrieb wieder angeregt werden?
Ich mache in letzter Zeit viele interessante Beobachtungen: Unbehagen breitet sich aus, unterschwellig, aber spürbar. Auch unter Leuten, die irgendwann mal grün gewählt haben. Leute, die vor zwei Jahren noch den Zustrom von draußen vielleicht tatsächlich als Bereicherung und Aufhellung ihres Daseins empfunden haben (schließlich kennt man den Orient und Afrika aus dort verbrachten Urlauben), konnten inzwischen die Schattenseiten kennenlernen, oft am eigenen Leibe. Leute, die sich ganz selbstverständlich in die Reihe der Helfenden eingereiht haben, sind von der Realität entsetzt: kaum eine Geste der Dankbarkeit, oft nur weitere Forderungen. Das Essen schmeckt nicht, die Kleidung gefällt nicht, die Unterkunft eine Zumutung – menschenunwürdig. Wo bleibt die erwartete Partizipation am Reichtum? Manch einer der gutwilligen Helfer, der selbst noch die Nachkriegszeit in Deutschland erlebt hat oder aus Erzählungen seiner Eltern kennt, fällt schier vom Glauben ab.
Und dann sind da noch jene, die sich vor allem um den drohenden Wertverlust ihrer Immobilie sorgen, wenn dreißig, vierzig Zuwanderer in der Nähe angesiedelt werden. Zuwanderer, die, so ahnt man es, bleiben wollen und bleiben werden. Man beginnt zu ahnen, daß es hier nicht darum geht, humanitäre Hilfestellung für einige Monate bis zur Rückkehr in die Heimatländer zu leisten.
Es wird immer klarer, daß sich hier uralte Geschichte wiederholt – Landnahme. Freilich gibt es Unterschiede – die Unterstützung der Landnahme durch die eigenen Landsleute, durch die in freier Wahl bestimmte eigene Regierung. Warum machen die das? Man sieht es, doch man versteht es nicht. Was geschieht da? In den Medien häufen sich, um die Stimmung wieder einzufangen, die Berichte über gelungene Integrationen von Zuwanderern – dabei fällt auf, daß es sich oft um Zuwanderer aus Ost- und Südostasien oder Südeuropa handelt, die in der Tat oft mustergültige Zuwanderer waren und sind.
Die heutige Realität freilich sieht anders aus. Wer da genauer hinschaut, ahnt: Es geht nicht um Integration im Sinne der Eingliederung. Es geht um Vorteilnahme. Immer mehr Hiesigen dämmert das. Folgt auf die Dämmerstunde das Erwachen? Wird es noch lange dauern, bis die uralten Panikinstinkte wieder wach werden? Doch was wäre dadurch gewonnen? Panik ist, wie wir anhand der Reaktionen mittelalterlicher Großstädte auf ein paar Wikinger gesehen haben, kein Ausweg. Panik hilft nicht, Panik schützt nicht.
Der Selbsterhaltungstrieb müsste sich mit aller Macht zu Wort melden – das Aufstehen, das Durchgreifen, der Gegenschlag. Doch einem armen Chihuahua würde wohl selbst das nichts nützen.
donna_alta
Noch zwei Chihuahuas, die gerne Wölfe wären.
Ach Gottchen!
Bei so viel Scheinheiligkeit, dreht sich mir der Magen um!
https://web.de/magazine/unterhaltung/stars/til-sigmar-maennerfreundschaft-fluechtlinge-30817788