Ohne die Berufung auf eine Entfremdung des Menschen gegenüber der Arbeit, den gesellschaftlichen Verhältnissen überhaupt, ohne den durch die Entfremdung gegenüber den anderen Dimensionen des Lebens entstehenden eindimensionalen Menschen und die daraus resultierende Aufforderung zur Revolte wäre das, was oft als Kulturmarxismus bezeichnet wird und im Gefolge von 1968 die Gesellschaft und Staat nachhaltig verändert hat, kaum möglich gewesen.
Dabei ist dieser Begriff kein genuin linker. Ein Blick in die Ideengeschichte der letzten zweieinhalb Jahrhunderte zeigt, daß das Unbehagen an der Zivilisation auch dort verbreitet ist, wo nicht links gedacht ist. Sehr ausgeprägt ist dieses Unbehagen auch bei Martin Heidegger. Dessen Begrifflichkeit der „Uneigentlichkeit“ und des „Man“ meint nichts anderes. Daß mit Herbert Marcuse einer der entscheidenden Vordenker der 68er-Revolte sich nicht nur von Marx, sondern vor allem von Heidegger entscheidend hat inspirieren lassen, ist bekannt. Der ursprünglich vor allem auf die Produktionsverhältnisse bezogene marxistische Entfremdungsbegriff wird nun in einem ganz allgemeinen Horizont auf jedes Individuum bezogen: Revolutionäres Subjekt ist nicht mehr das Proletariat, sondern wirklich jeder, der die Entfremdung spürt. Der geradezu existentielle Appell „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ hat hier seine Wurzeln.
Später wurde es um den Entfremdungsbegriff merkwürdig still. Das geschah, als den Nachfahren von Adorno, Horkheimer und Marcuse dämmerte, daß dieser Begriff seinem Gehalt nach ein extrem reaktionärer ist, bezieht er sich doch auf eine im Vorhinein festgelegte Bestimmung des Wesens des Menschen. Nur aufgrund einer solchen vorgängigen Wesensbestimmung kann so etwas wie Entfremdung überhaupt stattfinden und konstatiert werden. Genau das aber, die anthropologische Festlegung, darf es nicht geben – nicht nur für die im dialektischen Prozeß fortschreitende Linke nicht, sondern auch für das auf Nivellierung, permanente Veränderung und Globalisierung bezogene ökonomische Denken der Weltkonzerne nicht.
In der Tat ist es so, daß man, um Entfremdung spüren zu können, das Eigene kennen oder doch wenigstens erahnen muß. Ohne Eigenes keine Entfremdung – wer ohne Schwerpunkt und Wurzelgrund lebt, taumelt bezugs- und haltlos im wertfremden Raum, ist überall zu Hause und nirgendwo.
Ein wichtiges Hilfsmittel der Bewusstwerdung des Eigenen ist die Erinnerung. Deshalb war es schon in ältesten Zeiten üblich, nach politisch-religiösen Umwälzungen die Erinnerung auszulöschen. Als Pharao Echnaton den Kult des Aton einführte und die alte Priesterkaste entmachtete, fielen alle Symbole des alten Glaubens der Zerstörung anheim. Die Auslöschung sollte radikal sein. Nach Echnatons Tod vollzog sich ein erneuter Wandel. Der Glaube an die alten Götter wird zerstört, denn an ihnen hängt (neben konkreten Machtfragen) auch die Wesensbestimmung des Menschen.
Nichts anderes geschah im 18. und 19. Jahrhundert in Nordamerika mit den Indianern. Deren physische Vernichtung war ab einem bestimmten Zeitpunkt nur dann noch nötig, wenn es zu Überfällen auf weiße Siedler kam. Ansonsten reichte es, die Stämme vom Land ihrer Väter zu vertreiben und in entlegene Reservate umzusetzen – etwas, was sich gut als humanitärer Akt tarnen ließ. Da die Präsenz der Ahnengeister an den konkreten Ort gebunden war, konnte man durch solche Umsiedelungsaktionen die Identität der Ureinwohner wirkungsvoll für alle Zeiten zerstören.
Nichts anderes geschah im Kommunismus, nichts anderes geschieht auch heute weltweit – der Globalisierungsprozeß entwurzelt und entortet Menschen, raubt ihnen ihre Identität, reduziert sie auf eine Rolle als austauschbares Rädchen im ökonomischen Getriebe, macht sie zu gesichtslosen Niemanden. Das betrifft keineswegs nur uns hier in Mitteluropa, sondern auch jene, die von weither an unsere Gestade gespült werden. Wurzel- und Heimatlose werden zu anderen Wurzel- und Heimatlosen getrieben (um nicht zu sagen: aufeinander gehetzt). Es scheint so, als sollte die Wurzel- und Heimatlosigkeit endgültig zum universalen Prinzip erhoben werden.
Der neuzeitliche westliche Mensch hatte mit der Historie einst ein Mittel erfunden, sich immer wieder auf seine Identität und seine Herkunft besinnen zu können. So wurde er überhaupt erst in die Lage versetzt, systematisch stattfindende Entfremdungsprozesse zu erkennen. Da verwundert es nicht, daß der Geschichtsunterricht in den Schulen, der das Tor zur Vergangenheit und damit zur Herkunft öffnet, zunehmend marginalisiert wurde. Man könnte argwöhnen, daß unfähige Geschichtslehrer als systemrelevant erachtet wurden und werden. Wo Geschichtsunterricht überhaupt noch stattfindet, befaßt er sich heute fast ausnahmslos kritisch und in negativer Weise mit der Herkunft der Unterrichteten. So wurden ganze Schülergenerationen ihrer Herkunft entfremdet – ohne jede Chance auf positive Bezugspunkte im Vergangenen.
Die Auslöschung der Erinnerung (vgl. die Begriffe damnatio memoriae und abolitio nominis) war vollendet. Wenn hier und da sich heute noch jemand an seine Wurzeln, seine Vorfahren, seine Herkunft und alte Gebräuche erinnern möchte – bitteschön, Privatsache, individuelle Schrulligkeit, die man toleriert, solange sie nicht ins Politische gewendet wird. Was nun aber, wenn genau dies geschehen würde: Die Erinnerung an die Herkunft, an das Eigene, an die Wurzeln und damit die Bewußtwerdung einer eigenen Identität in harter, scharfer Abgrenzung zu anderen Identitäten? Würde das nicht immer mehr Menschen begreifen lassen, daß sie ihrer eigenen Identität methodisch und in böser Absicht entfremdet wurden? Was, wenn dieses Gefühl der Entfremdung, des Fremdwerdens im Hier und Heute, politische Dimensionen annehmen würde? Ansatzpunkte gibt es genug – nicht zuletzt sind es ausgerechnet die massenhaft zuwandernden Entwurzelten aus der Fremde, die dem Entfremdungsprozeß hierzulande Auftrieb geben.
Entfremdung bedeutet: Etwas, das bislang Autorität beanspruchte, wird bedeutungslos, es findet keine Identifikation mit ihm mehr statt. Die Bindung zur Autorität geht in die Brüche. Die Autorität selbst verkommt zur Lachnummer – die 68er haben es vorgelebt. Man mag über Fritz Teufel und Konsorten denken, was man will, doch sie hatten ein einzigartiges Talent, angemaßte Autoritäten in ihrer ganzen Lächerlichkeit zu entblößen. Lachen tötet – und zwar gründlicher als ein Maschinengewehr.
Daraus lassen sich Lehren ziehen. Die Entfremdung unserer Tage findet statt gegenüber einem Staat, der so etwas wie eine massenhafte Zuwanderung zuläßt und forciert, gegenüber Politikern, die so etwas vorantreiben, gegenüber Unternehmen, die so etwas verlangen, gegenüber Medien, die so etwas begrüßen und bejubeln, gegenüber allen in Nachbarschaft und Freundeskreis, die sich moralisch überlegen dünken, weil sie das alles für normal und sogar wünschenswert halten. Warum sich immer um mühselige Analyse, kräftezehrende Entlarvung bemühen, warum nicht das alles einfach in Grund und Boden lachen? Hinter einem solchen Lachen kann durchaus ein grimmiger Ernst stehen.
Entfremdung ist wünschenswert. Sie läßt uns jetzt etwas fremd werden, was bislang Identifikation und Bedeutung beanspruchte – durch dieses Fremdwerden des nur vermeintlich Nahen (sprich dessen, was sich als Ersatz für das Eigene aufgedrängt hat) wird uns bewußt, daß uns bestimmte Dimensionen unseres Daseins verloren gegangen sind, daß wir (wenngleich auch auf andere Art, als Herbert Marcuse es sich dachte) eindimensional geworden sind. Die Entfremdung ist aber nicht nur Abkehr und Identifikationsverweigerung, sondern führt uns zurück auf das Eigene.
Entfremdung leitet einen Prozeß der Freilegung von etwas Verlorengegangenem ein. Wie hieß es damals im Gefolge von 1968 (und ursprünglich auf den guten alten Anarchisten Proudhon zurückgehend)? Richtig: Unter dem Pflaster liegt der Strand. Ganz recht. So ist es. Und jetzt sind wir es, die das Pflaster aufreißen und uns längst verloren Geglaubtes zurückholen.
(Bild von kunstnet.de)
Albert
Sehr schöner Text.