Der eine, Moltner, ist der durch Wissenschaft und Technik geprägte intellektuelle Typus – ein Zyniker und Zweifler, dem die Welt grau geworden ist. Der andere, Einar, ist auch ein Wissenschaftler, aber einer, der die Bodenhaftung nicht verloren hat. Als weitere zentrale Figuren treten der schamanisch agierende Magier Schwarzenberg (aus anderen Werken Jüngers auch als Nigromontan bekannt), Gaspar, ein als Faktotum beschäftigter und mit allen Wassern gewaschener ehemaliger Fremdenlegionär, die Wirtschafterin Erdmuthe (unschwer als Erdmutter zu deuten) und Ulma, eine Tochter des Landes, auf. Die Erzählung schildert, wie Einar, Ulma und Moltner sich in den Sitzungen mit Schwarzenberg zu den Wurzeln des Lebens zurückbegeben und mit neuer Kraft versehen in das zurückkehren, was man etwas prosaisch als Alltag bezeichnen könnte. Dass bei diesen Geistreisen Drogen eine nicht unwesentliche Rolle spielen, ist nicht allein den privaten Leidenschaften Ernst Jüngers geschuldet (erinnert sei an sein großes Werk „Annäherungen – Drogen und Rausch“), sondern verweist auf die Tatsache, dass in fast allen großen religiösen Begegnungen Rauschzustände eine bedeutende Rolle spielten (das dem Rausch abholde späte Christentum ausgenommen). Ort der Handlung ist eine Insel hoch im Norden – diese Insel Godenholm ist das, was heutzutage gern als „Kraftort“ bezeichnet wird.
Man spürt: Dies ist nicht einfach irgendeine Geschichte. Es geht darum, nach den großen Katastrophen zu den Quellen, den Urgründen, den Wurzeln zurückzufinden. Es ist ein Prozess der Selbstfindung, der Selbstvergewisserung und Selbstverortung. Und genau das wäre auch heute ein wichtiges Anliegen – nicht weniger wichtig als politische Aktionen, vielleicht sogar noch wichtiger, eben weil es an die Wurzeln geht. Darin liegt – radix! – die eigentliche Radikalität und die entschiedene Sezession.
Ein Einwand hier wird lauten: „Für so was haben wir keine Zeit, wir befinden uns im Ausnahmezustand. Wir müssen handeln, müssen uns wehren, müssen etwas tun!“ Was aber, wenn alles Handeln und Tun blind und im Wesentlichen folgenlos wäre, wenn alle gutgemeinte Aktion sich im Aktionismus erschöpfte, eben weil die Reise zu den Wurzeln unterblieb?
Denn sieht es nicht so aus: Wir konservativen oder rechten Widerständigen der westlichen Welt stehen nicht nur in der Wahl ihrer Mittel skrupellosen, bürokratisch gestützten und technologisch hochgerüsteten Machthabern gegenüber, sondern auch einem durch religiös verwurzelte Todesverachtung geprägten Terroristentypus vom Schlage der alten Assassinen. Diese haben ihren „Alten vom Berge“, jenen in Brüssel und Berlin ihren Moloch (im ursprünglichen Wortsinn). Was haben wir dem entgegenzusetzen? Der eine oder andere hier ist christlich-jüdisch oder auf andere Art traditionalistisch geprägt, wieder andere suchen die Rückbindung an die Wanen und Asen, ein weiterer rechter Typus ist technokratisch-nihilistisch allein an Machtfragen interessiert – ohne einigendes geistiges Band, erst recht ohne im Leben verorteten Bund. Also jeder für sich, Gott für uns alle?
Eine der für mich zentralen Stellen in Jüngers „Godenholm“ ist die Vision, die Einar hat, während draußen die wilde Jagd vorüberzieht:
„Das Echte lag für ihn im Anfang, in grauen Vergangenheiten (…) Das Schicksal des Reiches hatte ihn in der Tiefe getroffen – wie viele der Jungen hielt er den Untergang für schon verkündet; ein kurzer Aufschub trennte noch vom Vollzug. Die Niederlage empfand er als eine Wunde, die sich nicht schließen will. (…) Er trauerte wie ein Krieger, dessen Stamm vernichtet worden ist, und dessen Gräber der Feind beschmutzt. Erst hier, im phantasmagorischen Lande, hatte er sich erholt. (…) Die Heimat des Lebens ahnte er in den größeren Kreisen, und daher fühlte er den Anhauch des Todes nicht gegen die Person gerichtet (…). Nun hatte Ulma ihn an der Hand gefasst Sie führte ihn einen Berg hinan. Er sah die Sterne, die über der flachen Kuppe leuchteten. (…) Bald standen sie auf dem Gipfel, der einem Helmdach glich. (…) Der Hügel war jetzt deutlich, ja glänzte aus dem Inneren herauf. (…) Einar erkannte, daß er auf einem der großen Gräber stand (…). Er kannte diese großen Ringwälle. Das Volk schrieb sie den Hünen zu. Sie mußten sowohl als Heiligtümer und Ahnengräber wie als Volksburgen errichtet worden sein, längst vor der bekannten Zeit. Immer noch woben Sagen von Schätzen, von Toten und alten Heerfürsten um ihren Ort. Doch waren namenlos geworden, deren Waffen aus Bronce, deren Schmuck aus Gold und Bernstein man in der Tiefe fand. Sie stiegen den Wallgraben hinunter, der sich noch immer, wie in der Vorzeit, scharf aus der Feldmark abzeichnete. Der Grund war dunkel; hier fühlte Einar sich berührt.“
Ich kenne dieses Gefühl genau, das sich einstellen kann, wenn man etwa ein selbst gefundenes Flint- oder Bronzebeil in Händen hält – die Gegenwart ist plötzlich sehr fern, das sehr Alte hingegen sehr nah. Es ist ein gutes Gefühl, das einem Kraft gibt. Es muss auch nicht immer das ganz Alte sein. An Nebeltagen oder wenn es stürmt, halte ich mich gern in einer nahe gelegenen Fliehburg aus dem 5. nachchristlichen Jahrhundert auf. Es handelt sich um eine der größten ihrer Art im nordwestdeutschen Raum. Mehrere Wälle umgeben den eigentlichen kreisrunden inneren Burgwall. Die Erdwälle sind zwar durch die Jahrhunderte währende Erosion abgetragen, an manchen Stellen jedoch immer noch ihre gut sechs Meter hoch. Vormalig waren sie durch Palisaden gekrönt. In der Mitte des inneren Walls soll ein Turm gestanden haben, dessen Steine in späteren Zeiten für den Bau der nahen Dorfkirche genutzt wurden (auch ein Zeichen von Dekadenz, oder?).
Ich schätze die Einsamkeit dieses Ortes und versetze mich dann gern geistig in jene Zeiten der elementaren Unsicherheit zurück. Solche Fliehburgen waren nicht dauerhaft bewohnt, sondern wurden von den Bewohnern der im Umkreis von vielleicht 10 Kilometern liegenden Höfe genutzt, wenn marodierende, brandschatzende und plündernde fremde Horden das Land unsicher machten. Die äußeren eingefriedeten Bezirke der Wallburg nahmen das Vieh auf, die innere Burg die Menschen. Am Rande des Walls entspringt ein kleiner Bach. Fast überkommt mich ein wenig Neid, wenn ich an jene gewisse nicht ungefährlichen und entbehrungsreichen Zeiten ohne warme Dusche und Zentralheizung denke, in denen aber ein einfacher Erdwall Sicherheit geben konnte – mochte der Feind auch im Land stehen, die Burg blieb eine letzte Sicherheit. Doch auch die Höfe selbst waren durchaus wehrhaft. Ich meine, es war Hermann Löns, der das undurchdringliche System aus Schlehdorn und anderem Strauchwerk beschrieb, das einsame westfälische und niedersächsische Gehöfte umgab und zu kleinen Festungen machte. Da kann kein alarmanlagengesichertes Eigenheim mithalten.
Die Kernfrage heute lautet eigentlich: Was sind unsere Burgen, wo sind unsere Mauern, unsere Dornenhecken? An Grenzen oder Bauwerke brauchen wir gar nicht erst zu denken – jeder Mensch, gleich wo er sich aufhält, kann heute jederzeit getötet werden. Der heute möglich gewordene tödliche Zugriff aus der Ferne macht jede klassische Form der Abwehr sinnlos. Unsere Burgen werden wohl eher geistiger Natur sein müssen, ein wenig wie Luthers „Ein feste Burg ist unser Gott“. Aber vielleicht doch ganz anders.
Rheinländer
Neben "Vertrauen: Verlust und Gewinn" m.E. der derzeit beste Beitrag von Lutz Meyer auf SiN.
Die "Reise zu den Wurzeln" halte ich sogar für wichtiger als das rein faktische Aufklären unserer Mitbürger über die derzeitig katastrophalen Mißstände.
Denn ohne eine innere Resonanz zum Eigenen verpuffen solche Aufweckversuche früher oder später.
Ich sehe hier sogar eine wechselseitige Dynamik vonnöten, vergleichbar mit kommunizierenden Röhren:
Je mehr Fremde ins Land gelassen werden, je häufiger Politiker Forderungen gegen das Eigene und zu Gunsten des Fremden aufstellen - desto mehr müssen wir uns auf diese Wurzelarbeit einlassen.
Ich stelle mir das so vor, daß wir damit - metaphorisch gesprochen - Kraftinseln aufbauen, die alleine durch das Vorhandensein wirken.
Dies mag für Manchen esoterisch anmuten, aber wer einmal Menschen begegnet ist, die tief von einer Sache überzeugt waren, dies lebten und ausstrahlten - wird nicht leugnen können, welch anziehende Wirkung das hat.
Ich werde die kommenden Rauhnächte jedenfalls für ausgedehnte Wanderungen im Siebengebirge nutzen und diesen Fragen in Ruhe nachspüren.