Vielliebende? Wir kennen den Begriff der Polygamie, der Mehrehe, und uns fallen normalerweise ein: Der orthodoxe Islam. Die Mormonen. Rainer Langhans. Gemäß Volksmund praktizieren diese unterschiedlichen Gruppen und Menschen eine Art Haremsbildung, also: Polygynie. Die Vielweiberei verknüpft der gemeine Betrachter mit einem sexualphantastischen Paradies. Indes trifft dies auf die genannten Polygynisten zumindest vordergründig nicht zu.
Verkürzt gesagt: Im Islam werden ökonomische Gründe und solche der Witwenversorgung angeführt, bei den Heiligen der Letzten Tage ging es um die »besondere Situation des Neuaufbaus der Kirche« (nur mormonische Kleinstgruppen erlauben heute noch Polygynie), bei Langhans und seinem komplett fruchtlosen fünfköpfigen Harem geht es um (verkehrsbefreite) Spiritualität, Selbstfindung und viel, viel Gerede, Motto: »Nicht ein Mann hat fünf Frauen, sondern fünf Frauen haben einen Mann.«
Unter Säugetieren ist Polyandrie im Gegensatz zur Polygynie rar verbreitet. In menschlichen Gesellschaften, auch in der historischen und globalen Überschau, noch seltener. Im Fall der Vielmännerei ist das Reproduktionspotential der Verbindung auf die Kapazität der Frau beschränkt und somit, pro Person gerechnet, stark begrenzt – in vorzivilisatorischen Gesellschaften und in der Tierwelt ein klarer evolutionärer Nachteil.
Bleiben wir bei den menschlichen Zeitgenossen unseres Kulturkreises. Die lebenslange Einehe hat ihre Zeit schon lange hinter sich, selbst in konservativen Kreisen. Soziologen sprechen von »serieller Monogamie« als dem Normalfall: Ungeachtet des zivilen Standes hat fast jeder im Laufe seines Lebens mehrere sexuelle Beziehungen, die meist für ihre jeweilige Dauer Treue und Exklusivität beanspruchen.
Heimliche Seitensprünge mag es seit Menschheitsgedenken geben. Sie bargen früher ein vergleichsweise hohes Risiko: das der Schande, die auf’s Ertapptwerden folgte, das der Gefahr, gattenlos (und damit ohne gesicherte Versorgung) Mutter zu werden, und jenseits der praktisch-weltlichen Konsequenzen den definitiven Nachteil der ewigen Verdammnis.
All diese Aspekte, sowohl der gesellschaftlich-moralische als auch der versorgungstechnische und der himmlische oder höllische, sind seit Jahrzehnten ausgehebelt – letzterer zumindest, was das irdische Geschick betrifft.
Einen Grundstein zur neuen sexuellen Offenheit hatten die von der Rockefeller-Stiftung finanzierten »Kinsey-Berichte« des amerikanischen Sexualforschers Alfred Charles Kinsey gelegt. Sie waren 1954/55 in den USA erschienen und schwappten mit Verzögerung nach Europa.
Kinsey berichtete darin über ausschweifende, auch homoerotische und päderastische Sexualphantasien und ‑pratiken »ganz normaler« Bürger. Die Diskussion, ob eine lebenslange, monogame Ehe ein anstrebenswerter Normalfall sei, nahm hier ihren Lauf.
Um 1968 wurde der bis heute geläufige Spontispruch »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment« populär, eine winzige Minderheit nahm ihn sich zu Herzen. Wie sehr die Praxis dieser halbwitzig, halb provokant gemeinten Parole damals sogar dem inner circle als Selbstüberwindung galt, bekannnten später prominente 68er-Frauen wie Elsemarie Maletzke:
Zum Establishment wollte ja schon mal keine gehören. Und so hat man sich – manchmal gegen eine innere Stimme – auf schnell wechselnde Beziehungen eingelassen. Es war wichtig, die Eifersucht zu überwinden, das kleinbürgerliche Klammern, das reaktionäre Besitzdenken. Wenn das geschafft war, fühlte sich die Frau recht stolz.
Die Gretchenfragen stellte sich nicht nur Rudi Dutschkes Frau Gretchen: »Ich war nicht prinzipiell dagegen, hatte aber schon ein Problem bei der Vorstellung, mit allen Männern schlafen zu müssen. Noch schwieriger fand ich die Vorstellung, was man mit den Leuten machen sollte, mit denen überhaupt niemand schlafen wollte.« Gefolgt wurde nicht der »inneren Stimme«, sondern (eben nicht seit Menschheitsgedenken, sondern erst in jüngster Zeit üblich) der umgebenden Peergroup.
Einem breiteren Publikum zur Disposition gestellt wurde die sexuelle Bindung an den exklusiven einen Geliebten, die eine Geliebte im Gefolge der 68er-Kulturrevolution. 1972 veröffentlichte das US-amerikanische Ehepaar Nena und George O’Neill den Ratgeber Open Marriage, der als Die offene Ehe auch in Deutschland ein Verkaufsschlager wurde. Die O’Neills ermutigten, »Fremdgehen« zuzulassen, weil dies ein Vertrauensvorsprung sei, der eine Ehe nur stärke.
In der öffentlichen Diskussion wurden vorherige Skrupel nun ins moralische Gegenteil gewendet: Bin ich, weil ich exklusive Treue fordere, ein Besitzdenker? Handle ich gegen die Natur? Ist womöglich nur »freie Liebe« wahre Liebe? Ist es vielleicht nicht wahre Treue, nämlich »Treue zu sich selbst«, seine erotischen Impulse nicht nur »zuzulassen«, sondern ihnen nachzugeben?
Polyamorie nun ist nicht deckungsgleich mit dem heute altbacken anmutenden Begriff der »offenen Ehe«. Versprach letztere gleichsam, aus der Not (der Sehnsucht nach Auffrischung der Libido durch gelegentliche Amouren) eine Tugend zu machen, hat der polyamant Umtriebige nicht das sexuelle »Nebengleis« als Frischzellenkur im Sinn, sondern ist qua Definition an vielfachen, »inklusiven«, längerfristigen, »emotionalen Beziehungen« interessiert.
Gelebte Polyamorie bedeutet also neben vielfältigen pragmatischen Vorkehrungen (Schutz vor unerwünschten Krankheiten und Schwangerschaften, Terminkalenderplanung) vor allem »Beziehungsarbeit«.
Unter Polyamoren muß viel geredet, geklärt und verbindlich geregelt werden: mit dem aktuellen Hauptgegenüber, mit Dritten und sich selbst (»sexuelle Selbstfindung«), so daß viele Polyamore eingestehen, ihre Erwerbstätigkeit zugunsten des Feilung ihres Liebesprofils zurückgesteckt zu haben.
Dies hingegen, das Hintanstellen der Produktivität und die Verrückung des genitalen Lebens in den Vordergrund des Lebensvollzugs, ist keine Nebenwirkung, sondern wurde von den marxistischen Vordenkern der neuen Sexualökonomie bereits kernhaft mitbedacht. Einer der wichtigsten Väter der befreiten Sexualmoral ist Wilhelm Reich (1897–1957), der in der Zwischenkriegszeit mit Titeln wie Die Funktion des Orgasmus (1927) und Die Sexualität im Kulturkampf (1930) von sich reden machte.
Reichs Werke waren sowohl von Nationalsozialisten (als kulturschädlich) als auch von den Kommunisten (als konterrevolutionär) geächtet. Von der 68er-Bewegung wurden sie im Rahmen der Sex-Pol-Arbeit wiederbelebt. Sie dienten dazu, jegliche Familienpolitik als »repressiv« zu brandmarken.
Nach Reich unterdrücke die staatliche Unterstützung der monogamen Mann-Frau-Beziehung erstens die sexuellen Bedürfnisse und mache damit krank. Zweitens entstünde durch Einehe und Kleinfamilie ein autoritärer Charakter, der sich willig den Zwängen der kapitalistischen Gesellschaft unterwerfe.
Hoffnung schöpfte Reich durch die zunehmende (heute freilich zur Ununterscheidbarkeit vollzogene) Vermischung des Proletariats mit dem Kleinbürgertum. Da der Druck der kulturellen Ansprüche auf das Proletariat niedriger sei als in den »besitzenden Klassen«, träten (Sexual-)Neurosen seltener hervor, zudem sei die Genitalität umso ungebundener, desto schlechter die materiellen Lebensbedingungen sind.
Der Proletarier produziere aus seiner Klassenlage heraus sexuelle Vorstellungen und Lebensweisen, die für die Klasseninteressen der Bürger tödlich, für die von Reich anvisierte Gesellschaft aber wünschenswert waren. Erst wenn den bindungsfreien Sexualinteressen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen freien Lauf gegeben werde, sei eine Befreiung von den (als versklavend empfundenen) Interessen der Wirtschaft möglich.
Den lebendigen und seinerzeit fast unausbleiblichen Folgen des polyamoren sexuellen Handelns stand Reich freilich skeptisch gegenüber: Kinderreichtum empfand er als pathologischen Ersatz für ausgebliebene Sexualbefriedigung, die Rede vom »trauten Heim« als Rückzugspunkt brandmarkte er als »sentimentales Gerede«.
Max Horkheimer (1895–1973) als Begründer und Vertreter der Frankfurter Schule und der kritischen Theorie sekundierte Reich in seinem Aufsatz zu Autorität und Familie: Die monogame Kleinfamilie beschränke die Sinnlichkeit der Menschen, und die familiär statt kollektiv erzogenen Kinder erlernten das »Lustverbot«.
Die heutigen, durchaus zahlreich verbreiteten Werbeschriften für polyamore Liebesformen klammern die Früchte der Polyamoristen keineswegs aus. Es soll nicht so wirken, als sei die sexuell-emotionale Viellieberei ein Betätigungsfeld für kinderlose Pärchen, die allein in eigener Verantwortung und somit egoistisch handeln.
Im Gegenteil, die stets anonym bleibenden Vorzeige-»Polys« haben oft Nachwuchs, denen von Kindesbeinen an das »Konzept Eifersucht« als unlogisch antrainiert wird: Stattdessen herrscht »Mitfreude« beim Papa, wenn Mama ganz offen einen anderen küßt.
Ins öffentliche Bewußtsein getreten ist diese Liebeskonstellation um das Jahr 2012 herum, als der damalige politische Geschäftsführer der Piratenpartei, Johannes Ponader, sich publikumswirksam als »polyamor« bekannte. Das wirkte vielleicht auch deshalb interessant, weil der vegane Ponader nicht nur Arbeitslosengeldbezieher war, sondern mit Sandalen, Halbglatze und »Good-Night-White-Pride«-T-Shirt auftrat, also (in Absehung der inneren Werte) als Mensch mit offenkundiger Verliererattitüde.
Das Publikum wurde neugierig: Es mußte wohl etwas dran sein an einer polyamanten Einstellung, wenn ein nach allgemeinem Dafürhalten eher unattraktiver Mensch in gleich mehreren Liebeshäfen ankern kann.
Seit einigen Jahren jedenfalls ist Polyamorie in aller Munde. Bücher mit Titeln wie Wenn man mehr als einen liebt, Treue ist auch keine Lösung, Polyamorie und philosophische Praxis, 111 Gründe offen zu lieben verkaufen sich blendend. Nicht nur die taz fragt: »Warum sind wir nicht ehrlich und leben in offenen Beziehungen oder polyamor?«; nahezu sämtliche Zeitungen und Magazine hatten ihre (selten kritischen) Reportagereihen, Erfahrungsberichte und Interview zum neuen way of love.
Wer wissen will, ob Polyamorie für ihn/sie in Betracht kommt, kann beispielsweise im einschlägigen Fachblatt fit for fun nachschlagen. Demnach müssen vier »wichtige Philosophien« beherzigt werden: Selbsterkenntnis, Gleichwertigkeit, Toleranz und Kommunikative Intelligenz.
Das ist alles in allem nicht wenig an Voraussetzung, erklärt aber nicht den Grund, in Mehrzahl zu lieben. Im Tierreich wird monogam gevögelt (90 Prozent der Vogelarten leben monogam), unter Primaten lebt hingegen nur etwa ein Viertel monogam.
Zweck der Polygynie ist die möglichst breite Streuung des Erbguts, Zweck der Monogamie ist es, die Aufzucht fremden Erbguts zu verhindern. Polygame Affen haben die Neigung, fremden Nachwuchs zu töten. Laut Friedrich Engels machte erst das Aufkommen des Privateigentums den Menschen zum monogamen Tier.
Die Frage wäre: Entwickelt sich der »vielliebende« Mensch zurück zum Affen? Oder streift er nur hinderliche, widernatürliche, zivilisatorische Bande ab? Da wir, demographisch gesehen, definitiv in einer absoluten Krisenzeit leben, könnte damit ein anything goes zur evolutionären Avantgarde erklärt werden.
In diese Richtung gehen die Vorstellungen der freisinnigen Milla von Prosch, die 1918 in einem kurzweiligen Briefwechsel mit Hans Blüher (Sezession 15 / 2006) zu bedenken gibt, daß durch »allzu große Ordnung und Gesetzeszwang Durchschnitt und Masse herangezüchtet werde. (…) Die Tatsache, daß in einzelnen Ehen ein bedeutender Mensch und eine Reihe unbedeutender geboren werden, spricht gegen die Dauerehe bei komplizierten Naturen.« Aber ein solcher Trend entwickelte sich nicht: Eher gibt es unter Polyamoren Mütter mit zahlreichen »sozialen Vätern«.
In besonderem Maße hat sich Die Zeit seit Jahren des polyamoren Trends angenommen. Im Mai 2015 – die Leserkommentatoren stöhnten: »schon wieder« – brachte sie den ausführlichen Erfahrungsbericht einer (logisch: anonymen) besonders polyamoren Frau:
Nach der Geburt unseres zweiten Kindes waren wir mal auf einer Party, fingen gemeinsam an einen fremden Mann zu massieren, und nach wenigen Minuten fand ich mich auf einem Podest wieder, wo ich quasi im Rampenlicht genommen wurde. A. hatte dazu keine Lust und massierte jemand anderen. Später gingen wir lachend gemeinsam zurück zu unseren schlafenden Kindern.
Die Onlinekommentare zu diesem »lustvollen« Bericht produzierten eine solche Zahl mißmutiger und spöttelnder Leserzuschriften, daß sich die Verantwortlichen zu einer Fußnote mit der vielsagenden Überschrift »Redaktioneller Bildungsauftrag zum Thema Sex und Liebe« genötigt sah:
Wir sehen sehr wohl, daß die Artikel dieser Serie zum Teil kontroverse Reaktionen hervorrufen und wir es hier offenbar mit einem Thema von gesellschaftlicher Relevanz zu tun haben (…). Hier geben Leser preis, wie sie selbst in den von ihnen praktizierten Beziehungsmodellen damit umgehen. Sie zeigen Möglichkeiten jenseits konventioneller Erwartungen an eine Beziehung auf und setzen damit Impulse für eine hochinteressante Debatte.
Die »hochinteressante Debatte« ist kein Minderheitenthema, sondern gleicht einem überflüssigen Klecks, der mit Wasserfarben auf ein Papier getupft wurde. Er franst aus, kriecht in diese und jene Richtung, so daß bis zur Trocknung das ganze Blatt gewellt ist. Einer durch-und-durch aufgeklärten, rationalisierten, religiös befreiten Gesellschaft müssen polyamore Lebensformen als Gebot der Stunde erscheinen, nicht nur bei besonders freizügigen oder hedonistischen Zeitgenossen.
Die kluge Publizistin Antje Schmelcher (Feindbild Mutterglück, 2014) hat sich in einer hübschen Polemik mit dem aktuellen »männerrechtlichen« Bestseller Geht alles gar nicht von Heinrich Wefing und Marc Brost auseinandergesetzt: In den kleinen Familien von Brost/Wefing würden nicht nur Arbeitszeiten und Haushalt verhandelt, sondern auch das absolut Private: Liebe und Sex.
Schmelcher zitiert die traurigen Autoren: »Denn als wäre das Schweigen nicht schon schlimm genug, fällt häufig irgendwann auch noch der Sex weg. Erst manchmal, dann häufiger, schließlich ganz.«
Für diese Notlage gibt es laut Schmelcher zwei Lösungen:
Eine, die rechtskonservative, hat Houellebecq schelmenhaft ausführlich vorgestellt: eine gemäßigte islamische Diktatur, die die Frauen aus der Erwerbsarbeit zieht, die Polygamie für Männer einführt und die Sozialausgaben hochfährt. Folge für die Männer: mehr Sex, kein Haushalt. Oder eben eine linke Diktatur wie bei Huxley. Die Kinder werden kollektiviert, feste Partnerschaften verboten. Folge für alle: mehr Sex, wenig Haushalt. Das jedenfalls ist die geschlechtergerechte Variante. Die Häwelmänner [Schmelcher spielt auf Fontanes überdrehten kleinen Häwelmann ein, der stets »Mehr! Mehr« fordert] scheinen mit der ersten Lösung zu liebäugeln, denn sie zitieren eine Studie, nach der die Sexquote um ein Drittel sinke, wenn die Männer auch bügelten und staubsaugten.
Darf man angesichts solcher Gemengelage ein bißchen rumalbern? Wieso nicht? Und wieso eigentlich: albern?
Man denke an Dutzende Szenarien aus eben jenem Bereich, der früher unter »Familienpolitik« subsumiert wurde, längst aber in ein Manegenband mit der Aufschrift Beziehungen-Reproduktion-Sex-Gender zusammengefaßt wurde: Wer vor relativ kurzer Zeit (nehmen wir 30 Jahre als überschaubare Spanne) als Politiker, Mediziner oder Medienmensch sich ernsthaft öffentlich und affirmativ mit Adoptionswünschen schwuler Paare, mit der Legalisierung von Geschwister»liebe«, mit vorpubertären Hormongaben zur Verhinderung einer »falschen Pubertät« von Fußballmädchen und Puppenvätern (also potentiellen Trans-Menschen) auseinandergesetzt hätte – er hätte sich vollends ins Abseits gestellt.
Heute hingegen wird eine Talkshowteilnehmerin, die homosexuelle Elternschaft für »ungünstig« hält, als »Hexe« gebrandmarkt. Massenmedien wie Neon oder FAZ berichten verständnisvoll über Männer, die mit Hunden kopulieren, die Bundesregierung spendiert eine Anti-Aids-Werbung, die Promiskuität als Norm darstellt – und eine Zwanzigjährige, die unberührt in die Ehe gehen will, fällt heute unter die Überschrift »Bizarres«.
lso, albern wir in aller Vernunft und mutmaßen wir (für die nähere Zukunft) eine Synthese aus den beiden Lösungen, die Antje Schmelcher aufgeführt hat: Feste, über Jahrzehnte dauernde Paarbeziehungen werden nicht verboten, aber unüblich. Sie gelten bei unter Fünfzigjährigen als vorgestrig, da der Nutzen nicht klar ist. Sie sind unbelehrbaren Romantikern und Religiösen vorbehalten. Staatlich geschätzt oder geschützt werden sie nicht.
Heute bereits existierende Studien, wonach Kinder, die in polyamoren Beziehungen aufwachsen, bessere »Startbedingungen« (durch die Mehrzahl an »Bezugspartnern«) haben, werden in dieser Zukunft durch zahlreiche Folgestudien erhärtet. Die heute bereits in Kanada gültige Option, mehrere Eltern für ein Kind einzutragen, wird auf Europa ausgeweitet. Es gibt ein Literaturgenre, genannt »Jealousy-Books«, das vom Großfeuilleton als Kitschkunst abgetan wird (»abgeschmackte Eifersuchtslektüre aus der alten Welt«), aber abseits der Verlagshäuser allen Toptiteln den Rang abläuft.
Gegen den televisionären Contest »Der krasseste Sex« gibt es hier und da Protest, vor allem von feministisch-konservativer und religiöser Seite – aber 48 Prozent der EU-Bürger sind live zugeschaltet. Kinder werden kollektiviert, sowohl in der mehrheitlich weißen Gruppe (dort herrschen Staatsprogramm und progressive Pädagogik), als auch in den religiösen Gruppen (dort gilt das glaubensmäßig vorgegebene Programm).
Die Zugehörigkeit der Kinder erfolgt bei den weißen, nicht religiös gebundenen Gruppen strikt matrilinear, also gemäß uteriner Deszendenz. Die Frage nach der väterlichen Abstammung gilt als indezent und urgroßväterlich. Männliche homosexuelle Väter unterliegen gesonderten Regeln. Vater Staat steht in jedem Fall bei Versorgungsfragen gerade. Die Frauenerwerbsquote geht gegen 100 Prozent, der Steuersatz ist beträchtlich.
Eine Spottfrage lautet: »Ja, willst du deine Kinder am Ende noch im eigenen Haus großziehen?« Mit Arbeits- und Beziehungsterminen ist man weißgott ausgebucht. Und wer mäht den Rasen? Besorgt Müll, Abwasch, Fensterreinigung, Wäsche? Leute aus anderer Herren Länder. Und deren Kinder? Notdürftig kollektiviert. Und deren Haushalt? Leute aus wieder anderer Herren Länder – dort, wo der UN-weite Mindestlohn noch nicht gegriffen hat. Setzen. Liegen. Zersetzen. Ist es das?