Der Irrtum ist gleich ein mehrfacher. Die Geopolitik ist nicht zurückgekehrt, sie war nie weg. Auch »der Westen« hat sie in all den Jahren seit dem Ende des Kalten Krieges betrieben. »Institutionen, Verträge und Werte« sind Mittel zum Zweck der Staatenpolitik, nicht Selbstzweck.
Mag sein, daß der ein oder andere Vasall das noch nicht gemerkt hat: die transatlantische Vormacht hatte und hat bei der Verfolgung ihrer geostrategischen Interessen die Geographie immer fest im Blick. Schließlich – dies der dritte Irrtum der wackeren liberalen Kommentatoren – geht es in der Geopolitik nicht primär um Landgewinne und Grenzverschiebungen, sondern um Sicherheit, Vormacht und die Ordnung und Beherrschung von Räumen.
Was die Ukraine betrifft, hat Zbigniew Brzezinski in seinem 1997 erschienen Buch The Grand Chessboard. American Primacy and Its Geostratetic Imperatives die geostrategischen Prämissen der US-Politik festgehalten: »Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Rußland kein eurasisches Reich mehr.«
Amerika müsse den »geopolitischen Pluralismus im postsowjetischen Raum stärken« und damit die Umwandlung Rußlands in ein locker konföderiertes, »dezentralisiertes politisches System auf marktwirtschaftlicher Basis« befördern, in dem »das kreative Potential des russischen Volkes wie der riesigen Bodenschätze des Landes besser zur Entfaltung« käme und das »weniger anfällig für imperialistische Propaganda« wäre. Ein Rußland kurzum, das sich reibungslos in ein US-dominiertes, auf Handel und ökonomische Durchdringung gegründetes Weltsystem einfügen würde.
Auch das ist Imperialismus, ein moderner, weil ökonomischer, wie Carl Schmitt schon 1932 festgehalten hat. Die Regierungs- und Richtungswechsel der Ukraine in den vergangenen zehn Jahren sind Teil dieses größeren geopolitischen Schachspiels. Der 2004 mit US-Hilfe über die »Orangene Revolution« als Präsident installierte Viktor Juschtschenko war ausersehen, die Ukraine in die NATO zu führen. Das scheiterte am törichten Vorpreschen seines grusinischen Pendants Michail Saakaschwili, der, durch eine vergleichbare inszenierte »Rosen-Revolution« ins Amt gebracht, ausersehen war, Gleiches für die Kaukasusrepublik Georgien zu leisten.
Durch die entgegen früheren Zusagen seit Ende der Neunziger betriebene Ostausdehnung der Nato auf die einstigen osteuropäischen Vasallenstaaten der Sowjetunion und die drei baltischen Republiken grenzt der amerikanische Einflußbereich direkt an Weißrußland, die Ukraine und den Kaukasus. Der Beitritt dieser Staaten zur EU 2004 und 2007 verfestigte diesen Einfluß. Wenige Wochen vor der – damit obsolet gewordenen – Entscheidung der NATO-Minister über eine Aufnahme der Ukraine und Georgiens brach Saakaschwili im Vertrauen auf amerikanische Rückendeckung einen Krieg um die separatistischen Regionen Südossetien und Abchasien vom Zaun brach, in dem Rußland mit einem schnellen und massiven Militärschlag seine Einflußsphäre verteidigte.
Der Georgien-Krieg war ein entscheidender Wendepunkt im geopolitischen Spiel auf dem »Großen Schachbrett«. Rußland hatte sich mit dem Anspruch zurückgemeldet, seine politische Existenz als »Reich« fortzusetzen, das einen bestimmten Großraum mit seiner politischen Idee durchdringt und Interventionen raumfremder Mächte grundsätzlich ausschließt und – wenn erforderlich – abwehrt.
Carl Schmitt, der die Begriffe Reich, Großraum und Interventionsverbot vor einem Dreivierteljahrhundert ins Völkerrecht eingeführt wird, bezeichnet ihren Zusammenhang als grundlegend. Wenn US-Präsident Obama Rußland als »Regionalmacht« bezeichnet und ihm damit den Reichs-Charakter auf Augenhöhe mit den USA abspricht, ist das keine Ungeschicklichkeit, sondern eine existentielle Kampfansage.
Seit dem russischen Eingreifen in Südossetien im August 2008 war manifest, daß eine weitere direkte oder indirekte Intervention der USA in der Ukraine nicht ohne russische Gegenreaktion bleiben würde. Der Sturz des Staatspräsidenten Wiktor Janukowytsch im Februar 2014 war das Ergebnis einer Wiederholung der zivilgesellschaftlichen Intervention der USA und ihrer Verbündeten von 2004.
Mit einem Präsidenten Janukowytsch, der die Ukraine als blockfreie »Brücke« zwischen Rußland und dem Westen positionieren wollte, konnte Rußland leben; die Ukraine hätte sich damit nicht aus dem russischen Großraum verabschiedet. Eine finanziell und politisch von Amerika abhängige Ukraine, deren Agrarpotential und Bodenschätze – darunter bedeutende Schiefergasvorkommen – der US-amerikanischen Durchdringung offenstünden, überschritte eine rote Linie.
Rußlands Gegenmaßnahmen, insbesondere die Rückgliederung der Krim, sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Es geht nicht um kleinräumigen Gebietserwerb oder ethnisch motivierte Heimholungspolitik, auch wenn solche Stimmungen bei Bedarf mobilisiert werden, sondern um die Verteidigung geostrategischer Positionen.
Ein NATO-Stützpunkt auf der Krim und der Verlust der Seehoheit im Schwarzen Meer wäre für Rußland, was für die USA eine erfolgreiche sowjetische Raketenstationierung auf Kuba gewesen wäre: Ein Einnisten einer raumfremden Macht im eigenen Vorgarten. Carl Schmitts Großraumkonzept rekurriert auf den ursprünglichen Sinn der vom gleichnamigen US-Präsidenten 1823 verkündeten »Monroe-Doktrin«: Man behält sich vor, fremde Interventionen im eigenen Großraum abzuwehren, und verzichtet auf Interventionen außerhalb desselben.
Großraum im Schmittschen Sinne heißt nicht direktes Staats- oder Herrschaftsgebiet. Das Projekt des russischen Präsidenten Vladimir Putin einer »Eurasischen Union« unter Einschluß der drei ostslawischen Republiken und der zentralasiatischen Vormacht Kasachstan kann als Versuch einer kontinentalen Großraumordnung gelesen werden, die durch Amerikas Griff nach der Ukraine herausgefordert wird. Putins »Eurasien«-Politik greift Schmitts Großraum-Konzept als multipolaren Gegenentwurf zum anglo-amerikanischen Suprematieanspruch auf.
Dieser Anspruch beruht auf einer von Schmitt seit Anfang des 20. Jahrhunderts beobachteten »Umdeutung der Monroelehre aus einem konkreten, geographisch und geschichtlich bestimmten Großraumgedanken in ein allgemeines, universalistisch gedachtes Weltprinzip, das für die ganze Erde gelten soll und »Ubiquität« beansprucht«. Das daraus für die Vormacht abgeleitete Recht zum weltweiten Interventionismus wird dem, der sich dem Vorherrschaftsanspruch entzieht, nicht zugestanden, sondern als verwerflicher »Angriffskrieg« diskriminiert.
Sowohl Brzezinskis Agenda für eine US-Suprematie als auch die neuerdings in Moskau wieder hoch im Kurs stehende »eurasische« Denkschule beziehen sich auf die »Herzland«-Theorie des britischen Geopolitikers Halford Mackinder: »Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das (eurasische) Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.«
In der Frage, wer die Ukraine kontrolliert, geht es daher für die USA um die Behauptung ihrer Suprematie über Europa als Bedingung ihres globalen Vorherrschaftsanspruchs und für Rußland darum, ob es als »Reich« in dem von ihm geprägten Großraum weiterbesteht oder sich als ökonomische Provinz in eine amerikanisch dominierte Weltordnung einfügt. Deshalb, und nicht aus Sowjetnostalgie (derer er sich innenpolitisch gleichwohl pragmatisch zu bedienen weiß), hat Vladimir Putin den Untergang der Sowjetunion einmal als »größte geopolitische Katastrophe« bezeichnet. »Geopolitische«, wohlgemerkt, und nicht etwa innenpolitische, soziale oder ökonomische.