Was ist der Grund für diesen Kampagnen- und Desinformationsjournalismus, der 2008 bei den Olympischen Sommerspielen in Peking einen ersten Tiefpunkt der Ignoranz und Infamie erreicht hatte?
Warum wird einer Handvoll westlich orientierter Dissidenten und Aktionskünstlern wie Ai Weiwei eine Publizität eingeräumt, als seien sie die authentischen Sprecher der Volksmehrheit, obwohl die meisten von ihnen in China weitgehend unbekannt sind? Warum wird ständig der bald zu erwartende Zusammenbruch der Wirtschaft und damit der KP-Herrschaft an die Wand gemalt, hingegen die seit dreieinhalb Jahrzehnten erfolgreiche Umsetzung des bisher umfangreichsten Reformprogramms der Geschichte kaum gewürdigt?
Dabei hat seit 1978 eine halbe Milliarde Menschen die Armut überwunden; das Durchschnittseinkommen der Chinesen, fast eines Fünftels der Weltbevölkerung, hat sich in jenem Zeitraum mehr als verzehnfacht. Warum wird die gewiß erschreckende Smog-Entwicklung in Städten wie Peking stets akribisch registriert, die viel häufigere und viel gefährlichere Luftverschmutzung in Delhi, der Hauptstadt der angeblich größten Demokratie, aber nur ab und an thematisiert?
Um den Grund dieses Kreuzzuges herauszufinden, bedarf es keiner Verschwörungstheorie: Angesichts des wirtschaftlichen und politischen Niedergangs des Westens und seiner Führungsmacht USA ist es die Angst vor dem asiatischen Konkurrenten, der seinen phänomenalen Aufstieg aus eigener Kraft und, horribile dictu, ohne Rückgriff auf die gepriesenen »westlichen Werte« geschafft hat, so daß Chinas System einer »Volksdemokratie« in einigen Teilen der Welt mittlerweile als nachahmenswert gilt.
Wahrscheinlich sind es die auch andernorts nur zu oft geplatzten Wunschträume, die einige westliche Vertreter unterdessen zu mehr Realismus mahnen lassen.
Zu ihnen gehört Frank-Walter Steinmeier. In einem Interview, das er anläßlich der Münchner Sicherheitskonferenz am 30. Januar 2014 der Süddeutschen Zeitung gab, resümierte der Außenminister:
Feinderklärungen wie die ›Achse des Bösen‹ haben uns dem Weltfrieden nicht nähergebracht. Ich befürchte, andere Vereinfachungen, die Geschichte, Tradition und Religion ausblenden, helfen auch nicht weiter. Wir können nicht ignorieren, daß es Regionen auf der Welt gibt, die sich an anderen Prinzipien orientieren als denen der westlichen Demokratie. … In einer Welt, in der sich Kulturen wie China auf vieltausendjährige Traditionen berufen, sind unsere Vorstellungen eben nicht konkurrenzfrei.
Im Zuge der Globalisierung sei der Wettbewerb der Systeme wieder relevant geworden.
Im letzten Punkt irrt Steinmeier: Ein »Wettkampf der Systeme« wie zu Zeiten des Kalten Krieges liegt der Volksrepublik fern. Staats- und Parteichef Xi Jinping wird nicht müde, das Ziel der Pekinger Führung zu propagieren: Es ist der »Traum von der Wiedergeburt der großen chinesischen Nation«. Schließlich war das einstige »Reich der Mitte« über mehr als zwei Jahrtausende hinweg das kulturell und wirtschaftlich mächtigste Land der Welt.
Vor 150 Jahren jedoch begann der Niedergang durch den Zusammenprall mit den europäischen Kolonialmächten, mit Japan und den USA; er endete erst mit dem Sieg der Bauernarmee Mao Tse-tungs und der 1949 von ihm proklamierten Gründung der Volksrepublik. Mit Hilfe eines sinisierten Marxismus, der sich auf altchinesische Vorstellungen von einer harmonischen »Großen Gemeinschaft« (tatung) stützen konnte, versuchte Mao gegen innerparteilichen Widerstand das neue China als eine allumfassende Volkskommune aufzubauen.
Doch das Experiment, das Millionen Menschenleben forderte, scheiterte auf der ganzen Linie, so daß Deng Xiaoping nach Maos Tod (1976) das Steuer herumriß und in der KP einen staatskapitalistischen Kurs durchsetzte. Diese revolutionäre Kehrtwende, die zehn Jahre später aufgrund der ökonomischen Misere auch in sämtlichen Ländern Osteuropas einsetzte, stellt die größte ideologische und politische Revision in der Geschichte des 20. Jahrhunderts dar.
Der 1978 von Deng eingeleitete Prozeß der Entkollektivierung der Landwirtschaft sowie der Rückkehr zum Privateigentum, zunächst im Dienstleistungssektor, später auch in der Industrie, ist ebenfalls ein welthistorisch einmaliger Vorgang: Noch nie zuvor hat sich eine regierende kommunistische Partei, marxistisch gesprochen, zur Trägerin der »Konterrevolution« gemacht.
Indem sie eine »sozialistische Marktwirtschaft« zur Grundlage des »Sozialismus chinesischer Prägung« proklamierte, nahm Chinas KP Abschied von rigider Planwirtschaft, vom Klassenkampf und von der kommunistischen Utopie einer auf Gemeineigentum basierenden Gesellschaft der Gleichen und Freien, in der der genossenschaftliche Reichtum »jedem gemäß seinen Bedürfnissen« zuteil werden soll.
Heute gibt es in der Volksrepublik rund drei Millionen Dollar-Millionäre, von denen viele Mitglieder jener Partei sind, die ihresgleichen wegen des Privateigentums an Produktionsmitteln einst als »Klassenfeinde« verfolgt hatte. Im Jahr 2002 öffnete sich die KP erstmals offiziell auch Privatunternehmern; bereits zwei Jahre später hielten mehr als zwanzig Prozent von ihnen das rote Mitgliedsbuch in Händen.
Da Chinas Kommunisten schon in der Vergangenheit keine besonderen weltrevolutionären Ambitionen hegten, sondern die aus Europa importierte Lehre des Sozialismus gleichsam als Instrument zur Wiederaufrichtung ihrer durch Feudalismus und Imperialismus ins Elend gestürzten Nation betrachteten, hatte Stalin bereits in den 1920er Jahren geargwöhnt, die fernöstlichen Genossen seien »wie Radieschen: außen rot und innen weiß«. Diese Einschätzung hat sich bewahrheitet.
Die 1921 von Mao gegründete KP verfolgt kein marxistisches Projekt mehr, sondern ein ausschließlich nationales. Durch die Wiederbelebung konfuzianischer Werte und den Rückgriff auf traditionelle Vorstellungen einer auf Harmonie und Ausgleich bedachten Gesellschaft versucht sie, an die Glanzzeiten des einstigen »Reichs der Mitte« anzuknüpfen. Pekings Politik, so intelligent und erfolgreich sie nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet ist, taugt daher nicht als Modell für andere Staaten.
Am besten läßt sich das Geschehen in der Volksrepublik als »konservative Revolution« bezeichnen, die ihre Dynamik, damit aber auch ihre Begrenztheit, durch das spezifisch Nationale erfährt. Hierbei handelt es sich um Werte und Verhaltensmuster, die seit Jahrhunderten den gesamten ostasiatischen Raum prägen und zu einem ganz anderen Denken als im Westen geführt haben.
Als entscheidende Wertvorstellungen nennen Sinologen wie der Deutsche Thomas Heberer: Kollektiv- statt Individualbezogenheit; Gruppen- vor Eigeninteresse; hoher Rang persönlicher Beziehungen; Harmoniebedürfnis und Konsens statt Konflikt und Wettbewerb; politisch hierarchische Strukturen mit vertikalen Entscheidungsmustern; paternalistisches, familienorientiertes Verhalten; Erziehung vor Bestrafung; Vorrang von Ethik und Moral vor dem Recht; spezifische Werte der Wirtschaftsgesinnung wie Fleiß, harte Arbeit, Sparsamkeit, Selbstdisziplin, Gehorsam und Ausdauer.
Das im Vergleich zum Westen andere Verständnis vom Wechselverhältnis zwischen Regierung und Volk sowie von der Rolle des Staates hat zu gravierenden Unterschieden in der politischen Kultur geführt, denn die ostasiatischen Vorstellungen von Ordnung, Macht, Autorität und Hierarchie begünstigen eher autoritäre als westlich-demokratische Strukturen.
Daß es angesichts dieser kulturellen Differenzen auch hinsichtlich der Menschenrechte ständig zu Kontroversen zwischen China und dem Westen kommt, ist somit nicht verwunderlich. Die ursprüngliche Vorstellung von Menschenrechten entstammt europäischer Denktradition und soll primär das Individuum vor der Willkür des Staates schützen.
Die so verstandenen Rechte wurden erstmals 1948 durch die »Allgemeine Erklärung der Menschenrechte« von den Vereinten Nationen abgesichert. Damals jedoch existierten weder die Volksrepublik China noch die meisten Staaten der Dritten Welt, die erst viel später die Unabhängigkeit und damit die Voraussetzung für die Realisierung der vielbeschworenen Rechte von ihren westlichen Kolonialherren erlangten.
1966 einigte sich die UNO auf zwei Vertragstexte, mit denen die Menschenrechte entscheidend erweitert, kodifiziert und verpflichtend geregelt werden sollten. Sie traten 1976 in Kraft und sind inzwischen von fast allen Mitgliedsstaaten, auch von China, ratifiziert worden. Während der erste Pakt die politischen und bürgerlichen Individualrechte festlegt, werden im zweiten Vertrag Kollektivrechte in den Bereichen Wirtschaft, Soziales und Kultur verankert – so das Recht auf Arbeit und soziale Sicherheit, auf Gesundheit, den Schutz der Familie und auf Bildung.
Chinas Regierung kann daher für sich in Anspruch nehmen, für ein Volk, das 1949 noch zu achtzig Prozent aus Analphabeten bestand und Hunger litt, die elementaren Menschenrechte erfüllt zu haben, ohne die ein Leben in Würde überhaupt nicht vorstellbar ist. Aus diesen Leistungen bezieht die KP, die die Volksrepublik im Bürgerkrieg gegen die Militärdiktatur Tschiang Kai-sheks erkämpft, sie 1949 gegründet und bis heute zur zweitstärksten Wirtschaftsmacht der Welt entwickelt hat, ihre von der Mehrheit der Bevölkerung bislang unbestrittene Herrschaftslegitimation.
Seit Maos Tod und der Absage an Klassenkampf und ideologische Utopien bündelt die KP als Volkspartei die vielfältigen Interessen und konzentriert sich auf das von allen erstrebte Ziel: die Wiederherstellung der Macht des alten »Reichs der Mitte« und seiner globalen Ausstrahlung.
Der staatsrechtliche Aufbau der Volksrepublik ähnelt jenem der einstigen Ostblockländer; auch das Vokabular hat sich kaum verändert, obwohl die Zielsetzung nichts mehr mit den weltrevolutionären Ideen von Marx, Engels und Lenin zu tun hat. Gemäß der Verfassung ist China ein »sozialistischer Staat unter der demokratischen Diktatur des Volkes, der von der Arbeiterklasse geführt wird und auf dem Bündnis der Arbeiter und Bauern beruht«.
Einzige Regierungspartei ist die KP als »Führerin des chinesischen Volkes«. Ihr höchstes Machtgremium, der Ständige Ausschuß des Politbüros, umfaßt zur Zeit sieben Mitglieder; an der Spitze stehen Staats- und Parteichef Xi Jinping, der auch Oberbefehlshaber der Armee ist, sowie Premierminister Li Keqiang. Einmal jährlich tritt das formal oberste Organ der Staatsmacht, der Nationale Volkskongreß (Parlament), zusammen. Acht »demokratische Parteien« – darunter Vertreter der im Bürgerkrieg besiegten Kuomintang – sind unter Führung der KP in der Politischen Konsultativkonferenz zusammengeschlossen und haben eine beratende Funktion.
Als Exekutive fungiert der Staatsrat (Regierung). Dessen Mitglieder sind gleichzeitig führende Parteikader, denn alle relevanten Entscheidungen werden von der KP getroffen. Die Reformprogramme, mit deren Hilfe Chinas Renaissance erreicht werden soll, haben jedoch nicht engstirnige Ideologen geschrieben, sondern hervorragende, teils im Westen ausgebildete Experten, die bestens mit den Stärken und Schwächen der Volksrepublik und des Auslands vertraut sind.
Diese Technokraten sitzen an den Schaltstellen sowohl im Staatsrat als auch in den nachgeordneten Behörden. Einer ihrer typischen Vertreter ist der jetzt 50jährige Ma Jun; er promovierte an der Georgetown-Universität in Washington, arbeitete sowohl beim Internationalen Währungsfonds (IWF) als auch bei der Weltbank und war fünfzehn Jahre lang Chefökonom der Deutschen Bank in der Volksrepublik. 2014 wurde er von Premierminister Li Keqiang auf den neugeschaffenen Posten eines Chefökonomen der chinesischen Zentralbank berufen.
Pekings Vorgehensweise bei dem gewaltigen Transformationsprozeß hat der deutsch-amerikanische Investor Nicolas Berggruen als vorbildhaft gerühmt: »In den letzten Jahrzehnten hat China gewaltige Erfolge erzielt. Der Grund dafür ist, daß es sich durch fortgesetzte Reformen jeder wechselnden Lage angepaßt hat«.
Das Geheimnis besteht darin, bedeutende Vorhaben nach der Methode Versuch und Irrtum erst im kleinen Rahmen zu erproben, ehe sie landesweit umgesetzt werden. »Nach den Steinen tastend den Fluß überqueren« nannte Deng Xiaoping diese Methode. So ließ er im Zuge seiner Reform- und Öffnungspolitik in Südchina zunächst Sonderwirtschaftszonen einrichten, in denen ausländische Investoren unter Vorzugsbedingungen nach marktwirtschaftlichen Regeln mit chinesischen Arbeitskräften produzieren durften. Als sich das Experiment als überaus erfolgreich erwies, wurde es auf weitere Landesteile übertragen.
Auch Ma Jun wird sich bei seiner Arbeit in der Zentralbank auf eine ähnliche Strategie stützen können: Im September 2013 wurde in Schanghai eine Freihandelszone eingerichtet, um die Liberalisierung der Finanzmärkte zu erproben. Die Landeswährung Renminbi soll dort voll konvertibel sein, und ausländische Firmen, die in der Zone registriert sind, dürfen Firmenanteile in Form von Aktien verkaufen. Schließlich ist es Pekings langfristiges Ziel, den Renminbi zu einer der wichtigsten Weltreservewährungen zu machen, um eines Tages den US-Dollar abzulösen.
Umweltverschmutzung, Korruption, auch in den eigenen Reihen, mangelnde Rechtsstaatlichkeit – die Probleme, vor denen Pekings Führung steht, sind gewaltig. Wie könnte es auch anders sein in einem Land, das innerhalb von nur sechs Jahrzehnten aus einem feudalistischen Mittelalter ins Internet-Zeitalter katapultiert worden ist?
Noch vor drei Jahrzehnten lebten achtzig Prozent der Chinesen auf dem Land. Mittlerweile hat eine rapide Urbanisierung eingesetzt. Gab es im Jahr 2000 in der Volksrepublik 3,7 Millionen Dörfer, so waren es zehn Jahre später nur noch 2,6 Millionen – ein Schwund von 300 Dörfern pro Tag. Daß derartige Prozesse nicht ohne Verwerfungen, menschliche Tragödien und vielfältige Proteste abgehen, ist bedauernswert, aber unvermeidlich.
»Demokratie«, so meinte US-Präsident Abraham Lincoln einmal, »ist die Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk.« Die Paradoxie, die in dieser gern auch in Schulbüchern zitierten Sentenz steckt, hat Niklas Luhmann ans Licht gebracht: »Demokratie heißt, daß das Volk selber herrscht. Und über wen? Über das Volk natürlich.«
Daß die in China praktizierte »Volksdemokratie« nicht westlichen Vorstellungen entspricht, sagt daher nichts darüber aus, ob sie den Interessen des chinesischen Volkes gerecht wird – das aber und nur das kann der Maßstab sein, an dem jene Herrschaftsform gemessen werden sollte.