SEZESSION: Sehr geehrter Herr Dr. Heidegger, die bisherigen Angriffe auf Heidegger, etwa von Victor Farías und Emmanuel Faye, sind nicht zuletzt deshalb ins Leere gelaufen, weil sie mit völlig überzogenen Spekulationen versucht haben, aus Heidegger einen Rassisten und Nazi zu machen. Nun sind die Schwarzen Hefte erschienen, und die meisten Kommentatoren sind sich sicher: Heidegger offenbart sich darin als Antisemit. Hat der neue Angriff mehr Substanz?
Heidegger: Nein. Mein Vater hatte sein ganzes Leben lang enge und engste freundschaftliche Verhältnisse zu Juden. Die Beziehung zu Hannah Arendt ist bekannt. Zu dem Ehepaar Szilasi (einem ungarisch-jüdischen Philosophen und seiner Ehefrau) bestand seit Ende des Ersten Weltkriegs, als Szilasi aus Ungarn nach Freiburg geflohen war, ein enges freundschaftliches Verhältnis, das bis zu deren Tod Bestand hatte.
Ein weiteres Beispiel ist sein Assistent Werner Brock, dem mein Vater gegenüber Eduard Baumgarten den Vorzug gab. Er hat Brock auch noch unterstützt, als dieser ins Exil mußte, was ein Antisemit wohl kaum getan hätte. Brock blieb meinem Vater auch nach dem Krieg freundschaftlich verbunden. Und, um das zu ergänzen, wir Kinder wurden regelmäßig zu den Szilasis in die Ferien geschickt, wir gingen zu einem jüdischen Kinderarzt, und die beste Freundin meiner Mutter war Jüdin.
Kurzum: Die Fakten des Lebens sprechen gegen solch eine anschwärzende Einschätzung!
SEZESSION: Der Wuppertaler Philosoph und Leiter des dortigen Heidegger-Instituts, Peter Trawny, der die drei Bände ediert hat, zeichnete sich bislang durch eine unaufgeregte Heidegger-Interpretation aus. In diesem Sinne sind auch die Nachworte gehalten.
Allerdings spricht er in seinem gerade erschienenen Band Heidegger und der Mythos der jüdischen Weltverschwörung vom »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« bei Heidegger und geht ziemlich scharf mit ihm ins Gericht. Wie stehen Sie zu dieser Einschätzung?
Heidegger: Herr Trawny ist ein von mir sehr geschätzter Herausgeber von Bänden der Gesamtausgabe. In seinem von Ihnen angesprochenen Büchlein vertritt er seine eigene Meinung, was sein gutes Recht ist. Aus den zwölf kurzen Stellen, die zerstreut über rund 600 Seiten stehen und meist einen unmittelbaren zeitgeschichtlichen Bezug haben, einen »seinsgeschichtlichen Antisemitismus« zu begründen, überzeugt mich hingegen nicht. Der Antisemitismus ist kein Baustein im Denken meines Vaters.
Sind dies nicht Zuschreibungen, die damals durchaus üblich waren und die ebenso von jüdischer Seite geteilt wurden, wenn man sich beispielsweise daran erinnert, daß auch Georg Simmel der Überzeugung war, daß die »jüdische Geistesart … im Allgemeinen von der germanischen sehr verschieden« sei?
Speist sich also das Erschrecken über diese Stellen nicht zu einem Gutteil aus Heuchelei und mangelndem Wissen? So wie Francois Fédier, ein Schüler Ihres Vaters, sagt, daß die »junge Generation« glaube, »schon das Wort Judentum sei ein Schimpfwort«?
Heidegger: Mein Vater war kritisch gegenüber dem Weltjudentum eingestellt, ohne Antisemit zu sein. Diese Unterscheidung ist heute in Folge von Auschwitz kaum mehr zu vermitteln. Wer die dreißiger Jahre bewußt miterlebt hat, wird diese Unterscheidung verstehen.
Heidegger: Nein, diese Forderung ist überzogen. Die Stellen sind innerhalb des Textes eher Randbemerkungen und haben keinerlei zentrale Stellung. Man kann diese Bemerkungen im Kampf gegen Heidegger gut als Munition verwenden, das ist alles. Der entscheidende Punkt aber ist: Heideggers Kritik am Judentum wird heute nicht mehr verstanden. Ich sehe eine wichtige Aufgabe darin, dies dem heutigen Leser verständlich zu machen.
Die öffentliche Wahrnehmung stellt von den bisher erschienenen etwa 1 200 Seiten zusammengerechnet zwei Seiten in den Vordergrund. Sie übersieht, daß die Schwarzen Hefte auch eine scharfe Beurteilung des Amerikanismus, des Bolschewismus, des Christentums und nicht zuletzt des Nationalsozialismus enthalten. In diesem Zusammenhang sehe ich auch seine deutliche Kritik am Weltjudentum.
Auch auf das öffentliche Auftreten meines Vaters während der NS-Zeit ist hinzuweisen: Bereits vor seiner Wahl zum Rektor waren die jüdischen Mitglieder der Universität aus ihren Ämtern entfernt. Bereits eine Woche nach Amtsantritt war es ihm gelungen, dies rückgängig zu machen. Der schon genannte Werner Brock konnte an die Universität zurückkehren, Husserl bekam die amtliche Mitteilung, wieder Vorlesungen halten zu dürfen. Auch die Rektoratsrede enthält keinen Antisemitismus.
Diese Tatsachen werden leider nicht oder viel zu wenig zur Kenntnis genommen.
Heidegger: Nach den Richtlinien meines Vaters für die Gesamtausgabe ist die Reihenfolge naheliegend. Die Kenntnis der Vorlesungen (II. Abteilung) ist notwendige Voraussetzung für das Verständnis der sogenannten »Unveröffentlichten Abhandlungen« (III. Abteilung). Die Kenntnis der Abteilungen I bis III ermöglicht erst das Verständnis der Schwarzen Hefte, die von 1931 bis 1970 geschrieben worden sind.
SEZESSION: Manchmal hat man den Eindruck, Heidegger hätte seine helle Freude an den überzogenen Reaktionen und Urteilen der Journalisten und Wissenschaftler, weil sie ja seine Verachtung der Medien unfreiwillig bestätigen. War er sich bewußt, welche Aufmerksamkeit jede seiner Zeilen auch vierzig Jahre nach seinem Tod noch finden würde?
Heidegger: Nach dem Krieg hat er zu mir mehrmals gesagt, wenn er sterbe, hätte ich nichts anderes zu tun, als alles, was handschriftlich von ihm vorliege, zu verschnüren und zu versiegeln und für 100 Jahre gesperrt in ein Archiv zu legen. Die Zeit sei noch nicht reif, ihn zu verstehen. Das war seine eigentliche Vorstellung. Er wollte gar keine Gesamtausgabe.
Der Verleger Klostermann kam dann zu mir und wollte, daß ich meinen Vater von seinem Plan überzeuge. Das ist mir schließlich mit einer Begründung gelungen, die heute vielleicht seltsam klingt, damals (1973) aber verständlich war: Wie sollten seine Schriften erhalten werden, falls es einen atomaren dritten Weltkrieg geben würde? Nach einigen Minuten des Nachdenkens sagte er: »Hermann, aber dann bitte ich dich, daß du das in die Hand nimmst.«
Ich war völlig überrascht, da ich für diese Aufgabe an seine hervorragenden Schüler Gadamer, Biemel und Bröcker dachte und selbst noch drei Bücher schreiben wollte, doch diese Pläne habe ich bald aufgegeben, da ich erkannte, daß die Arbeit für die Gesamtausgabe Martin Heideggers meine ganze Arbeitskraft bis zu meinem Lebensende beanspruchen würde.