ist nach wie vor Gegenstand historischer Diskussionen. Bis 1989 waren es vor allen Dingen Dokumente und Erinnerungen deutscher Herkunft, die Indizien dafür lieferten, daß Stalin seinen Bündnispartner Hitler 1941 angreifen wollte. Mit den Publikationen des exilierten GRU-Offiziers Wladimir Resun alias Viktor Suworow trat die Kontroverse in eine neue Phase.
Suworows Verdienst war, daß er eine große Anzahl frei zugänglicher sowjetischer Quellen präsentiert hatte, die den Topos vom »Überfall auf die friedliche Sowjetunion« in Frage stellten. Weitere Arbeiten deutscher Forscher wie Walter Post, Joachim Hoffmann, Werner Maser oder Stefan Scheil rundeten das Bild von der hochgerüsteten, angriffsbereiten Roten Armee ab, zumal sie sich auf russische Quellenpublikationen stützen konnten, in denen u.a. die sowjetischen Aufmarschanweisungen veröffentlicht worden waren.
Die etablierte Historikerzunft sah sich daher veranlaßt, dem drohenden Verlust ihrer Diskurshoheit mit einigen Veröffentlichungen entgegenzutreten. Ihr Hauptargument: Man habe keinen Befehl Stalins vorlegen können, als hätte es im totalitären Sowjetreich wesentliche politische und militärische Entscheidungen – etwa die Verlegung Dutzender Armeen an die Westgrenze – ohne Zustimmung des Kreml-Diktators geben können.
Den meisten dieser Arbeiten mangelte es zudem an dem nötigen militärischen Wissen, um die Quellen sachgerecht zu deuten. Das ist bei Bernd Schwipper anders.
Der Autor, Generalmajor a.D. der NVA, promoviert an der Militärakademie »Friedrich Engels« in Dresden und ausgebildet an der Akademie des Generalstabes der Sowjetunion in Moskau, hat genaue Einblicke in Aufbau und Funktion militärischer Verbände, spricht perfekt russisch und kennt die Sowjetarmee aus eigenem Erleben.
Er präsentiert mit Hilfe zahlreicher Karten, Tabellen und Dokumente die umfangreichen sowjetischen Maßnahmen und Befehle, die dem größten Truppenaufmarsch der Weltgeschichte vorausgingen.
Die in zehn Kapiteln gegliederte Arbeit befaßt sich u.a. mit der Dislozierung der Roten Armee im Westen, der Entscheidung zur militärischen Offensive, Umstellung der Rüstungsindustrie auf Krieg, den sowjetischen Angriffsplanungen und dem Vorbefehl Stalins vom 11. Juni 1941, der anordnete, »zum 1. Juli 1941 zur Durchführung von Angriffsoperationen bereit zu sein«.
Dieser Befehl, 2004 erstmals vom russischen Historiker Igor Bunitsch veröffentlicht, müsse nach Schwippers Quellenkritik als echt angesehen werden, denn er sei das fehlende Bindeglied, das alle politischen und militärischen Maßnahmen der UdSSR in den Jahren 1939 bis 1941 plausibel mache. Diese hatten nur ein Ziel: die Revolution nach Westeuropa zu tragen.
Bernd Schwipper: Deutschland im Visier Stalins: Der Weg der Roten Armee in den europäischen Krieg und der Aufmarsch der Wehrmacht 1941, Gilching: Druffel & Vowinckel. 2015. 552 S., 24,80 € – hier bestellen!