den Wechsel naturwissenschaftlicher Weltbilder (z.B. die kopernikanische Wende oder die Relativitätstheorie) zu erfassen.
Immer wieder wurde der Begriff in seiner Rezeption darauf zurechtgestutzt, bloß für im engeren Sinne naturwissenschaftliche Revolutionen gültig zu sein, immer wieder aber auch auf soziale Paradigmenwechsel (und gelegentlich vorhergesagte esoterische Zeitenwenden) bezogen.
Politische Revolutionen werden durch ein wachsendes, doch oft auf einen Teil der politischen Gemeinschaft beschränktes Gefühl eingeleitet, daß die existierenden Institutionen aufgehört haben, den Problemen, die eine teilweise von ihnen selbst geschaffene Umwelt stellt, gerecht zu werden. Auseinandersetzungen im Rahmen politischer Revolutionen sprengen den Rahmen der vorher als legitim angesehen Institutionen, finden nicht in ihnen statt; es versagt die eigentliche politische Auseinandersetzung.
(Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a.M. 1967, S. 104f.)
Anzeichen eines solchen Wechsels im kollektiven Weltbild sind für Kuhn “Anomalien” in der Normalwissenschaft (Ordinary science), “Phänomene, auf welche das Paradigma den Forscher nicht vorbereitet hatte”. Hinreichend viele oder gravierende Anomalien führen zu einer “Krise”, in einer “vorparadigmatischen Zeit” kommt es mitunter zu einer Wucherung von Theorieansätzen, um das neue Phänomen irgendwie zu fassen zu bekommen.
Auf das System der Massenmedien oder das politische System übertragen sind diese Anomalien Fälle, in denen die Beschreibungssprache fehltritt. Fehltritte merkt man daran, daß der bisherige Code wegrutscht, die Sender (Politiker, Journalisten, Autoren) etwas äußern, von dem sich die Empfänger nicht gemeint fühlen, übergangen fühlen, ja auch hintergangen und “verarscht” fühlen. So geschehen bei den ersten Berichterstattungen über PEGIDA 2015, dann beim Flüchtlingsansturm im vergangenen Sommer, dann durch das große “Wir schaffen das!”, an dessen Praxis die Empfänger verzweifelten, dann durch Wahlprognosen und Für-dumm-Verkaufen der Wähler, schließlich durch die elitären Reaktionen auf den (im alten Paradigma erhobenen) Lügenvorwurf gegenüber der Presse und der Fernsehsender – die “sozial Abgehängten”, die “Globalisierungsverlierer”, die von “irrationalen Ängsten” Geplagten, der “Basket of deplorables”, die “weißen, arbeitslosen, ungebildeten Rassisten”. Emblematisch dafür ist Joachim Gaucks Aussage, das Problem seien nicht die Eliten, sondern die Bevölkerung.
Ein neues Paradigma formt sich aus dem alten, schnell wird jedoch klar, daß das neue Paradigma und das alte nicht mehr paßgenau sind – sie seien “inkommensurabel”, formulierte Kuhn (und später auch Lyotard, dessen Widerstreit als daran angelehnt gelesen werden kann). Neue Paradigmen böten nämlich neue Fragestellungen, neue Probleme und neue Begifflichkeiten. Die Anhänger eines neuen Paradigmas lebte, so Thomas Kuhn, in einer “anderen Welt”.
Das kommt uns in dieser Zeit sehr, sehr bekannt vor. Vergangene Paradigmenwechsel in den verschiedenen Sozialsystemen lassen erkennen, daß sie nicht im Mindesten ohne Polemik, Haß, Diffamierungen und Widerrufsbelehrungen vonstatten gegangen sind, vom Leben Galileis bis Darwins Evolutionismus zum Wechsel hin zum heute allgegenwärtigen linken Weltbild, das sich nach dem 2. Weltkrieg durchsetzte.
Im alten Paradigma wird behauptet, das emergierende neue sei eine gefährliche Lüge. Das strukturell Problematischste ist die Beharrungstendenz des alten Paradigmas, insofern es “Wahrheit” bei sich selbst verortet und auch die Infragestellung der ganzen Differenz Wahrheit/Lüge unter “Lüge” verbucht.
Das neue Paradigma geht völlig natürlich ebenfalls von einem intakten Wahrheitsbegriff aus. Dieser ist nun nicht einfach die Umkehrung, also so, daß alles im alten Paradigma “Lüge” Genannte nun “Wahrheit” wäre – wir sind ja nicht in Peter Bichsels Kindergeschichte “Ein Tisch ist ein Tisch”. Im neuen Paradigma kann man das alte beim Lügen beobachten, zum Beispiel indem das neue Beobachtungsschema des “Großen Austauschs” als inexistent, wegrelativierbar oder sogar begrüßenswert erscheint.
Die Lügen über die Absichten der politischen Rechten füllen Bände aller Großverlage und Magazine, vom “Haß” über die “Anti-Europäer” bis zum drohenden “Ende der Welt” unter dem “Faschisten” Trump und einem “autoritären Regime nach türkischem Vorbild” unter Hofer ist jeden Tag einiges Interessantes dabei. Es bedarf mühevoller Kleinarbeit, jede dieser Lügen (und ihre Ableger, die logischen Abkürzungen, Insinuationen, Unterstellungen und unbotmäßigen Vergleiche) einzeln herauszupräparieren. Das übrigens ist nur aus der Beobachterposition des neuen Paradigmas möglich, im alten wäre es kognitiv möglich, aber ohne Sinn.
Es geht mir also mit einer Erklärung der Lage als Paradigmenrevolution nicht darum, das Ende der Wahrheit auszurufen, im Gegenteil. Wahrheitsgewißheit kommt einem Zweifler am alten System allerdings ziemlich schnell abhanden, wenn ständig die Rede davon ist, vernünftige Argumente würden jetzt durch Gefühle ersetzt, durch irrationale Ängste und psychologisch verständliche oder pathologische Befindlichkeiten, oder, an die Stelle der vormals sicheren Wahrheit träten “Twitter, Facebook und Blogs”.
Ein altes Weltbild läßt seinen Abgang erkennen, indem es aggressiv Projektion betreibt: Das Eingeständnis der Unfähigkeit, die Welt zu erklären, wird dem neuen Weltbild unterstellt, in der Form, “keine Erklärungen”, “nur Behauptungen”, “Gefühle” zu produzieren.
Niklas Luhmann hat den Strukturwandel der sozialen Systeme in seiner dreibändigen Gesellschaftsstruktur und Semantik (1980–1993) beschrieben, unterschiedlichste Bereiche, von Liebe bis Arbeit, Moral, Identität oder Staat – überall sind in der Moderne konzeptuelle Revolutionen passiert. Im Vorwort zum dritten Band macht er ein paar aufschlußreiche Bemerkungen darüber, daß es für die Zeitgenossen unmöglich sei, einen Strukturwandel zu erkennen,
und erst nachdem er vollzogen und praktisch irreversibel geworden ist, übernimmt die Semantik die Aufgabe, das nun sichtbar Gewordene zu beschreiben.
Luhmanns kulturhistorischer Begriff der “Semantik” heißt: Beobachtung von Bedeutungswandeln zentraler Begriffe einer Kultur (in vielem Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichten oder Blumenbergs Metaphorologie ähnlich). Luhmann benutzt “Semantik” doppelt, als Handlung (Codeverwendung) und als Beobachtung (Unterscheidung eines bestimmten Codes von seiner Umwelt, hier sieht man die blinden Flecke der jeweils historischen Codes).
Wir können noch nicht behaupten, jetzt einen vollzogenen Paradigmenwechsel ex post beobachten zu dürfen. Wir stecken mittendrin, entsprechend befangen ist unser Blick. Doch die Strukturen wiederholen sich, nicht nur Kuhn, auch Luhmann bieten da Denkmuster an, in denen wir auch als Zeitgenossen schon mal einen Blick wagen könnten, auch wenn die Eule der Minerva ihren historisierenden Flug erst bei Nacht beginnt. Wir haben es mit einem mannigfaltigen Bedeutungswandel zu tun, in dem das neue Paradigma sich freistrampelt.
1. Teils leistet die Semantik sich probeweise Innovationen, die noch nicht in das Muster strukturstützender Funktionen eingebaut sind und daher jederzeit wieder aufgegeben werden können.
2. Teils kontiniuert sie längst obsolete Ideen, Begriffe, Worte, und verschleiert damit die Radikalität des Strukturwandels.
3. Teils wechselt sie in Unterscheidungen die Gegenbegriffe aus, und hält den Term, auf den es ihr ankommt, konstant.
4. Teils fusioniert sie eine Mehrheit von Unterscheidungen nur zu einer.
ad 1: TRUMP. BECAUSE: FUCK YOU! THAT’S WHY! Codewechsel laufen mitunter durch Unterlaufen des alten Codes, durch Unterbietung einer Unterscheidung. Sie sind dadurch nicht unterkomplex oder dumme Verarsche, im Gegenteil. Trumps politische Verhaltenslehre „NEVER APOLOGIZE. AGREE AND AMPLIFY. REFRAME.“ ist ein strukturell noch loses Fluidum der Machtkommunikation.
Politische Kommunikation war bisher von habermasschem Ernst grundiert, Rechtfertigungsforderungen waren endemisch, Distanzierungsforderungen und Rücktrittsforderungen hielten den Code „gut/böse“ immer halb im politischen Code „Macht/Ohnmacht“ drin, man konnte nicht mit ihm und nicht ohne ihn. Zuspitzen, Polarisieren und Verstärken galten als dem demokratischen Konsens nicht zuträglich – jetzt wird probeweise mal polarisiert was das Zeug hält. Es kann sein, daß man zurückfahren muß, aber dann ist wenigstens ausgesprochen, was unterhalb der „gläsernen Decke“ rumorte. Dem subjektiven Reframing gehört die politische Zukunft.
ad 2: „Demokratie“ wird besetzt gehalten im alten Paradigma, demzufolge die „Feinde der Demokratie“ auf seiten rechter Parteien und Medien zu finden sind und „Populismus“ nicht etwa der Sinn, sondern das Gegenteil von Demokratie sein soll. „Europa“ wird verteidigt gegen die „Anti-Europäer“ (unter denen der Kulturwissenschaftler Claus Leggewie so disparate Typen wie Breivik, Dugin und militante Islamisten versteht, und die rechte Publizistik gleich mal mit einpackt), „westliche Werte“ werden mit linker Ideologie, globalistischer Ökonomie und Gender Mainstreaming identifiziert.
Dabei passiert diesen Begriffen unter der Hand schon etwas: Das Volk wählt sich ganz demokratisch die Stake holder der alten Semantik ab, europäische Kultur wird gegen die EU gesetzt, und die Diskussion um „Werte“ entstammt genau der Islamisierungs‑, Leitkultur- und pädagogischen Disziplindebatte, die jetzt aus der alten Semantik heraus als „rechtspopulistisch“ verurteilt wird. Natürlich werden bei einem semantischen Umbruch nicht lauter neue Wörter kreiert, sondern genau die alten, hoch aufgeladenen, umfunktioniert.
ad 3: Das passiert mit „Volk“ bzw. People gerade. Die alte Distinktion war „Volk/Bevölkerung“ oder „Volk/Regierung“. Im ersteren Falle wird die Hälfte „Bevölkerung“ als irrelevant gestrichen, denn daß Ländern bevölkert sind, ist eh klar, und daß sie nicht beliebig bevölkert sein sollten, wird normativ durch eine neue Unterscheidung eingeführt: „Volk/andere Völker“ (im semantischen Katastrophenfalle auch „Volk/Invasoren“).
Die „Regierung“ als Ergebnis demokratischer Willensbildung in Form von gewählten „Volksvertretern“ wird abgestraft und kritisch durch den neuen Code „Volk/Elite“ bzw. „Volk/Establishment“ ersetzt. Denn daß die Eliten dem Volk gegenüberstehen und den Kontakt verloren haben, sieht inzwischen sogar Sigmar Gabriel im Weltuntergangs-SPIEGEL ein.
ad 4: Die Differenzen “Fakten/Behauptungen”, “Realität/Internet”, “Wirklichkeit/‘Filterblase’ oder ‘Echokammer’ ” fusionieren zu einer großen moralischen letzten Verteidigung der Wahrheit.
Die schnell hervorgezauberte Idee der “postfaktischen Gesellschaft” – ich erwähnte sie bereits bis zu einem gewissen Überdruß – hilft nicht, den übergriffigen Wahrheitsanspruch abzulösen. Denn das “Postfaktische” ist natürlich kritisch gemeint in dem Sinne, daß da politische Gestalten daherkämen und einfach schamlos lögen und Tatsachen verdrehten und Sprüche brächten und es ihnen keineswegs schadete, obwohl sie das “Faktische” sträflich ignorierten, zum Schaden von Freiheit, Demokratie und Qualitätsjournalismus oder nichtpopulistischer Politik. “Faktenchecks” werden paradoxerweise zu Diffamierungsmetaphern. Daher rührt der etwas seltsam anmutende journalistische Trotz, unbedingt in der Filterblase verharren zu wollen, um in Ruhe weiterdiffamieren zu können.
Eine neue Semantik oder ein neues Paradigma wird nicht nur in den Leitbegriffen vom alten her nicht mehr verstanden, “don’t criticize what you don’t understand, ‘cause the times, they are a‑changin’ ”, sondern auch sprachpragmatisch. Der linke Gesinnungsmainstream geht davon aus, daß Sprache im politischen Feld über den “Dialog” zur Erzeugung von Konsens diene, auf geteilter Vernünftigkeitsbasis stattfinde und Aussagen jederzeit rechtfertigbar und verallgemeinerbar sein müßten sowie den Status von Tatsachenbehauptung hätten.
Diese Sicht geht auf Habermas zurück, die Theorie des kommunikativen Handelns hat auch außerakademisch durchgefettet, sodaß die gesamte Öffentlichkeit auf dieser Grundlage Äußerungen als “rassistische”, “sexistische”, “gewaltverherrlichende” oder “homophobe” Meinungen kategorisiert. Für die USA dürfte hier weniger Habermas als die emigrierte Frankfurter Schule Referenzpunkte für die Critical studies liefern. Die Kampagne gegen mehrere AltRight-Twitterkonten sind nur der letzte Ausdruck dieser Sprachauffassung: Indem man Twitterpostings als verallgemeinerungsfähige Sachaussagen etwa über Frauen, Schwule oder Schwarze auffaßt, will man die Leute zu Rechtfertigung ihres Hateful conduct (dt. etwa “haßerfüllten Verhaltens”), zu öffentlicher Entschuldigung oder vor Gericht zwingen, oder man zensiert sie gleich komplett.
Sprachpragmatisch gesehen kann Sprache aber viel, viel mehr, als nur Sachaussagen auszudrücken. Es wäre wirklich höchst autistisch, verstünde man Trumps “Grab ‘em by the pussy” als rationale Handlungsmaxime für die männliche Bevölkerung zum Übergriff oder Untergriff gegen Frauen. So etwas aber geschieht, wenn man es als “sexistische Parole” versteht. Internet-Memes sind in den seltensten Fällen auf eine “Meinung” zu reduzieren. “Haßpostings” sind im alten Paradigma unpackbar, sprachliche Verrohung pur, weil sie im Code wahr/unwahr gelesen werden (als Aussagen über die soziale Welt, z.B. die geschlechtliche Beschaffenheit von Muslimen) statt als Metaphern.
Bei einem semantischen Umbruch haben es neue Metaphern besonders schwer, werden sie doch als alte Buchstäblichkeiten verstanden und inkriminiert. Twittern ist pragmatisches Metaphernstreuen, Sloterdijk stellte 2013 in seinen kleinen Reflexionen eines nicht mehr Unpolitischen fest, daß Massenmedien “zeichenbasierte Epidemien erzeugen” statt zu “informieren”. Es versagt die eigentliche politische Auseinandersetzung, doch Wahrheit bricht sich anderweitig ihre Bahn: viel ästhetischer, ironischer, gemeinschaftsstiftender, grobschlächtiger, männlicher und auch oft subtiler, als es das frühere Paradigma hergab.
Dieter Rose
das ist natürlich ganz toll:
behaupten etwas sei inexistent,
aber trotzdem begrüßenswert.
die halten uns für doof.