Zur Anthropologie der Geschlechter

PDF der Druckfassung aus Sezession 57 / Dezember 2013

von Siegfried Gerlich

Als der Mensch der Moderne sich seiner transzendentalen Obdachlosigkeit bewußt wurde und seine anthropologischen Forschungen zur philosophischen Frage verdichtete, trat kein selbstgenügsames Wesen, sondern die ungesicherte Existenz des Menschen zutage: Eine conditio humana, die zu bewahren sich lohnte, mußte er selbst erst schaffen. In seiner wegweisenden Spätschrift Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos entwarf Max Scheler das Bild eines »Mängelwesens«, dem aufgrund seines unbestimmten biologischen »Antriebsüberschusses« eine kulturell zu gestaltende »Weltoffenheit« zu eigen sei.

Von Hel­muth Pless­ner natur­phi­lo­so­phisch ent­fal­tet, von Arnold Geh­len natur­wis­sen­schaft­lich gehär­tet, avan­cier­te die­ses dia­lek­ti­sche Men­schen­bild rasch zum Leit­bild der Phi­lo­so­phi­schen Anthro­po­lo­gie. In den spe­zia­li­sier­te­ren Human­wis­sen­schaf­ten hin­ge­gen, die nur peri­pher an anthro­po­lo­gi­sche Grund­pro­ble­me rühr­ten, konn­te es sich nicht durchsetzen.

So zer­brach es gleich­sam in zwei Hälf­ten, die von den Leit­dis­zi­pli­nen Etho­lo­gie und Eth­no­lo­gie — Ver­hal­tens­for­schung und Völ­ker­kun­de — auf­ge­grif­fen wur­den. Deren natu­ra­lis­ti­sche und kul­tu­ra­lis­ti­sche Halb­wahr­hei­ten ver­fes­tig­ten sich über man­che Zwi­schen­stu­fen zu den gan­zen Unwahr­hei­ten der Sozio­bio­lo­gie und des Dekon­struk­ti­vis­mus, denen schon die Rede vom Men­schen selbst mythisch anmutete.

Gegen die anstö­ßi­ge Män­gel­na­tur des Men­schen leg­te bereits Kon­rad Lorenz als Haupt­ver­tre­ter der Etho­lo­gie ener­gisch Pro­test ein, um als Gegen­be­weis des­sen viel­sei­tig ange­paß­te kör­per­li­che Fähig­kei­ten zu prä­sen­tie­ren, die ihn gera­de­zu als »Spe­zia­lis­ten auf das Nicht-Spe­zia­li­siert­sein« aus­wie­sen. Wenn Lorenz die mensch­li­che Son­der­stel­lung unter den Lebe­we­sen auch nicht gänz­lich in Abre­de stell­te, son­dern mit der »Ful­gu­ra­ti­on des Geis­tes« eine »neue Art von Leben« ent­stan­den sah, so droh­te die­ser Geist doch zum Wider­sa­cher der See­le alles Leben­di­gen zu wer­den, indem er einen kör­per­lich domes­ti­zier­ten und kul­tu­rell deka­die­ren­den Zivi­li­sa­ti­ons­men­schen her­vor­brach­te, bei dem nicht ein­mal die tie­ri­sche Tötungs­hem­mung mehr recht grei­fen wollte.

Ech­te Mensch­lich­keit glaub­te Lorenz mit Lud­wig Kla­ges eher in jenen Vital­kräf­ten zu fin­den, die der Mensch mit den Tie­ren teil­te, als in sei­nen welt­of­fe­nen Antriebs­sys­te­men, die alle umwelt­ge­bun­de­nen Instinkt­sche­ma­tis­men kul­tur­schöp­fe­risch durch­bra­chen. Ent­spre­chend schien Lorenz das »moral­ana­lo­ge Ver­hal­ten« der Tie­re den mensch­li­chen Gesel­lig­keits­for­men und Geschlech­ter­nor­men instink­tiv den rech­ten Weg zu wei­sen: Im sozia­len Leben des durch stam­mes­ge­schicht­li­che Anpas­sun­gen zum Klein­grup­pen­we­sen dis­po­nier­ten Men­schen ent­wi­ckel­te sich neben der altru­is­ti­schen Fami­li­en­mo­ral auch eine hier­ar­chi­sche Geschlecht­er­ord­nung her­aus, die den domi­nan­ten Mann zu Groß­wild­jagd und Revier­ver­tei­di­gung und die sub­mis­si­ve Frau zur Klein­kind­be­treu­ung und Haus­halts­füh­rung bestimmte.

In soli­da­ri­scher Kri­tik an Lorenz, des­sen all­ge­mei­ne Etho­lo­gie sich auf bloß »funk­tio­na­le Ana­lo­gien« zwi­schen mensch­li­chem und tie­ri­schem Ver­hal­ten stütz­te und dar­über zu natu­ra­lis­ti­schen Fehl­schlüs­sen gelang­te, forsch­te sein Schü­ler Ire­nä­us Eibl-Eibes­feld stren­ger nach »sub­stan­ti­el­len Homo­lo­gien« mensch­li­cher und tie­ri­scher Ver­hal­tens­mus­ter mit gemein­sa­men evo­lu­tio­nä­ren Ursprün­gen. Sein beson­de­res Inter­es­se am stam­mes­ge­schicht­li­chen Erbe des Men­schen ließ ihn zum Begrün­der der Human­etho­lo­gie wer­den, wel­che der mensch­li­chen Frei­heit die kul­tu­rel­le Bän­di­gung und huma­ne Umge­stal­tung der ani­ma­li­schen Vor­ge­schich­te weit mehr zutrau­te, ohne deren prä­gen­de Macht zu leug­nen oder ihre pro­ble­ma­ti­schen Sei­ten zu unterschätzen.

So stell­te Eibl-Eibes­feld als tiefs­te Wur­zel des mensch­li­chen Sexu­al­ver­hal­tens die von Domi­nanz- und Sub­mis­si­ons­ri­tua­len beherrsch­te Gewalt­se­xua­li­tät der Rep­ti­li­en her­aus, wel­che etwa in patho­lo­gi­schen Per­ver­sio­nen gebie­te­risch wie­der durch­schla­ge. Um so eupho­ri­scher fei­er­te er die indi­vi­dua­li­sier­te Brut­pfle­ge der höhe­ren Säu­ge­tie­re als »Schlüs­sel­er­fin­dung, mit der Freund­lich­keit in die Welt kam«:

Die­ses Säu­ge­rer­be stim­me den Men­schen nicht nur auf die Betreu­ung und Erzie­hung sei­ner Kin­der ein, es befä­hi­ge ihn über­haupt erst zu Lie­be und Zärt­lich­keit und ermög­li­che so auch die Hegung der Sexua­li­tät im Diens­te ehe­li­cher und fami­lia­ler Dau­er­bin­dun­gen, wel­che oben­drein durch die euge­ni­sche Hell­sicht einer natür­li­chen Inzest­scheu geschützt würden.

Auf Sei­ten der Eth­no­lo­gie hielt auch Clau­de Lévi-Strauss, der wich­tigs­te Schü­ler Émi­le Durk­heims und Schöp­fer der »struk­tu­ra­len Anthro­po­lo­gie«, an der kul­tu­rel­len Uni­ver­sa­li­tät des die »ele­men­ta­ren Struk­tu­ren der Ver­wandt­schaft« tra­gen­den Inzest­ta­bus fest. Aller­dings bestritt LéviS­trauss des­sen bio­lo­gi­schen Ursprung und führ­te die sozia­le Funk­ti­on der Hei­rats­re­geln, durch exo­ga­men »Frau­en­tausch« grö­ße­re Grup­pen zu bil­den und neben­her dem Mann eine öko­no­mi­sche und sexu­el­le Vor­rang­stel­lung zu sichern, auf das unbe­wuß­te Wir­ken des mensch­li­chen Geis­tes zurück.

Dem­ge­gen­über such­te Mar­ga­ret Mead, die Meis­ter­schü­le­rin des Eth­no­lo­gen Franz Boas, in ihren Stu­di­en über die Sexua­li­tät in pri­mi­ti­ven Gesell­schaf­ten die kul­tu­rel­le Rela­ti­vi­tät von Geschlechts­cha­rak­te­ren und Sexu­al­nor­men nach­zu­wei­sen. Doch stieß auch sie auf die fun­da­men­ta­len Gege­ben­hei­ten von Schwan­ger­schaft und Geburt, die jede kul­tu­rel­le Sti­li­sie­rung der Geschlech­ter­rol­len berück­sich­ti­gen müs­se, sol­len sozia­le Dys­funk­tio­nen und psy­chi­sche Defor­ma­tio­nen ver­mie­den werden.

Tat­säch­lich erschien Mead die Mut­ter­rol­le weit­ge­hend bio­lo­gisch vor­ge­zeich­net, wäh­rend die Ent­wer­tung der Müt­ter­lich­keit in der moder­nen Gesell­schaft das Resul­tat einer kul­tu­rel­len Umer­zie­hung dar­stel­le, wel­che die Frau ihrer natür­li­chen Bestim­mung ent­frem­de. Gleich­zei­tig hielt sie die patri­ar­cha­li­sche Erzie­hung des Man­nes zum ver­ant­wort­li­chen Ver­sor­ger für eine bewah­rens­wer­te Kul­tur­leis­tung, deren zivi­li­sa­to­risch fort­schrei­ten­den Abbau sie mit Bedau­ern feststellte.

Meads eth­no­lo­gi­sche Annä­he­rung an etho­lo­gi­sche Auf­fas­sun­gen, die durch ihre spä­te Freund­schaft mit Lorenz mensch­lich besie­gelt wur­de, blieb wis­sen­schafts­ge­schicht­lich indes­sen nahe­zu unbe­ach­tet. Als weit wirk­mäch­ti­ger soll­ten sich ihre kul­tur­re­la­ti­vis­ti­schen Irr­tü­mer erwei­sen, denen nicht nur die Hip­pie­be­we­gung, son­dern auch ein men­ta­li­täts­prä­gen­der Sozio­lo­gis­mus folg­te, der sich schließ­lich in manie­ris­ti­schen, nur noch selbst­re­fe­ren­ti­el­len Dekon­struk­tio­nen von »Sex« und »Gen­der« verlor.

Das Bestre­ben, den Men­schen von der orga­ni­schen Lebens­e­vo­lu­ti­on so radi­kal abzu­kop­peln, daß Geschlechts­iden­ti­tä­ten und Sexu­al­prä­fe­ren­zen als rein mensch­ge­mach­te Arte­fak­te erschei­nen konn­ten, zeug­te zwar von einem frag­wür­di­gen Anthro­po­zen­tris­mus; gleich­wohl führ­te die uner­müd­li­che Auf­klä­rung über die »hete­ro­se­xis­ti­sche« Herr­schafts­ge­schich­te von Jahr­tau­sen­den Patri­ar­chat zu einer geschichts­po­li­tisch erfolg­rei­chen Ver­drän­gung von Jahr­mil­lio­nen mensch­li­cher Gattungsgeschichte.

Dafür trieb auf der Gegen­sei­te die von Edward O. Wil­son »Sozio­bio­lo­gie« getauf­te Teil­dis­zi­plin der Etho­lo­gie die Natu­ra­li­sie­rung des Men­schen so kon­se­quent vor­an, daß kein grund­sätz­li­cher, son­dern nur­mehr ein gra­du­el­ler Unter­schied zum Tier noch erkenn­bar war. Pro­gram­ma­tisch betrach­te­te die sozio­bio­lo­gi­sche Milieu­theo­rie die kul­tu­rel­le Umwelt des mensch­li­chen Orga­nis­mus als inte­gra­len Bestand­teil sei­nes evo­lu­tio­nä­ren Erbes selbst.

Mit sol­cher öko­lo­gi­schen Ein­stamp­fung der mensch­li­chen Welt­of­fen­heit aber wur­de die anthro­po­lo­gi­sche Dif­fe­renz von »Ver­erb­tem« und »Erwor­be­nem« voll­stän­dig kas­siert und die kul­tu­rel­le Varia­bi­li­tät sexu­el­ler Ver­hal­tens­for­men und sozia­ler Geschlech­ter­nor­men durch die bio­lo­gi­schen Kon­stan­ten der Aus­le­se nor­miert. Ver­paa­rung und Fort­pflan­zung sei­en über »bio­lo­gi­sche Märk­te« ver­mit­telt, auf denen die weib­li­che Wahl über den Aus­gang männ­li­cher Wett­kämp­fe entscheide.

Da sei­ne zahl­lo­sen Sper­mi­en ihn jedoch weni­ger »kos­ten« als sie in eine ein­zi­ge Schwan­ger­schaft »inves­tiert«, wird der eine emo­tio­na­le Dau­er­bin­dung mit »qua­li­ta­tiv« anspruchs­vol­ler Kin­der­auf­zucht anstre­ben­den Frau mit dem noto­risch pro­mis­ken Sexu­al­ver­hal­ten des »quan­ti­ta­tiv« kal­ku­lie­ren­den Man­nes die vol­le Rech­nung für ihre Wahl­frei­heit prä­sen­tiert. Der­art redu­zier­te die Sozio­bio­lo­gie die mensch­li­che Sexua­li­tät, wel­che Neo­mar­xis­mus und Femi­nis­mus vom Fort­pflan­zungs­zwang hat­ten befrei­en wol­len, gera­de auf ihre Repro­duk­ti­ons­er­fol­ge und taxier­te die Sexu­al­we­sen nach ihrem Bei­trag zur gene­ti­schen »Gesamt­fit­ness«, wel­che in der männ­lich frei­zü­gi­gen poly­gy­nen Grup­pen­ehe effek­ti­ver gestei­gert wer­de als in der mono­ga­men Gattenehe.

Indem die Sozio­bio­lo­gie das natür­li­che Leis­tungs­prin­zip des evo­lu­tio­nä­ren Selek­ti­ons­drucks, von dem die Human­etho­lo­gie den Men­schen längst ent­las­tet glaub­te, wie­der zu Ehren brach­te, betrieb sie letzt­lich eine öko­no­mis­ti­sche Selek­ti­on des bio­lo­gi­schen Erbes selbst. Wie Dar­win sei­nen Aus­le­se­ge­dan­ken ein­ge­stan­de­ner­ma­ßen nach dem Modell der libe­ra­len Kon­kur­renz­wirt­schaft ent­wi­ckelt hat­te, so lie­fer­te voll­ends das sozio­bio­lo­gi­sche Kos­ten-Nut­zen-Den­ken, wel­ches das rück­sichts­lo­se Sozi­al- und Sexu­al­ver­hal­ten nar­ziß­ti­scher Alpha-Män­ner als beson­ders lebens­tüch­tig prä­miert, einem glo­ba­li­sier­ten Sozi­al­dar­wi­nis­mus sei­ne neo­li­be­ra­le Legitimationsideologie.

Mit dem Nach­weis, daß die Selek­ti­on am Indi­vi­du­um und nicht an der Grup­pe anset­ze, hat­te schon Vor­den­ker Wil­liam D. Hamil­ton die kon­zep­tio­nel­le Neue­rung der gene­ti­schen »Ver­wand­ten­se­lek­ti­on« gegen das alte etho­lo­gi­sche Kon­zept der art­erhal­ten­den »Grup­pen­se­lek­ti­on« durch­ge­setzt und damit die altru­is­ti­schen Gemein­schafts­re­ser­ven zuguns­ten einer rein ago­na­len Gesell­schafts­aus­le­se auch metho­disch ausgemerzt.

Mas­sen­kom­pa­ti­bler ver­stand es spä­ter der Popu­la­ri­sa­tor Richard Daw­kins, allen mensch­li­chen Altru­is­mus als nai­ve Illu­si­on zu ent­lar­ven, um statt­des­sen den kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv des gene­ti­schen Ego­is­mus auf­zu­rich­ten, dem rech­ne­risch auch das für das Fort­le­ben sei­nes Erb­guts sich opfern­de Ein­zel­we­sen gehorche.

Epis­te­mo­lo­gisch aber bot die­se sozio­bio­lo­gi­sche Mathe­ma­tik der Ver­wandt­schafts­ver­hält­nis­se nur eine vul­gär­pla­to­nis­ti­sche Meta­phy­sik hypo­the­ti­scher Gene, deren ewi­ges Leben die sterb­li­chen Indi­vi­du­en zu bloß empi­ri­schen Trä­gern ihres tran­szen­den­ta­len Repli­ka­ti­ons­be­stre­bens degra­diert, wel­ches mit den altru­is­ti­schen Bin­dungs­dis­po­si­tio­nen des Men­schen auch sei­ne anar­chi­schen Antriebs­sys­te­me wegrationalisiert.

Gera­de die­sen schein­bar ana­chro­nis­ti­schen anthro­po­lo­gi­schen Urkon­flikt zwi­schen Bin­dungs­wunsch und Geschlechts­trieb hat­te frei­lich Hel­mut Schelsky ins Zen­trum sei­ner an Geh­len anknüp­fen­den Sozio­lo­gie der Sexua­li­tät gerückt. Anders als für Freud war es für Schelsky weni­ger ein Unbe­ha­gen in der Kul­tur als eines an sei­ner Natur, das dem Men­schen noto­risch zu schaf­fen mache.

Der ani­ma­li­schen Instinkt­star­re ent­ron­nen und aus peri­odi­schen Brunst­zy­klen her­aus­ge­löst, woh­ne der chro­ni­schen Aktua­li­tät und poly­mor­phen Plas­ti­zi­tät des mensch­li­chen Sexu­al­triebs eine hyper­tro­phe Ten­denz zu Per­ver­si­on und Pan­se­xua­li­tät inne. Der miß­li­che Umstand, daß die­ser kon­sti­tu­tio­nel­le Antriebs­über­schuß rein sexu­ell »nicht unter­zu­brin­gen« sei und dar­um eine »ste­ti­ge Sexua­li­sie­rung aller mensch­li­chen Antriebs­sys­te­me« nach sich zie­he, bewies für Schelsky die struk­tu­rel­le Ange­wie­sen­heit des Geschlechts­le­bens auf sozia­le Nor­mie­rung über­haupt. Um sich von sei­ner auf­säs­si­gen Trieb­na­tur zu ent­las­ten, stre­be der Mensch schon von sich aus zu kul­tu­rel­len Bin­dun­gen und kom­pen­sie­ren­den Insti­tu­tio­nen, die schließ­lich eige­ne Bedürf­nis­se erzeug­ten und Befrie­di­gun­gen höhe­rer Art gewährten.

In die­ser Per­spek­ti­ve läßt sich das viel­ge­schol­te­ne Patri­ar­chat als eine kul­tur­ge­schicht­li­che Dau­er­kom­pen­sa­ti­on stam­mes­ge­schicht­li­cher Anpas­sungs­män­gel begrei­fen. Über die längs­ten Peri­oden der mensch­li­chen Geschich­te, in denen das Leben all­täg­lich durch Nöte ver­schie­dens­ter Art gefähr­det war, bewähr­te sich eine schein­bar natur­wüch­sig ent­stan­de­ne Auf­ga­ben­ver­tei­lung zwi­schen den Geschlech­tern, bei der jedes nach sei­nen Fähig­kei­ten wirk­te, um die lebens­not­wen­di­ge Anpas­sung an die Umge­bung koope­ra­tiv am bes­ten zu leisten.

Erst jene weit­rei­chen­de tech­ni­sche Ent­las­tung von unmit­tel­ba­rer Lebens­not, die im Zuge der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on all­mäh­lich ein­trat, stell­te die Geschlech­ter­dif­fe­renz als ein sozio­kul­tu­rel­les Phä­no­men frei und leg­te dem weib­li­chen Geschlecht das Recht nahe, nach eige­nen Bedürf­nis­sen zu leben und zu arbeiten.

Längst voll­zieht sich die kul­tu­rel­le Stan­dar­di­sie­rung der Geschlech­ter­rol­len nicht mehr nach Maß­ga­be jener Pola­ri­sie­rung, die sich an der patri­ar­cha­li­schen Arbeits­tei­lung von Mann und Frau model­liert hat­te, son­dern auf dem Wege einer Ega­li­sie­rung, wie sie in spät­in­dus­tri­el­len Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaf­ten, zu deren Diens­ten auch die sub­ven­tio­nier­te Fremd­be­treu­ung von Klein­kin­dern gehört, ver­schärft vor­an­ge­trie­ben wird.

Sogar Lorenz gab zu beden­ken, daß der soge­nann­te Mut­ter­in­stinkt schon beim Säu­ger­weib­chen ein labi­ler und stör­an­fäl­li­ger Kom­plex aus diver­sen Erb­ko­or­di­na­ten dar­stellt. Seit Men­schen­ge­den­ken bedurf­te daher, was immer sich von des­sen Brut­pfle­ge­ver­hal­ten an Instinkt­re­si­du­en der Men­schen­mut­ter ver­erbt hat, einer kul­tu­rel­len Sta­bi­li­sie­rung, um all das, was selbst eine femi­nis­ti­sche Kri­ti­ke­rin der Mut­ter­schafts­ideo­lo­gie wie Eli­sa­beth Bad­in­ter als »Gleich­gül­tig­keit der Müt­ter« und als »Ver­rat am Kind« brand­mar­ken soll­te, in erträg­li­chen Gren­zen zu halten.

Der Bin­dungs­theo­re­ti­ker John Bowl­by wie­der­um faß­te die »mono­tro­pe«, auf die pri­mä­re Bezugs­per­son fokus­sier­te Bin­dung des Klein­kin­des als psy­chi­sche Ver­stär­kung der bio­lo­gi­schen Prä­gung auf und bestä­tig­te damit die Mut­ter-Kind-Dya­de als anthro­po­lo­gi­sche Vor­aus­set­zung der Kern­fa­mi­li­en-Tria­de. Aber auch die in den frü­hen Mytho­lo­gien gera­de­zu arche­ty­pisch wie­der­keh­ren­de Kon­stel­la­ti­on von Mut­ter und Kind, wel­che Kla­ges, C.G. Jung und Erich Neu­mann in Erin­ne­rung gebracht haben, ver­weist auf die ele­men­ta­re Bedeu­tung, die die­ser mate­r­na­len Keim­zel­le aller Kul­tur gera­de in der ent­ste­hen­den patri­ar­cha­li­schen Zivi­li­sa­ti­on zuer­kannt wurde.

Nicht zuletzt zeu­gen die matri­li­nea­ren und sip­pen­ori­en­tier­ten Fami­li­en­struk­tu­ren vie­ler pri­mi­ti­ver Kul­tu­ren davon, daß die »Fami­lia­li­sie­rung des Man­nes« einen gat­tungs­ge­schicht­li­chen Neu­erwerb dar­stellt, der sei­ner archai­schen Dis­po­si­ti­on müh­sam erst abge­run­gen wer­den muß­te. Vor die­sem Hin­ter­grund stel­len sich frei­lich die christ­li­che Gat­ten­ehe und erst recht die bür­ger­li­che Klein­fa­mi­lie als kul­tu­rel­le Spät­phä­no­me­ne von größ­ter Fra­gi­li­tät dar.

Wenn der Mensch jedoch mit Geh­len ein »Kul­tur­we­sen von Natur« ist, dann sind Ehe und Fami­lie gleich­wohl in dem men­schen­ge­mä­ßen Sin­ne »natür­lich«, daß sie die Grund­la­gen jeder höhe­ren Kul­tur sichern. Gera­de sei­ne Män­gel­na­tur ver­weist den Men­schen auf die kul­tu­rel­le Sta­bi­li­sie­rung der bio­lo­gisch vor­ge­bil­de­ten, aber eben nicht gesi­cher­ten hete­ro­nor­ma­ti­ven Geschlech­ter- und Generationenverhältnisse.

Aller­dings nahm Geh­len noch jenen empha­ti­schen, von Her­der über­lie­fer­ten Begriff von Kul­tur in Anspruch, der auf einen Pro­zeß der Kul­ti­vie­rung des Men­schen bezo­gen war. Doch schon Etho­lo­gie und Eth­no­lo­gie dräng­ten den his­to­ri­schen und mora­li­schen Gehalt die­ses genu­in deut­schen Kul­tur­be­griffs zurück, bis er schließ­lich zu natu­ra­lis­ti­scher Folk­lo­re auf der einen und kon­struk­ti­vis­ti­scher Will­kür auf der ande­ren Sei­te verkam.

Immer­hin berüh­ren sich die bio­lo­gis­ti­schen und sozio­lo­gis­ti­schen Extre­me in ihrem metho­di­schen Indi­vi­dua­lis­mus und ideo­lo­gi­schen Neo­li­be­ra­lis­mus: Wie die »rechts­li­ber­tä­re« Sozio­bio­lo­gie die stets fort­pflan­zungs­wil­li­ge, aber nur aus gene­ti­schem Ego­is­mus bin­dungs­be­rei­te Selek­ti­ons­ein­heit Mensch pro­pa­giert, so dekon­stru­iert die »links­li­ber­tä­re« Gen­der­so­zio­lo­gie um der sexu­el­len Befrei­ung von Dau­er­bin­dun­gen wil­len die tra­di­tier­ten Geschlech­ter- und Familienverhältnisse.

Damit steht die abend­län­di­sche Ehe wie ein brö­ckeln­des Boll­werk in einem ideo­lo­gi­schen Zwei­fron­ten­krieg gegen die ein­an­der feind­lich nahen human­wis­sen­schaft­li­chen Avant­gar­den einer Zeit, in wel­cher die pri­mä­ren Ver­ge­mein­schaf­tungs­for­men der Kul­tur von den sekun­dä­ren Ver­ge­sell­schaf­tungs­sys­te­men der Zivi­li­sa­ti­on pro­gres­siv auf­ge­zehrt werden.

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