Diese Grenzöffnung sei vielleicht »nur der Vorbote umfassenderer Konvulsionen«, »in denen alles untergehen« werde, »was uns heute selbstverständlich ist«. Drei Tage vor seinem Freitod in Heidelberg im September 2016 schickte er an seine engsten Freunde noch einen Brief, in dem er zu der Schlußfolgerung kam, daß wir »es zur Zeit offenbar mit einer gezielten Selbstzerstörung der deutschen, europäischen, westlichen Kultur zu tun« haben.
Danach verstummte der gebürtige Stuttgarter für immer, der als Denker sui generis zu Lebzeiten bei weitem nicht die Aufmerksamkeit erfuhr, die ihm aufgrund der Bedeutung seines Werks eigentlich hätte zukommen müssen.
Sieferle war zunächst lange Zeit in Mannheim als Privatdozent und Professor tätig, ehe er im Jahre 2000 eine Berufung auf den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte in St. Gallen erhielt. »Viele von uns«, so der Nachruf seiner Wiener Fachkollegin Verena Winiwarter, trauerten um »einen unbestechlichen, aber stets wohlwollenden Kritiker«, aber auch um »einen humorvollen, treuen Freund«, der sich »fremden Denkwelten« gegenüber »wie kaum ein anderer« aufgeschlossen zeigte.
Es waren wohl diese Eigenschaften, die Sieferle zu einem Seismographen für die Offenlegung von »unterirdischen« Transformationsprozessen prädestinierten, die ihr besonderes Profil durch dessen Bemühen gewannen, seine Erkenntnisse mit Niklas Luhmanns Systemtheorie zu amalgamieren. Moralisierende Einlassungen, schon gar politisch korrekter Natur, finden sich in seinem Werk deshalb so gut wie nicht.
Von diesem Ansatz sind auch seine eben postum publizierten Miszellen geprägt, die im kaplaken-Band Finis Germania nachgelesen werden können. Überdies erschien in der Werkreihe von Tumult die letzte Studie Sieferles; sie trägt den Titel Das Migrationsproblem. Beide Publikationen können auch als Belege dafür gelesen werden, warum der Umwelthistoriker, dessen Arbeitsschwerpunkte Umweltgeschichte, Universalgeschichte, Sozial- sowie Kultur- und Ideengeschichte der Industrialisierung umfaßten, immer wieder als »Universalgelehrter« bezeichnet wurde. Die Lektüre seiner Texte bedeutet immer einen Erkenntnisfortschritt – auch wenn diese Erkenntnisse, zumal aus deutscher Sicht, schmerzlich sein können.
Das Thema seiner Doktorarbeit lautete Die Revolution in der Theorie von Karl Marx. Sieferle sollte sich auch in der Folge immer wieder mit Marx auseinandersetzen; 2007 legte er beispielsweise eine Einführung in das Denken von Karl Marx vor. Der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie bescheinigte Sieferle eine beachtliche analytische und prognostische Kraft; die Grenzen seines Denkens würden aber in dessen Planungsoptimismus, in seiner ökonomischen Simplifzierung sozialer Phänomene und nicht zuletzt in der Voraussage einer herrschaftsfreien Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des Kapitalismus deutlich.
Der nächste bedeutende Wurf war das 1982 publizierte Buch Der unterirdische Wald. Energiekrise und industrielle Revolution. Dieses Werk kann als Versuch gedeutet werden, eine Art Geschichte der Energiesysteme unter ökologischen Aspekten vorzulegen. Der Übergang zur Nutzung fossiler Energieträger, vor allem der Kohle, in der Zeit der Industriellen Revolution stellte die Weichen für die zukünftige wirtschaftliche und soziale Entwicklung. Wäre der industrielle Brennstoffbedarf bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch Holz gedeckt worden, wäre die industrielle Entwicklung wohl stark verlangsamt worden. Die aus dem hohen Tempo der Industrialisierung entstehende soziale Krise wäre dann nicht oder in wesentlich gemäßigterer Form eingetreten.
Die Industriegesellschaft stand auch im Fokus seiner folgenden Arbeit: Bevölkerungswachstum und Naturhaushalt (1990). Er geht hier einer Auseinandersetzung zwischen Moralphilosophen, Theologen und Ökonomen im 18. und 19. Jahrhundert über Probleme nach, die die soziale Legitimität der Industriegesellschaft in der Folge beeinflussen sollten. Aufgezeigt wird zunächst, wie in der Neuzeit die Natur mehr und mehr als Regelsystem mit eingeschriebenen Gesetzmäßigkeiten verstanden wurde, in dem Gott letztlich nur die Rolle eines Uhrmachers zukommt, der nicht mehr einzugreifen braucht.
Die Denkfigur der Oeconomia naturae, das Modell einer harmonischen Ordnung der Natur, ist Ausdruck dieses Ansatzes. Welche Ordnungsstrukturen letztlich auch entstehen, alles bleibt von der allmächtigen göttlichen Providenz abgesichert. Auf die bürgerliche Gesellschaft übertragen, bedeutet dies, »daß die Rolle der staatlichen Kontrolle und fürstlichen Herrschaft zugunsten der Selbstregulierung herabgesetzt werden kann«. Adam Smiths Werk vom Wohlstand der Nationen (1776) liest Sieferle vor diesem Hintergrund weniger als nationalökonomisches Lehrbuch, sondern als philosophisches Traktat, das diesem Ansatz Gestalt verliehen hat.
Im ausgehenden 18. Jahrhundert gab es nun allerdings Entwicklungen, die erhebliche Zweifel an der Wohlgeordnetheit der Natur aufkommen ließ. Es waren nicht nur die elenden Lebensverhältnisse der Unterschichten (z.B. in England), sondern auch die Befürchtung, daß der »Wohlstand der Nationen« durch Überbevölkerung zunichte gemacht werden könnte. Die nicht zu überwindenden Widersprüchlichkeiten im Modell der Oeconomiae naturae führten nach Sieferle zur Ausformung eines Fortschrittspostulats. Not und Elend wurden durch die Verheißungen der Zukunft relativiert.
Der Big bang, den dieser wissenschaftliche Paradigmenwechsel im 19. Jahrhundert ausgelöst hat, kann allerdings nicht übertünchen, daß die im 18. Jahrhundert diskutierten Visionen von Überbevölkerung und endlichen natürlichen Ressourcen keineswegs entkräftet sind. Vielmehr handelt es sich um Szenarien, die heute wieder mit Vehemenz im Raum stehen.
In seinem 1997 publizierten, einmal mehr hochkomplexen Werk Rückblick auf die Natur, das sich als Beitrag zur Umweltgeschichte versteht, erläutert Sieferle unter anderem, warum er den Begriff »Moderne« für eine »Fiktion« hält. Modern sei »der jeweilige Status quo sowie die Überwindung dieses Status quo zugleich«. Da man aber kein Wissen davon besitzen könne, wohin sich dieser Prozeß bewege, sei »modern« schlechthin alles, und das bedeute: »nichts«. Die Umwälzungen der letzten zweihundert Jahre belegt Sieferle stattdessen mit dem Begriff »Transformationsphase«. Entsprechend ist für Sieferle der Prozeß der Industriellen Revolution immer noch voll im Gang – worin er sich mit denjenigen Stimmen trifft, die die gerade anbrechende Ära der Digitalisierung als »Vierte Industrielle Revolution« deklarieren.
Diese Einsichten leiten über zu einem Werk Sieferles, das auch über zwanzig Jahre nach seinem Erscheinen durch seine prognostische und analytische Kraft besticht, nämlich Epochenwechsel (1994). Zu Recht hat Karlheinz Weißmann in Band 2 des Staatspolitischen Handbuchs darauf hingewiesen, daß diese Arbeit mit Blick auf die Ausdeutungen und Konsequenzen der Wende von 1989/90 in der Regel nicht genannt wird, obwohl sie zu den »klügsten Analysen« gehört, die zu Papier gebracht worden sind.
Weißmann führt diese Beobachtung auf den Umstand zurück, daß Sieferle hier »unangenehme Wahrheiten« anspreche und seine Präferenz für den »preußischen Sozialismus« alles andere als zeitgeistkompatibel sei. Entsprechend reserviert fielen auch die Rezensionen aus, die den Autor möglicherweise bewogen haben, in der Folge »vermintes Gelände« zu meiden – sieht man einmal von seinen fünf »biographischen Skizzen« zur Konservativen Revolution ab (1995). Ähnlich Akzentuiertes zur politischen Lageanalyse ist erst wieder in seinen nachgelassenen Arbeiten zu lesen, auf die noch näher einzugehen sein wird.
Es ist vor allem Sieferles ideengeschichtliche Abrechnung mit den selbstzerstörerischen Konsequenzen des »humanitären Universalismus«, der in der Bundesrepublik »zum unbefragten, selbstverständlichen Daseinsprinzip werden konnte«, die Epochenwechsel als Kardinalbegriff durchzieht. Der humanitäre Universalismus ende erst dann, so analysiert Sieferle, »wenn völlige Freizügigkeit, Offenheit sämtlicher Grenzen und totale Mobilität auf den Weltarbeitsmärkten« bestehe. Es ist im Sinne dieser Logik also nur konsequent, wenn sich die Kanzlerin kurzerhand vom ethnischen Volksbegriff verabschiedete, als sie kürzlich verkündete, das Volk sei »jeder, der in diesem Land lebt«.
Wenn man so will, steht Epochenwechsel im Spannungsfeld zweier Pole, die der jüdischen Mythologie entlehnt sind, nämlich Behemoth und Leviathan. »Das negative Extrem der Freiheit«, so Sieferle, trage »den Namen Behemoth«. Es handele »sich um die kriminelle Anarchie oder den offenen Bürgerkrieg, im äußersten Fall um den Kampf aller gegen alle«. Das negative Extrem der Ordnung heiße »Leviathan: Despotie und Tyrannei bis hin zur totalen Herrschaft«. Das Extrem der Freiheit sei »das blutige und grausame Chaos«, »das Extrem der Ordnung die blutige und grausame Unterdrückung«.
»Das dominante Feld der politischen Ideologie« sei »so weit in Richtung des Behemoth verschoben worden, daß fast durchweg der Leviathan als der einzige Feind des Menschengeschlechts gilt«. Wenn diese Verschiebung an ihr Ende gekommen sei, winke jedoch »kein sanftes Arkadien«, sondern die »harte Ordnung des Behemoth, der Sieg der Stärksten, Skrupellosesten und Durchsetzungsfähigsten, die den Schwachen nur insofern Schutz gewähren, als sie sich in ihren Einfluß- und Interessenzonen befnden«. Diese Entwicklung käme einem Rückfall in eine »multitribale Gesellschaft« gleich.
Die 30 Kurzschriften Sieferles in dem kaplaken-Band Finis Germania, die sich in Teilen wie ein Kompilat des Epochenwechsels lesen, umkreisen unter anderem die Themen »Deutscher Sonderweg und Siegerperspektive«, »Die neue Staatsreligion«, die Logik des Antifaschismus, die im »starken Maße Antigermanismus« sei, bis hin zum »ewigen Nazi« als »praktischer Negation des humanitären Universalismus«. Die aus diesem Universalismus herausziselierte »neue Religion der Menschheit«, so Sieferle, impliziere die programmatische Forderung nach einer multikulturellen Gesellschaft.
Deren Gegner würden durch eine »programmatische Identifkation von Faschismus/Rassismus und Rechtsradikalismus« ins Abseits gestellt werden. Unterstrichen wird diese Wahrnehmung von der zutiefst zivilisationskritischen Prognose Sieferles, daß der Naturzustand am Ende und nicht »am Anfang der bürgerlichen Gesellschaft« stehe. Wenn das »Aas des Leviathan« verzehrt sei, gingen sich »die Würmer« in einer in den Tribalismus zurückgefallenen Gesellschaft »gegenseitig an den Kragen«.
Im Mittelpunkt der Studie Das Migrationsproblem stehen Ursachen und Konsequenzen der aktuellen Völkerwanderung sowie die Unvereinbarkeit von Sozialstaat und Massenzuwanderung, ein Thema, dem im Epochenwechsel ebenfalls bereits eine exponierte Bedeutung zukam. Der unhaltbare Druck, der durch Massenmigration auf den deutschen Sozialstaat ausgeübt wird, müsse, da dieser auf der Nationalökonomie fuße, über kurz oder lang seinen Zusammenbruch zur Folge haben (Social overstretch).
Unter den drei Alternativen, mit denen auf die Völkerwanderung reagiert werden könne (nämlich totale Abschottung, selektive Zuwanderung und uneingeschränkte Zuwanderung), habe Deutschland die letzte Alternative gewählt, die Sieferle als »hochriskante, geradezu abenteuerliche Politik« bewertet, »die in die soziale Katastrophe führen kann«. Unmißverständlich ist das Urteil, das Sieferle über die Hauptverantwortliche für diese Politik, nämlich Angela Merkel, fällt: Sie werde als eine der »großen Katastrophengestalten« in die deutsche Geschichte eingehen.
Mit Krieg und Zivilisation, dessen Veröffentlichung gerade vorbereitet wird, steht noch ein nachgelassenes Opus magnum Sieferles aus, das den Bogen von den tribalen über die Staatenkriege bis hin zu den heutigen »Cyber-Kriegen« schlägt. Sieferle schrieb in seinem Vorwort, daß er mit diesem Buch »eine Strukturgeschichte des Krieges« vorlegen wolle, »in der auch technische und politische Faktoren zur Sprache« kommen. Die Durchdringungstiefe, die allen Schriften dieses außergewöhnlichen Intellektuellen eigen ist, läßt völlig neue Einsichten in das Phänomen Krieg erhoffen.
Am 17. September 2016 »versank er im Meer, ohne auch nur geahnt zu haben, wie sehr man ihn vermissen wird«, schreibt Raimund Th. Kolb in seinem Nachwort zu Finis Germania. Die schmerzliche Lücke, die Rolf Peter Sieferle hinterläßt, wird, diese Prognose sei an dieser Stelle abgegeben, nicht zu schließen sein.
(Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung des Autorenporträts Rolf Peter Sieferles, das in Sezession 77 / April 2017 erscheinen wird.)
Monika L.
Als ich den Text DEUTSCHLAND, SCHLARAFFENLAND in TUMULT zum ersten Mal las, verschlug es mir den Atem. Kurz darauf las ich in Klonovskys acta vom Freitod Rolf Sieferles. Das schien mir folgerichtig. Umso trauriger machte mich diese Tat. Umso widerständiger.
Die letzten Texte Sieferles wirken wie ein Sog, ein gefährlicher Strudel. Man kann ihnen nur entkommen, wenn man tief in sie eintaucht. Sich nach ganz unten ziehen lässt. Um den Sog zu unterschwimmen. Nur dann gibt es eine Rettung.