Armin Nassehis Realitätsverweigerung

Das aber ist bei einem Soziologen von Nassehis Graden unwahrscheinlich.

Viel­leicht ist es auch ein tief­sit­zen­der Unwil­le, die­se zur Kennt­nis zu neh­men. Das Gespräch bie­tet eine Ansamm­lung von Moti­ven, die in den Medi­en längst zu Topoi avan­ciert sind und von denen mitt­ler­wei­le jedes ein­zel­ne wider­legt ist. Wer das im ein­zel­nen nach­voll­zie­hen möch­te, soll­te sich an Rolf Peter Sie­fer­les Das Migra­ti­ons­pro­blem. Über die Unver­ein­bar­keit von Sozi­al­staat und Mas­sen­ein­wan­de­rung hal­ten, der die ein­schlä­gi­gen “Legi­ti­ma­ti­ons­nar­ra­ti­ve” sorg­fäl­tig und über­zeu­gend dekonstruiert.

Hier kön­nen aus Platz­grün­den nur zwei die­ser Moti­ve behan­delt wer­den, die den jour­na­lis­ti­schen (und teils auch den aka­de­mi­schen) Dis­kurs durch­zie­hen wie unge­nieß­bar-zähe Fett­adern den Pro­sci­ut­to. Bei dem ers­ten han­delt es sich um die belieb­te Oppo­si­ti­on von (ängst­li­chen, abge­häng­ten, unge­bil­de­ten) “Moder­ni­sie­rungs­ver­lie­rern”, denen eine Grup­pe von “gebil­de­ten Kos­mo­po­li­ten” ent­ge­gen­ge­stellt wird, die “qua­si mit links Begrif­fe wie Kul­tur, Volk, Nati­on dekonstruiert”.

Wäh­rend die ers­te­ren nach “Her­stel­lung von Über­sicht­lich­keit” (Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on) stre­ben, jon­glie­ren die ande­ren mun­ter mit den Gege­ben­hei­ten einer “kom­ple­xen, glo­ba­li­sier­ten, unüber­sicht­li­chen Welt”. Nas­sehi scheint nicht rea­li­siert zu haben, daß z.B. Hans Vor­län­ders PEGI­DA-Stu­die einen Aka­de­mi­ker-Anteil von immer­hin 28,2 % aus­wies und sogar die Süd­deut­sche fest­stel­len muß­te, daß der Erfolg der AfD nicht auf die berühm­ten “weni­ger gebil­de­ten Män­ner mitt­le­ren Alters” redu­ziert wer­den könnte.

Man kann sich des Ein­drucks nicht erweh­ren, daß in der fixen Idee einer Welt “klein­bür­ger­li­che® Ängs­te und Enge” eine pro­jek­ti­ve Ener­gie steckt, die auf genau das zielt, was das Kli­schee bei den “Moder­ni­sie­rungs­ver­lie­rern” am Werk sieht, näm­lich auf Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on. Ein schau­dern­des links­grü­nes Jus­te milieu ord­net auf die­se Wei­se sei­ne klei­ne Welt und erzielt Bour­dieu­sche Distink­ti­ons­ge­win­ne. Das Bedürf­nis nach Über­sicht­lich­keit sucht offen­bar gera­de die­se dau­er­mo­ra­li­sie­ren­den, die Welt in Gut und Böse spal­ten­den “Kos­mo­po­li­ten” mit beson­de­rer Inten­si­tät heim.

Und: Was bit­te ist ein “Klein­bür­ger”? Der Begriff ist längst kein sozio­lo­gi­scher Ter­mi­nus tech­ni­cus mehr (sofern er das je war), son­dern ein Dif­fa­mie­rungs­be­griff mar­xis­ti­scher Her­kunft (der reak­tio­nä­re “Klein­bür­ger” im Gegen­satz zum revo­lu­tio­nä­ren “Pro­le­ta­ri­er”, eine Fik­ti­on gegen die ande­re!). Sein Refe­renz­ob­jekt war immer schon in nütz­li­cher Wei­se unklar − ein Gum­mi­be­griff, mit dem vom Hau­sie­rer bis zum mit­tel­stän­di­schen Unter­neh­mer, von der Kin­der­gärt­ne­rin bis zum Pro­fes­sor seit jeher alles bezeich­net wor­den ist, was gera­de zum Abschuß frei­ge­ge­ben wer­den sollte.

Die dif­fa­ma­to­ri­sche Ener­gie, mit der er auf der Lin­ken trotz sei­nes gegen Null ten­die­ren­den Erkennt­nis­wer­tes benutzt wird, rührt wohl daher, daß sich die meis­ten Intel­lek­tu­el­len der 68er-Gene­ra­ti­on her­kunfts­mä­ßig die­ser Schicht zuord­nen müß­ten, auch das eine cha­rak­te­ris­ti­sche Pro­jek­ti­on nach außen.

Die voll­stän­di­ge Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung erreicht Nas­sehis Text mit der Leug­nung von Grup­pen­iden­ti­tä­ten. Zei­chen einer “Kri­se” sei es, “dass da, wo Sicht­bar­kei­ten wie Haut­far­be oder Spra­che vor­han­den sind, immer mehr Iden­ti­tät ver­mu­tet wird, als vor­han­den ist. […] daß jemand eine ande­re Haut­far­be hat, hat über­haupt kei­ne Bedeu­tung.” Man kann ger­ne behaup­ten, daß dies kei­ne Bedeu­tung haben soll, und hat damit eine nor­ma­ti­ve Aus­sa­ge getätigt.

Fak­tisch jedoch sind es genau sol­che Unter­schie­de, die Pro­zes­se der Bedeu­tungs­bil­dung in Gang set­zen und anhand derer sich Iden­ti­tä­ten her­aus­kris­tal­li­sie­ren. Eine Erlaub­nis bei der Sozio­lo­gie holt die Rea­li­tät für die­se Vor­gän­ge nicht ein. Man darf sicher sein, daß die pro­fes­so­ra­le Vor­stel­lung, Spra­che, Haut­far­be und Kul­tur hät­ten “über­haupt [!] kei­ne Bedeu­tung” von Migran­ten am aller­we­nigs­ten geteilt wird, wie soeben die Tür­ken in Deutsch­land und den Nie­der­lan­den ange­sichts von Erdo­gans Wahl­kampf ein­drucks­voll bestä­ti­gen. Auch die Qua­li­fi­ka­ti­on der Deut­schen als “Köter­ras­se” läßt nicht dar­auf schlie­ßen, daß der Belei­di­ger Pro­ble­me gehabt hät­te, sei­ne Iden­ti­tät von einer ande­ren zu unterscheiden.

Inexis­tent sind Grup­pen­iden­ti­tä­ten allen­falls im Schutz­raum des aka­de­mi­schen Dis­kur­ses, wo man der Kon­struk­ti­on des abs­trak­ten Men­schen, die Benoist so ein­dring­lich kri­ti­siert hat, unbe­läs­tigt von Riots frö­nen kann. Auch hier jedoch wäre, gera­de mit Mit­teln der von Nas­sehi ansons­ten ver­tre­te­nen Sys­tem­theo­rie, eine rea­li­täts­nä­he­re Beschrei­bung der Aus­wir­kun­gen fremd­kul­tu­rel­ler Mas­sen­zu­wan­de­rung möglich.

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Kommentare (20)

Dieter

20. März 2017 10:31

Stimme dem Gesagten in allen Punkten zu. Aber Herr Nassehi spricht m.E. einen interessanten Punkt an: die Spaltung und Polarisierung, die gerade weil sie auf Fiktionen beruht und die Stellung der Herrschenden festigend wirkt, nicht wünschenswert ist. Wie finden wir Konservative ein anderes Narrativ um die unter dem Brennglas der Lügenpresse sich selbst mit Moralin übergießenden "Kosmopolizisten" davor zu bewahren, in Flammen aufzugehen und uns alle mit in den Abgrund zu reissen?

Caroline Sommerfeld

20. März 2017 11:30

Nassehi kann man nicht oft genug auf die Schippe nehmen und mit seinen eigenen Mitteln durchrütteln! Sie haben ganz recht: genau mithilfe der Systemtheorie bekommt man genug heraus über das Funktionieren von Grenzen, innere Homogenität und dadurch limitierte Umweltoffenheit. Ich nehme an, Sie kennen "Die letzte Stunde der Wahrheit", in dem am Ende eine erhellende Korrespondenz zwischen Nassehi und Kubitschek abgedruckt ist. Das Ding ist zwei Jahre alt, und er hat immernoch denselben Komplexitätsreduktionshänger! Jedes, ich betone: jedes! System reduziert unablässig die Komplexität der Welt (z.B. mein Ich/Rest der Welt, ökonomische Operationen/alles mögliche andere, Liebe/sonstige Interaktionsformen und Kommunikationen) - alles was innen in einem System verarbeitbar ist, ist reduzierte Weltkomplexität. Jetzt "Komplexitätsreduktion" als Vorwurf gegen seine politischen Gegner zu wenden ist unlauter gegenüber dem deskriptiven (und daher: soziologischen, und z.B. nicht moralischen, pädagogischen oder religiösen) Anspruch der Systemtheorie, den Nassehi bis dato jedenfalls teilt (noch hat er keine "kritische Systemtheorie" erfunden, aber kann ja noch kommen).

"Ein schauderndes linksgrünes Juste milieu ordnet auf diese Weise seine kleine Welt und erzielt Bourdieusche Distinktionsgewinne." Sie sind leuchtende Beispiele für Statuslinke! Mancher ist links, weil er "von der Gesellschaft ausgeschlossen ist" oder sich aufschwingt, für dergleichen Minderheiten einzutreten, mancher aus (oft vorgeschützter) Empathie, mancher aus Ignoranz (Unkenntnis der Realität). Doch das wichtigste soziale Motiv zum Linkssein ist immer noch: es verleiht Statusgewinn gegenüber dem "basket of deplorables", den Komplexitätsreduzierern und "einfachen Lösungen", den "Globalisierungsverlierern" und "Abgehängten".  Nur: hat ein Soziologieprofessor derartigen Statusneid nötig? Er könnte es sich sozial ohne weiteres leisten, den Beobachter zweiter Ordnung zu spielen, statt auf der Ebene der Beobachtung erster Ordnung unreflektiert mitzumischen.

Gustav Grambauer

20. März 2017 12:16

Eigentlich müßte es heißen: "Hör zu, kleiner linker Mann ...",

https://www.fischerverlage.de/buch/rede_an_den_kleinen_mann/9783596267774

aber das wäre inzwischen schon deshalb "Geht-gar-nicht", weil allein schon das Wort "Mann" beim Linken ein Stich ins Wespennest wäre!

Umso mehr bange ich, ob ich mit meinen Komplexitätsbeeinträchtigungen dem 100-%-Großtribun, Groß-, nein: "Gottkanzler der Herzen" und Genie-Enzyklopädisten (Spesen ...) Weinkennerexzellenz Schulz noch lange intellektuell folgen kann, wenn diese auf kanonisch-universalistisch-sublimierter Basis "mit aller Entschlossenheit dem billigen Populismus den Kampf ansagt"; die Musik beruhigt mich schon mal sehr gut, die Einblendung der Untertitel hilft mir schon mal weiter, aber ich würde mir dabei gern doch noch mehr "Einfache Sprache" wünschen!!!:

https://www.youtube.com/watch?v=h68kAjFdYQk 

- G. G.

RMH

20. März 2017 12:29

"Modernisierungsverlierer" ist ein Euphemismus und gleichzeitig eine Diffamierung, wie die anderen, genannten Begriffe auch.

- Modern ist es, das man sich von allen und jedem Einreden lassen muss, dass andere Menschen immer und grundsätzlich eine "Bereicherung" seien, auch wenn man sich eigentlich schon reich genug gefühlt hat und keinen Bedarf hat

- Modern ist es, dass man ab 50 bitte schön noch klaglos bis zur Rente sich abzuplagen hat und darum beten muss, dass man bis dahin bitte nicht den - als absolut gesetztes Symbol der "Teilhabe" in "modernen" Gesellschaften  - "Job" verliert

- Modern ist es, weil man seine deutschen Sekundärtugenden einfach nicht ablegen kann und arbeitet und Geld verdient, Steuern und Sozialabgaben, dass die Schwarte kracht, abzudrücken, damit auch die wunderbare neue Welt finanziert werden kann

- Modern ist es, wenn man Kinder groß zieht und die sich dann mit irgendwelchen Gangs rumzuschlagen haben und die schon in der Grundschule sich langweilen, weil die Lehrerin vollauf damit beschäftigt ist, die meisten erst einmal in die Lage zu bringen, so etwas wie Unterricht folgen zu können, was meistens scheitert

- Modern ist es, dass die Jungen, die zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in unserem Land ernsthaft gebraucht werden und sich normalerweise nicht mit Jugendarbeitslosigkeit und Drecksjobs herumschlagen müssten, natürlich durch eine Flutung mit Ausländern diesen Vorteil nicht mehr voll nutzen können oder zumindest die Flucht ins Akademische antreten müssen, was zur Verkrüppelung unserer deutsche Gesellschaft führen wird

- Modern ist es, die Klappe zu halten und am besten schon gar nichts in den "neuen Medien" der Öffentlichkeit preis zu geben, was jenseits des letzten Fitnessurlaubs oder sexueller Vorlieben liegt.

Man kann das jetzt beliebig fortsetzen, aber ich stelle als akademischer Proletarier fest, dass ich selbstverständlich unter den Begriff Modernisierungsverlierer falle - wie wohl eigentlich alle Autochthonen hier im Lande, die alle tagtäglich verlieren und von denen es eben die meisten nur noch nicht wahrhaben wollen, in ihrem notwendig falschen Bewusstsein. Mit dem Wort "Verlierer" spielt man zudem geschickt die Saiten an, die jeder Konservative und Liberale am Wenigsten von sich hören will, denn in diesem Kreisen fühlt man sich wie selbstverständlich eher der Leistungselite zugehörig. Verlierer will man ja nun jetzt nicht so gerne sein und so springt man eben über die Begriffsstöckchen, die hingehalten werden, nur um "dabei" zu sein  - und zahlt mit diesem Verständnis dann auch gerne die Zeche der anderen.

quarz

20. März 2017 12:34

Es gibt tonnenweise empirische Evidenz für die schädliche Wirkung ethnischer Fragmentierung einer Gesellschaft auf das Funktionieren das Solidargemeinschaft. Was nicht existiert, kann nicht diese Kausalzusammenhänge aufweisen. Die Kausalzusammenhänge existieren. Ergo: die ethnischen Gruppen existieren.

quarz

20. März 2017 12:48

@CS

Komplexitätsreduktion ist nicht nur kein analytisches Defizit, sondern im Gegenteil das Erfolgsrezept wissenschaftlcher Erkenntnis und deren praktischer Verwertung. Wenn ich abschätzen soll, ob mich das dünne Eis auf dem Teich trägt, dann kann es tödliche Konsequenzen haben, wenn ich die Einschätzung von einer "ganzheitlichen" Analyse meiner Lebenszusammenhänge abhängig mache. Was in dieser Situation Not tut, ist eine radikale Reduktion meines "in der Welt Seins" auf einen Massenkörper und dessen physikalische Eigenschaften.

Monika L.

20. März 2017 13:07

"Ich habe seit den 80-er Jahren sehr lange Grüne gewählt, bin ein Fan von Basisdemokratie. Doch die Grünen haben die Basisdemokratie verraten. Die AfD ist aufgestanden gegen alles, was mich nervt. Das reicht mir schon, sie zu wählen. Mich kann keine der Altparteien aus der Fundamentalopposition zurückholen."

So lautet die Leserzuschrift mit den meisten Enpfehlungen zum Bender Kommentar in der FAZ: Die Idealisten in der AfD

https://www.faz.net/aktuell/politik/missverstaendnis-nicht-nur-abgehaengte-waehlen-afd-14932777.html

Die AfD-Wähler sind nicht die Abgehängten. Das ist mal klar ! Aber: Die AfD muß aufpassen, dass sie die realen "Abgehängten' nicht übersieht! Denn hier wittert der Dorfschulze seine Wähler. Als "Freund" des sog. kleinen Mannes.

RMH

20. März 2017 13:58

"Komplexitätsreduktion ist nicht nur kein analytisches Defizit, sondern im Gegenteil das Erfolgsrezept wissenschaftlcher Erkenntnis und deren praktischer Verwertung."

@quarz,

korrekt, es gibt dafür sogar verschiedene Bezeichungen, volkstümlich "Laborbedingungen" etc. und fast jeder Erstsemesterstudent lernt am Anfang seines Studium den Begriff ceteris paribus kennen.

Gotlandfahrer

20. März 2017 14:33

Alles hier Geschriebene ist richtig, intelligent, eloquent und für die Vervollständigung der eigenen Reflexion hilfreich. Darüber hinaus bleibt es Schnickischnacki. Denn kein Mensch wird in Fragen der Res publica durch kluge Argumente überzeugt. Je intelligenter die Menschen, desto weniger werden sie es. Ein Mehr an Intelligenz wird höchstens zur Durchsetzungsstärke der eigenen Position eingesetzt, nicht zu ihrer fundamentalen Anpassung durch Erörterung. Intelligente Vertreter der Gegenseite argumentativ zu widerlegen hat daher in der öffentlichen Debatte keinen Wert.

Die in einer Gruppe anzutreffende Verteilung der Positionen  ergibt sich aus aktueller Lage und persönlichen Präferenzen. Einige wenige Menschen präferieren Widerspruch, die meisten Anpassung. Einige präferieren Risiko, die meisten Sicherheit, usw.  Damit ist die Verteilung der Positionen in erster Linie abhängig von der aktuellen Lage, da die relevanten Präferenzen allesamt eine die aktuelle Lage stabilisierende Verteilung aufweisen.

Was wir uns wünschen, ist, dass die Anpassungs- und Sicherheitspräferenzen der Menschen nicht länger eine aktuelle Lage aufrechterhalten und damit zuspitzen, die zu fatalen und unumkehrbaren Verschlechterungen unserer Lebensbasis führt. Ironischerweise  ist also gerade die menschliche Präferenz für Sicherheit das größte Risiko. Denn weil die Zukunft immer zunächst noch nicht da ist, ist sie zweitrangig gegenüber der Gegenwart, also der aktuellen Lage. Erst recht, wenn sich die Veränderung der aktuellen Lage für die meisten Individuen zunächst rein abstrakt statistisch auswirkt, sich ignorieren oder umgehen lässt. Noch nie haben irgendwie erträglicher Gegenwartsschaden und erst recht nicht zukünftiger Großschaden Gruppen davon abgehalten, ihr aktuelles Verhalten gegenüber denen, die die Machtposition wirksam innehaben, zu verändern.

Der Mangel an tatwilligen jungen Männern in unserem Volk ist daher beklagenswert, aber aus meiner Sicht nicht entscheidend für die Zukunft. Noch ließen sich welche finden, wenn die aktuelle Lage es zuließe. Entscheidend ist die Entwicklung der aktuellen Lage, denn nur wenn die Bedeutungslücke zwischen zweitrangiger Zukunft und unmittelbaren Anpassungsergebnissen verkleinert wird, kann das neue Anpassungsstrategien hervorrufen, also Verhalten verändern.

Dem intelligenten Schreiben von Artikeln kommt also eine wichtige, aber nicht entscheidende Bedeutung zu. Wichtig ist es, weil dadurch ein Anlaufpunkt ausgebaut wird, der die für den Tag X notwendige Orientierung bietet und weil es Impulse auslösen helfen kann bei denen, die sich ihrer Anpassungsstrategie zunehmend unsicher werden. Es wird aber darauf ankommen, ob es den Tag X geben wird, also einen Zeitpunkt, an dem Anpassung an das Alte nicht länger mehr, sondern weniger unmittelbare Sicherheit bedeutet. Wobei das Neue dann noch in der Lage sein muss, das von uns angestrebte sein zu können.

Hier gilt also die alte Floskel: Es muß erst noch schlimmer werden, damit es besser werden kann.

Sven Jacobsen

20. März 2017 15:01

Ein gelungener Gastbeitrag. Die Aufwertung der eigenen Position bei gleichzeitiger Abwertung aller gegnerischen Einstellungen ist das klassische Schema schlechthin, nicht nur in politischen Auseinandersetzungen. Da dürfen kleine überhebliche Spitzen freilich nicht fehlen. Der "Modernisierungsverlierer" ist so eine. Ihm, so suggeriert der Begriff, fehlt es hinten und vorne an der intellektuellen Souveränität, sich innerhalb der positiv bewerteten Moderne zurechtzufinden. - Drauf gepfiffen. Das Spiel funktioniert auch umgekehrt. 

@ RMH

Ihre Kommentare lese ich immer gerne. 

Heinrich Brück

20. März 2017 15:06

Das Bundesverfassungsgericht hat die Staatsangehörigkeit über die Volkszugehörigkeit gestellt. Eine Interpretation des GG zugunsten des Vielvölkerstaats. Eine sozioökonomische Perspektive. Ein ideologischer Irrtum, die eigene Nationalökonomie betreffend, wird die Migration nicht an ihrer Ausbreitung stoppen können. Die Migranten werden immer mehr Geld bekommen, als sie einzahlen können. Welche Seite rechtfertigt die Migration, und wie wird diese gerechtfertigt? Verhütungsmethoden weißer Provenienz sind Degenerationserscheinungen lebensfeindlichster Art. Gibt es so in der Natur nicht. Mir soll hier niemand mit der besonderen Verantwortung, angesichts übervölkerter Gebiete, der Volksreduktion kommen. Jede Seite besitzt ein Rechtfertigungsangebot, während nur die stärkere Seite ihres durchsetzen kann. Die Demokratieverfassung der FDGO interessiert nur den "sächsischen" Lockenkopf außerhalb der Schariagebiete.

Utz

20. März 2017 16:09

Dieter schreibt:

Wie finden wir Konservative ein anderes Narrativ um die unter dem Brennglas der Lügenpresse sich selbst mit Moralin übergießenden "Kosmopolizisten" davor zu bewahren, in Flammen aufzugehen und uns alle mit in den Abgrund zu reissen?

Das ist meines Erachtens eine extrem wichtige Frage. Was nutzt es uns recht gehabt zu haben, wenn wir untergehen. Aber ich sehe auch keinen einfachen Weg von unserer Seite zu deren Seite. Jeder lebt in seiner Echokammer. Für die Linken sind wir der zurückgebliebene Pöbel, die Globalisierungsverlierer, egal wie viele Studien belegen, daß Bildungsgrad und Einkommen unserer Seite nicht unterdurchschnittlich ist. Das Bild ist im Kopf und geht da nicht weg. Als Linker kann man sich gut fühlen wenn man kein (Globalisierungs-)Loser ist, wenn man fortschrittlich ist, wenn man die Herausforderungen der modernen Zeit "mit links" bewältigt. Wir werden sicher kein Gehör finden, wenn wir sagen: "Ihr bildet euch eure Überlegenheit nur ein, wir sind keine Verlierer, wir stehen euch an Intellekt nichts nach. Wir reagieren nicht aus der Emotion, sondern aus der Ratio. Wir haben nicht vereinfacht, sondern tief nachgedacht." Will der Linke das hören? Nein! Es muß einen anderen Weg geben, aber ich sehe ihn nicht sehr klar. Ein Ansatz, den ich für vielversprechend halte, ist der der Identitären. Viele Linke, die ich kenne, sind Alt-68-er. Sie sind alt, fühlen sich aber jung. Jungsein ist für sie ein Wert an sich. Sie solidarisieren sich gerne mit der Jugend, deshalb umgeben sie sich auch so gerne mit den jungen Migranten. Eine Jugendbewegung wie die IB zu verdammen, ist für sie schwierig.

Zugezogener Hesse

20. März 2017 18:51

Danke wieder einmal für Artikel und Kommentare.

Bin noch neu hier, aber bei beidem imponiert mir schon jetzt die wohltuende Qualität. 

Von den Aussagen der Kommentare sind mir die Verweise auf "ceteris paribus" und "es muss erst noch schlimmer werden, damit es besser werden kann" die beiden ausdrucksstärksten.

Vielleicht passt auch der Begriff "Elfenbeinturm" noch dazu.

Felix Treumund

20. März 2017 19:04

In der Tat gibt es in dieser neoliberalen Hack- und Rangordnung „ängstliche, abgehängte“ Verlierer, wie sollte es auch anders sein - meine Hochachtung vor denen, die trotzdem bei Pegida mit marschieren (neben den knapp 30% „Gebildeteten“ ;).

Nur ist es aus psychologischer Sicht eine Binsenweisheit, daß sich solche Menschen, um nicht noch weiter abzugleiten oder um endlich wieder mit der Herde blöken zu können, eher der Majorität anschliessen, es bringt Erleichterung für die eigene erlebte Ausgrenzung auf die „Bösen“ mit dem Finger zeigen zu können.

Dieses Argument wird auch oft von der Gegenseite vorgebracht. Hierbei wird aber der Reibungswiderstand nicht bedacht. Wer aber schon am Boden liegt, leistet keinen Widerstand.

„Verlierer“ fallen meist auf die Versprechungen von SPD und Links herein, oder leben apolitisch im abseits.

0001

20. März 2017 21:16

Der Text sitzt. Sehr schön !

Cacatum non est pictum

21. März 2017 00:45

@Gustav Grambauer

Umso mehr bange ich, ob ich mit meinen Komplexitätsbeeinträchtigungen dem 100-%-Großtribun, Groß-, nein: "Gottkanzler der Herzen" und Genie-Enzyklopädisten (Spesen ...) Weinkennerexzellenz Schulz noch lange intellektuell folgen kann, wenn diese auf kanonisch-universalistisch-sublimierter Basis "mit aller Entschlossenheit dem billigen Populismus den Kampf ansagt"; die Musik beruhigt mich schon mal sehr gut, die Einblendung der Untertitel hilft mir schon mal weiter, aber ich würde mir dabei gern doch noch mehr "Einfache Sprache" wünschen!!!:

https://www.youtube.com/watch?v=h68kAjFdYQk

Was für ein ekelerregender falscher Fuffziger! Da steht dieser Populist, der schon als Kommunalpolitiker scheiterte, am Katheder und schwadroniert von seiner zukünftigen Kanzlerschaft. Ausgerechnet er, der sich in Brüssel die Taschen vollgestopft hat, will die einfachen Leute erreichen, die sich um Arbeitsplatz und Familie sorgen. Von diesen Menschen kennt er doch keinen einzigen! Und sie dürften ihm auch am Hintern vorbeigehen.

Aus "Ruft doch mal Martin" Schulz spricht die Herablassung eines intellektuell mediokren Machtmenschen, der von elitären Seilschaften gestützt wird und an dem jede volksnahe Regung bloß Fassade und Kulisse ist. Welch Drama für uns, dass die Kanzlerschaft zwischen einem globalistischen Schaumschläger wie ihm und der anerkannten Deutschlandhasserin Angela Merkel entschieden wird. Das einzige, was mich in diesem Zusammenhang noch mehr sorgt, ist die Gleichgültigkeit meiner Landsleute.

Monika L.

21. März 2017 09:27

"Angst ist eine mächtige Antriebskraft. Wer den Untergang vor Augen hat, ist nicht mit der Aussicht auf höhere Renten oder billigere Mieten zu beruhigen. Man hätte den Atomgegnern die Miete ganz streichen können, sie wären trotzdem auf die Straße gegangen. Was nützt es einem, dass man umsonst wohnt, wenn morgen das Land, in dem man leben will, nicht mehr existiert?"

Jan Fleischhauer in der Spiegelkolumne " DIE ANGST vor dem großen Austausch", 20.3.17, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bevoelkerungsentwicklung-der-grosse-austausch-kolumne-a-1139526.html

Irritierender als die Realitätsverweigerung ( Der Kaiser ist nicht nackt) finde ich die Realitätsabspaltung ( man sieht, dass der Kaiser nackt ist, traut es sich  nicht zu sagen, sondern sagt: " es gibt Menschen, die sagen, dass der Kaiser nackt ist". In der stillen Hoffnung, dass noch mehr Menschen die Nacktheit des Kaisers benennen.) In der Fleischhauer-Kolumne gut zu sehen. Das obige Zitat zeigt, dass die  rechte, populistische, alternative Bewegung durchaus die Qualität zur Fundamentalopposition hat. ( Wie einst die Grünen). Witzig auch, dass Fleischhauer die Angst vor dem großen Austausch mit der Angst vor der Atomkraft vergleicht. Ich sehe schon massenhaft Autoaufkleber: AUSTAUSCH ? NEIN, DANKE !

Jürg_Jenatsch

21. März 2017 11:34

@ RMH und quarz. Sie haben das schön auf dem Punkt gebracht. d'accord. Modernisierungsverlierer und Abgehängter ist in der Tat einer der zentralen Punkte, mit denen linke Halbintellektuelle versuchen zu punkten. Da fühlt sich der eigentlich materiell deklassierte Linke in seiner Maisonettewohnung als Modernisierungsgewinner, obwohl er nach Abwägung aller realistischen Kategorien ein typischer Verlierer ist. Sowohl materiell, als auch politisch, da sein geliebter Sozialstaat in Brüche geht und durch eine multitribale Kampfgesellschaft ersetzt wird.

Gustav Grambauer

21. März 2017 12:35

Cacatum non est pictum

Wenn Gottkanzler tatsächlich Kanzler werden würde / müßte, wäre das ein ziemlicher Betriebsunfall für die SPD, denn er soll eigentlich nur für eine Wahl verheizt (und damit möglichst entsorgt) werden, die vonvornherein verloren geglaubt ist. Schulz ist eine reine PR-Nummer: er hat keine Autorität bei den echten Alpha-Tieren, kann nicht führen (nur ideologisches Zeug daherschwatzen und hintenrum intrigieren) und ist in seiner Ego-Bezogenheit nicht smart (was sich daran zeigt, wie gereizt er auf kleinste persönliche Kränkungen reagiert oder wie er aus seiner Mangel-Haltung heraus den Bogen mit den Tagegeldern in Brüssel überspannt hat). Vor allem ist er insgesamt nicht nervenstark, selbst von Schröder wurde kolportiert, daß er in den letzten Monaten seiner Kanzlerschaft nur noch herumgeschrien und nur deshalb das Handtuch geworfen hat, weil er nervlich überfordert war - wo sollte das erst mit der Mimose Schulz hinführen?! Gesetzt den Fall werden wir Zuschauer eines amüsanten Spektakels, denn nach DER PR-Blase können sie ihn nicht wieder so einsacken wie Schröder z. B. innerhalb der ersten Woche seiner Kanzlerschaft Lafontaine eingesackt hat. 

Ist aber eigentlich nicht unser Thema. Wollte mit dem SPD-Filmchen nur deutlich machen, daß die - wie wir von Sloterdijk und jetzt noch mal von Sieferle gelernt haben - durchsozialdemokratisierte BRD-Gesellschaft bei den Themen "Komplexitätsreduktion" und "Populismus" schön ihre Schnauze zu halten hat.

- G. G.

Der Feinsinnige

22. März 2017 01:57

Dank für den informativen Artikel!

Eine zusätzlicher Hinweis sei erlaubt, da in dem Artikel Hans Vorländers Pegida-Studie erwähnt wird: Lesenswert ist meines Erachtens genauso Werner Patzelts Pegida-Studie.

(vgl. https://jungefreiheit.de/service/archiv?artikel=archiv16/201638091665.htm)

@ Monika L.

Dank für den Hinweis auf die Kolumne von Jan Fleischhauer!

Mir macht es Hoffnung, wenn Journalisten der etablierten Presse solche Texte schreiben. Es zeigt die Nervosität in deren Reihen. Der Vergleich Fleischhauers klingt zwar für einen langjährigen Leser von JF, Sezession etc. einerseits ziemlich banal, andererseits zeigt er exemplarisch, wie sehr die politischen Realitäten in diesem Land bereits tatsächlich ins Rutschen geraten sind, wenn sie selbst in einem Medium wie dem „Spiegel“ nicht mehr ignoriert werden können. Es gibt allerdings einen gewichtigen Unterschied zwischen den Atomgegnern und der heute wachsenden Opposition gegen den Bevölkerungsaustausch: Anders als für die Durchsetzung des sogenannten „Atomausstiegs“ haben wir keine vier Jahrzehnte mehr Zeit, aus der gegenwärtigen Politik der offenen Grenzen auszusteigen, denn nach vier Jahrzehnten vergeblicher Opposition gäbe es uns wirklich nicht mehr.

Ein weiteres Beispiel dafür, daß die Verantwortlichen langsam aber sicher die Nerven verlieren:

https://jungefreiheit.de/politik/deutschland/2017/dresdner-s-bahn-schubser-verhaftet/

Und das nach der Rede von Lutz Bachmann gestern abend in Dresden:

https://www.youtube.com/watch?v=Knlitjfj1X8

Bachmann wird wieder einmal mit vollem Recht sagen können: „PEGIDA wirkt!“ - was wiederum die Realitätsverweigerung der Etablierten unterstreicht.

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