Götz Aly und Jürgen Elsässer sind zwei Publizisten, die auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam haben und von der Öffentlichkeit völlig unterschiedlich wahrgenommen werden. Aly (geb. 1947) hat sich den Jahren zwischen 1933 und 1945 verschrieben und veröffentlicht Bücher, die vor allem einem Ziel dienen: zu zeigen, daß der Nationalsozialismus keine Ideologie gewesen ist, sondern gleichsam die logische Konsequenz aus den nationalstaatlich emporgezüchteten Eigenschaften der Deutschen. Er geht dabei noch einen Schritt weiter als Goldhagen, wenn er diese These auf jeden Lebensbereich auswalzt. Elsässer (geb. 1957) widmet sich der Gegenwart und versucht als Kopf der Zeitschrift compact, die Feindschaft zwischen rechts und links zu überwinden. Bindeglied sei der Antiamerikanismus.
Während Aly als geschichtspolitischer Aufklärer offene Türen einrennt, gilt Elsässer als Dunkelmann mit Hang zu Verschwörungstheorien. Es gibt aber auch einige Gemeinsamkeiten. Zum einen haben beide eine linke Vergangenheit, von der sie sich mehr oder weniger distanziert haben. Aly hat als Maoist im Umfeld der 68er mitgemischt und sich später durch einen Vergleich von 68 mit 33 exkulpiert. Elsässer gilt als Erfinder der antideutschen Linken und leistet durch Betonung von Nation und Souveränität tätige Abbitte. Beide kämpfen gegen das Establishment: Aly gegen die allgemeine Verharmlosung und Elsässer gegen die allgemeine Westbindung. Außerdem haben beide beschlossen, den 9. Mai zu einem Feiertag auszurufen.
Bei Aly dürfte das grundsätzlich niemanden wundern, bemerkenswert ist lediglich die Wortwahl, wenn er unter dem Antifamotto »Wer nicht feiert, hat verloren« in der Berliner Zeitung folgendes schreibt: »Die Sieger und Befreier schenkten den Europäern eine bessere Zukunft – auch den damals noch uneinsichtigen Deutschen. Deren Nachfahren wissen, daß die blutige Niederlage ihrer Väter, Großväter oder Urgroßväter das größte geschichtliche Glück ist, das ihnen zuteilwerden konnte.« Ob Glück die richtige Kategorie zur Beurteilung historischer Ereignisse ist, hat schon Jacob Burckhardt bezweifelt. In jedem Fall stellt Aly sein eigenes Wohlergehen über das Leid der Vorfahren und die Zerschlagung Deutschlands – und macht die Gegenwart zum einzigen Maßstab. Diabolisch wird es, wenn Aly sich eine Woche später großmütig mit dem naheliegenden Einwand einer anonymen Leserbriefschreiberin auseinandersetzt, die auf die Vergewaltigung ihrer Vorfahren durch die Sowjets hinweist. Ja, das stimme, daß Hunderttausende Frauen vergewaltigt wurden, aber man dürfe das nicht aufrechnen, weil schließlich auch viele aus den Konzentrationslagern befreit worden seien und Leid eine individuelle Kategorie sei: »Hier versagen alle Argumente von Ursache und Wirkung.« Aber: »Für die Nachgeborenen gilt das nicht.« Sein Tip an die Schreiberin: »Wie Sie, verehrte Frau H., schreiben, waren damals sämtliche Männer Ihrer Familie im Krieg. Können Sie nicht einfach sagen: Bei allem Leid meiner Familie führten mein Vater und meine Onkel einen ganz und gar ungerechten Krieg, und 70 Jahre danach will ich all den Familien in Europa, in den USA und in der Sowjetunion mein Mitgefühl ausdrücken, die unter diesem von Deutschland begonnen Krieg gelitten haben.« Sie solle zum Mitfeiern kommen.
Daß Stalin einen gerechten Krieg führte, ist offenbar auch Jürgen Elsässers Meinung. Anders ist seine mehrfach wiederholte Einladung an den russischen Motorradclub »Nachtwölfe« nicht zu verstehen, doch bei seiner Feierlichkeit am Hauptbahnhof vorbeizuschauen. Zum Hintergrund: Die »Nachtwölfe« unterstützen den Kurs Putins und können sich seiner Protektion erfreuen. Ihr Plan war, auf dem Weg der sowjetischen Truppen nach Berlin zu fahren, um dort den Sieg über Deutschland zu feiern – was Elsässer frohlocken läßt: »Krönender Abschluß soll natürlich Berlin sein, am symbolträchtigen 9. Mai. Um 15 Uhr findet eine Kundgebung vor dem Reichstag statt, wo für Deutschland, Souveränität und Frieden demonstriert wird. Wie ich gehört habe, ist von den Veranstaltern dieser ausgezeichneten Sache schon über Mittelsmänner eine Einladung an die ›Nachtwölfe‹ rausgegangen. Die ›Nachtwölfe‹ vor dem Reichstag – au weia, das ist für die NATO-Warmduscher fast so schlimm wie die Rote Armee! Die Gesichter von Mutti Merkel, Onkel Gauck und Tante Steinmeier will ich sehen…« Nachdem es selbst bei seiner Anhängerschaft Unverständnis ob solcher unpassenden Allianzen mit Stalinverherrlichern gab, erklärt Elsässer: »Solche vergangenheitszentrierten Debatten führen nicht weiter! Es geht am 9. Mai 2015 in erster Linie um den 9. Mai 2015, nicht um den 9. Mai 1945!! Das Selbstverständnis der ›Nachtwölfe‹ ist, ganz im Sinne von Putin, pro-deutsch! Zelebriert wird der Sieg über Hitler, nicht der Sieg über Deutschland. Daß sie nach Berlin kommen, heißt in erster Linie: Wir lassen uns von der NATO nicht stoppen!«
Hier ist bei Elsässer offenbar der Wunsch Vater des Gedankens. Die »Nachtwölfe« wollen Stalins Sieg feiern und haben auch nie etwas Gegenteiliges behauptet. Ihr Slogan lautet: »Für das Vaterland! Für Stalin!« und sie führen entsprechende Fahnen mit. Aus russischer Perspektive ist es gesund, daß Rußland seine Vergangenheit nicht zu bewältigen versucht und Stalin weiterhin als großen Mann betrachtet. Immerhin hat er diesen Krieg gewonnen. Daß danach halb Europa unterjocht wurde, muß Putin nicht stören. Doch es hat schon etwas Pathologisches, wenn jemand wie Elsässer der Meinung ist, man könne sich den Respekt der Russen mit solch einer Kollaboration verdienen. Denn letztlich ist es eine Demütigung, vergleichbar etwa mit der Fahrt eines deutschen Rockerclubs ab dem 22. Juni auf den Spuren der Wehrmacht bis kurz vor Moskau.
In Elsässers Logik wird aus der Provokation der »Nachtwölfe« also ein Bündnisangebot der Russen an die guten Deutschen, die sich nicht vom Amerikaner haben kaufen lassen. Elsässer macht sich dabei die Tatsache zunutze, daß Putin vom offiziellen Deutschland wegen der Krim gerade etwas geschnitten wird. Sonst wären diese Rocker vermutlich sogar im Bundestag empfangen worden. So aber ist er es, der sich diesen Leuten andienen kann und obendrein als mutiger Querdenker dasteht. Aber auch hier wird über das Leid der Vorfahren und die Zerschlagung Deutschlands hinweggegangen. Die Gegenwart, die Konfrontation von NATO und Rußland, gilt als einziger Maßstab.
Beide, Aly und Elsässer, stehen sich damit geschichtspolitisch näher, als sie vermutlich ahnen. Sie sind beide so etwas wie die ungezogenen Kinder der BRD, die ihre Lektion zwar gelernt haben, dabei aber gelegentlich etwas über die Stränge schlagen. Der eine keilt etwas heftig gegen die NATO, der andere gegen das eigene Volk. Aber beide haben verstanden, daß Deutschland als historisch widerlegt zu gelten hat, und sie tun alles dafür, daß das so bleibt. Die Rede von Glück oder Souveränität kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß beides immer nur unter Akzeptanz und Betonung des einen geschichtspolitischen Dogmas erlangt werden soll: Gegen die deutsche Bestie war jedes Mittel recht.
Geschichtspolitisch stellt diese Konstellation so etwas wie den vorläufigen Endpunkt der deutschen Entwicklung dar. Die große, negative Erzählung ist mittlerweile so stark, daß selbst jene, die dagegen anschreiben, nicht in der Lage sind, sie zu hintergehen. Die Ansicht, Deutschland sei 1945 befreit worden, ist so sehr im deutschen Denken verhaftet, daß jegliches Abweichen davon als denkunmöglich gilt. Während unmittelbar nach dem Krieg die Tatsache, daß es sich um eine Niederlage und um eine Katastrophe handelte, unübersehbar war, wuchs mit zunehmenden Abstand und Wohlstand der Wunsch, zu den Siegern der Geschichte zu gehören. Da man das objektiv nicht war, konnte das nur durch eine Umdeutung der Niederlage selbst erreicht werden.
Beide, Aly und Elsässer, sind durch eine geschichtspolitische Weichenstellung geprägt, die sich an der berühmten Weizsäckerrede vom 8. Mai 1985 festmachen läßt. Gab es damals noch verhaltenen Widerstand gegen die Umdeutung der Niederlage in eine Befreiung, sind in dieser Frage nach der Wiedervereinigung alle Hemmungen gefallen. Die Deutschen dürfen seither sogar an den Siegesfeierlichkeiten der Alliierten teilnehmen. Allerdings bleibt es dem Belieben der Befreier anheimgestellt, in welcher Rolle sie die Deutschen dazubitten. In dieser Hinsicht hat sich geschichtspolitisch nichts geändert: Braucht man die Deutschen, war Hitler an allem schuld. Folgen die Deutschen nicht, sind wir doch wieder alle verantwortlich, egal ob befreit oder besiegt. Die deutsche Innenansicht ist da einfacher: Uns geht es gut, die Nazizeit war schlimm, also wurden wir befreit. Wie wichtig die Weichenstellung Weizsäckers als Vertreter der »Täter« war, zeigt eine Überschrift anläßlich seines Todes in der Welt: »Er hat uns befreit«.
Bundespräsident Gauck ist in diese Fußstapfen getreten und hat damit all jene vor den Kopf gestoßen, die geglaubt hatten, daß jemand, der die Geschichtspolitik der DDR erlebte, über einen anderen Maßstab verfüge. Wer, wenn nicht er, müßte wissen, daß die Behauptung von der Befreiung eine Lüge war, hinter der sich Stalins barbarischer Eroberungsfeldzug verbarg. Oder daß es sich beim Nationalsozialismus um keine übergeschichtliche Erscheinung handelte, sondern um etwas, dessen extreme Ausformungen in der menschlichen Destruktivität begründet liegen. Gauck weiß das in der Tat alles. Er hat in seiner Zeit als Hüter der Stasiunterlagen nicht nur einmal in diesem Sinne einen Vergleich zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus angestellt. Daher schrillten auch bei vielen Linken die Alarmglocken, als Gauck Präsident werden sollte; sogar von einem anstehenden geschichtspolitischen Umbruch war damals die Rede. Doch Gauck hat schnell gelernt, wie seine diesjährige Ansprache in Dresden deutlich macht: »Die meisten von uns haben sich auch von jenem Selbstbild als Opfer verabschiedet, in dem sich viele in der Nachkriegszeit eingerichtet hatten, als sie das Selbstmitleid pflegten und sich gegen das Leid der Opfer von Deutschen abschotteten. Inzwischen wissen wir nämlich: Wer bereit ist, die Fixierung auf das eigene Schicksal zu überwinden, erfährt auch einen Akt der Selbstbefreiung.«
Das ist sie, die geschichtspolitische Klammer, in die sich nicht nur Gauck, sondern auch Aly und Elsässer zwingen lassen. Alle saugen ihren Nektar aus dem Dogma, daß wir 1945 befreit wurden und nutzen es für ihr jeweiliges politisches Ziel. Bei Gauck ist das nicht das Bündnis mit Rußland oder ein persönliches Geschäft, sondern die Staatsraison einer Schuldnation, deren Lebenszweck darin besteht, sich für das Leid in der ganzen Welt verantwortlich zu fühlen. Aus dieser Einstellung werden seine Forderungen verstehbar, möglichst viele Flüchtlinge aufzunehmen und den Griechen Entschädigungen für den Zweiten Weltkrieg zu zahlen. Sein »Auftrag« an die Deutschen lautet: Wir müssen »uns jeder Art von Ausgrenzung und Gewalt entgegenstellen und jenen, die vor Verfolgung, Terror und Krieg zu uns flüchten, eine sichere Heimstatt bieten«.
Gauck sollte, im Gegensatz zu Aly und Elsässer, für die Geschichtspolitik auch ein Erwerbszweig ist, keinerlei Grund haben, gegen seine Überzeugung unter dieses Joch zu kriechen. Und so muß konstatiert werden: Dies ist mittlerweile seine innerste Überzeugung, und auch durch ihn bildet sie mittlerweile das Zentrum der deutschen Identität. Daß er diesem Zentrum mit pastoralen Worten Ausdruck verleiht, hat ihm den Ruf eines »Klartext-Präsidenten« eingebracht und die Forderung nach einer zweiten Amtszeit laut werden lassen.
Wie stark dieser Sog ist, zeigt nicht zuletzt die Einhelligkeit, mit der von links nach rechts, von oben nach unten und von Ost nach West innerhalb des geschichtspolitischen Rahmens argumentiert wird. Sogar die Junge Freiheit läßt durch ihren Chefredakteur feststellen: »Die Frage der geschichtspolitischen Verortung ist die Voraussetzung für jeden konservativen, rechten Denkansatz. Und hier ist der Dreh- und Angelpunkt die Haltung zum Dritten Reich und seinem verbrecherischen Charakter.« Vor zwei Jahrzehnten hätten das nur eingefleischte NS-Nostalgiker und Joschka Fischer unterschrieben.
Die Einigkeit gewährleistet auch, daß kein Vertreter zugeben wird, er betreibe Geschichtspolitik. Denn es gehört zum Selbstverständnis des demokratischen Gemeinwesens der Bundesrepublik, der Wahrheit verpflichtet zu sein. Im Gegensatz zu Diktaturen und der dunklen Vergangenheit überläßt man die Geschichte der Wissenschaft. Die Politik beschäftigt sich mit der Gegenwart und folgt bei geschichtlichen Äußerungen der wissenschaftlich ermittelten Wahrheit. Deshalb wird der Vorwurf, daß Geschichte zu politischen Zwecken mißbraucht würde, nur an diejenigen gerichtet, die an diesem Dogma immer noch zweifeln. Das war schon im Historikerstreit so und ist heute nicht anders, mehr: sogar besonders be- liebt, um den Gegner öffentlich zu markieren. Wer gegen das demokratische Wahrheitsgebot verstößt, verletzt die Spielregeln und muß in Zukunft zuschauen.
Dabei dürfte klar sein, daß für die Geschichtswissenschaft andere Spielregeln gelten als für die Mathematik. Denn sie bietet sich besonders gut als Magd der Politik an. Und natürlich leistet sie diesen Dienst am besten, wenn diese Funktion vertuscht wird: Von der »antiideologischen Wirkung der Geschichte« (Thomas Nipperdey) bleibt nicht viel übrig, wenn sie im Kampf der Ideologien zum Einsatz kommt. Dabei muß mit Geschichtspolitik nicht Fälschung oder Manipulation gemeint sein, sondern die Schaffung einer Identität, mittels derer die Selbstbehauptung des Gemeinwesens leichter fallen soll. Das ist im Laufe der letzten zweihundert Jahre durchaus nicht selten der Fall gewesen. Beginnend mit Fichtes Reden an die deutsche Nation, in denen er explizit eine Stärkung des Nationalgefühls durch eine entsprechende Geschichtsschreibung forderte, über den langen Prozeß der Reichseinigung, in der die Nation gegen die Tradition des Reiches siegte, bis hin zur Frage, wie man das Bewußtsein der Schmach von 1918 wachhalte: Immer diente die Geschichtspolitik einem übergeordneten Ziel und wurde nicht auf die Ebene der Ideologien herabgezogen.
Dazu ist es jedoch notwendig, in der eigenen Geschichte etwas Positives zu sehen. Da dieser Weg für Deutschland der Kappung der historischen Wurzeln gleichkommt, ist Deutschland zum Vorreiter einer Entwicklung geworden, die man als geschichtspolitische Absolutsetzung der Gegenwart bezeichnen könnte. Die Geschichte hat kein Eigenrecht mehr und die Akteure der Vergangenheit müssen sich nicht vor ihren Zeitgenossen verantworten, sondern vor den Nachgeborenen. Diese sind gleichzeitig so sehr auf ihre geschichtliche Schuld fixiert, daß daraus ein ewiger Teufelskreis resultiert, der bereits pathologisch geworden ist. Wer seine Identität aus geschichtlicher Schuld ableitet, dem »zerbröckelt und entartet das Leben« (Nietzsche) – und die Geschichte.