Martin Heidegger ging wahrscheinlich nur selten ins Kino und hat sich auch kaum über den Film als Phänomen oder Kunstform geäußert. Immerhin ist überliefert, daß der eher dem Wandern und Skifahren zugeneigte Philosoph von Akira Kurosawas Klassiker Rashomon aus dem Jahre 1950 äußerst beeindruckt war. Heidegger erwähnt diesen Film, der das japanische Kino im Westen schlagartig bekannt machte, in seinem 1953/54 verfaßten Dialog Aus einem Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden (GA 12) zwar lobend, aber mit deutlichen Vorbehalten. Der »Frager«, der für den Philosophen selbst steht, glaubt, durch diesen Film »das Bezaubernde der japanischen Welt« erfahren zu haben, »das in das Geheimnis entführt«. Zu seiner Überraschung stellt sein japanischer Gesprächspartner jedoch in Abrede, daß Rashomon eine authentische Erfahrung dieser Welt ermögliche. Er sieht in ihm eher ein Beispiel für die vom Frager angesprochene »vollständige Europäisierung der Erde und des Menschen«, die »alles Wesenhafte in seinen Quellen anzehrt.« Das Problem liegt dabei nicht in der mangelnden ästhetischen Qualität des besagten Films, sondern im Medium selbst und in dem Umstand, »daß die japanische Welt überhaupt in das Gegenständliche der Photographie eingefangen und für diese eigens gestellt ist.« Die »ostasiatische Welt« und das »technisch-ästhetische Produkt der Filmindustrie« seien »miteinander unvereinbar«: »Schon die Tatsache, daß unsere Welt in den Film herausgestellt wird, drängt diese Welt in den Bezirk dessen, was Sie das Gegenständige nennen. Die filmische Vergegenständigung ist bereits eine Folge der immer weiter vorausgreifenden Europäisierung.« Der Film als Film wäre also ein Produkt bloß »der vordergründigen Welt Japans«, die bereits »durchaus« europäisch oder amerikanisch sei; die »hintergründige japanische Welt, besser gesagt, das, was sie selber ist, erfahren Sie dagegen im No-Spiel.«
In Heideggers Terminologie könnte man sagen, daß demzufolge das Medium Film das Sein der japanischen Welt eher verbirgt als enthüllt, vielleicht sogar generell als Kunstform eine Schwundstufe darstellt. Offenbar hat dies auch mit seinem technischen Charakter zu tun: Denn um einen Film herzustellen, bedarf es der Mechanik und der Maschinen. Vom »Gestellten« und »Herausgestellten« – in diesem Fall: der japanischen Welt in den Film – ist es nicht mehr weit zu Heideggers Definition der Technik als »Ge-Stell«, das den Zugang zur Wahrheit verstellt und die Seinsvergessenheit befördert. In seiner Rede »Gelassenheit« aus dem Jahre 1955 bezeichnete Heidegger Film und Rundfunk als Agenten der Entortung des Menschen. Die »in der Heimat Gebliebenen« seien vielfach »noch heimatloser als die Heimatvertriebenen. Stündlich und täglich sind sie an den Hör- und Fernsehfunk gebannt. Wöchentlich holt sie der Film weg in ungewohnte, oft nur gewöhnliche Vorstellungsbezirke, die eine Welt vortäuschen, die keine Welt ist.« Schon sei die sekundäre Welt der »technischen Nachrichteninstrumente«, die »den Menschen stündlich reizen, überfallen, umtreiben«, ihm viel näher »als das eigene Ackerfeld rings um den Hof, näher als der Himmel überm Land, näher als der Stundengang von Tag und Nacht, näher als Brauch und Sitte im Dorf, näher als die Überlieferung der heimatlichen Welt.«
Während nun die politischen Avantgarden den Film seit den zwanziger Jahren unter anderem gerade wegen seines Technik- und Massencharakters als die große, revolutionäre Kunstform des 20. Jahrhunderts gepriesen hatten, hielten sich die Vorbehalte der kulturpessimistischen Konservativen, zu denen man zumindest in diesem Kontext auch Heidegger zählen kann, äußerst hartnäckig. Noch 1958 sah der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr in seiner Studie Kunst und Wahrheit den Film als einen eher problematischen Grenzfall des künstlerischen Schaffens. Als Kennzeichen eines authentischen Kunstwerkes nannte er seine Kraft, die »geschichtliche« oder »vulgäre« Zeit aufzuheben und eine ontisch gänzlich andere Seinsweise der Zeit erfahrbar zu machen, wie man es etwa »beim Anhören eines wahren Kunstwerks der Musik« erlebe. Im Anschluß an Franz von Baader bezeichnete er die Zeit, die in der ruhenden, »ewigen« Gegenwart des Kunstwerkes erfahrbar wird, als »wahre Zeit«, die im Gegensatz zur »Scheinzeit« des alltäglichen Daseins steht, dem die Dimension des Ewigen, des Seins also fehlt, das »als immer seiend, als immer gewesen seiend und als immer sein werdend« definiert werden muß. Dem liegen freilich gewisse theologische Voraussetzungen zugrunde, die mit Sedlmayrs Auffassung korrespondieren, daß die wahrhafte Kunst stets eine Fühlung zu der sakralen »Mitte« des Seins, also auch mit der »Wahrheit« aufrechterhalte. Ein »besonders verhängnisvoller« Irrtum sei es jedoch, »die Scheinzeit mit ihrem Charakter der Last, der Sorge und der ›Geworfenheit‹ für den Prototyp der Zeitlichkeit überhaupt zu halten«, als könne über die »Scheinzeit« hinaus Zeit gar nicht erlebt werden – ein deutlicher Verweis auf die »Existenzialen« Martin Heideggers, die das Wesen des menschlichen Daseins beschreiben.
Im Gegensatz zu den anderen »zeitlichen«, also in der Zeit ablaufenden Künsten wie Tanz, Drama oder Musik gelinge es nun dem Film, einem Produkt der Moderne, nur in ganz seltenen Fällen die »wahre«, über das Triviale hinaushebende Zeit erfahrbar zu machen. Ja, er habe vielmehr »von sich aus, als Gattung, im allgemeinen keinen Bezug zur wahren Zeit.« Vielmehr sei der Film ein »Paradigma für die Struktur der ›Scheinzeit‹«, ganz im Gegensatz zur Musik, die als »Paradigma der Seinsweise der wahren Zeit« par excellence gelten kann. »Die Zeit, die im Film abläuft, ist nur scheinbar verschieden von der vulgären Zeit. Auch wenn seine Zeit je aus Fragmenten der vulgären Zeit (oder selbst der geschichtlichen) gestückelt und insofern der Alltagszeit entgegengesetzt ist, erhebt sie sich nur ausnahmsweise in die wahre Zeit des Kunstwerks, sondern beschwört allenfalls nur die chaotische zerstückte Zeitlichkeit des Traums.« Die Liaison des Films mit der »schlechten Zeit« zeige sich auch an seiner »Abhängigkeit von der Musik und dem Wort. Stumme Filme ohne musikalische Begleitung haben etwas Gespenstisches an sich und sind kaum erträglich.« Der Film bedürfe »im allgemeinen der Krücke der Musik, weil sogar in der banalsten noch mehr Bezug zur wahren Zeit besteht als in ihm selbst.«
Man tut Heidegger und Sedlmayr gewiß nicht unrecht, wenn man feststellt, daß sie offenbar nicht nur wenig Verständnis für das Wesen, sondern auch wenig Kenntnis von der Mannigfaltigkeit der Filmkunst hatten. 1958, als Sedlmayr diese Zeilen schreib, war unter anderem das Erscheinungsjahr von Hitchcocks Vertigo, Bergmans Das Gesicht, Ozus Sommerblüten, Tatis Mon Oncle, Satyajt Rays Das Musikzimmer, Wajdas Asche und Diamant und Orson Welles’ Touch of Evil – eine wahrlich reichhaltige Ernte an Meisterwerken. Gewiß haben beide Kritiker einige problematische Punkte markiert: Der Film ist wie keine andere Kunstform von kommerzieller Verwertbarkeit abhängig, und der Großteil der laufenden Produktion dient hauptsächlich dem einmaligen Gebrauch und Reizverbrauch. Und in der Tat ist die Wirkung der meisten Filme weiterhin stark abhängig von der Musik, verstanden als bloßes Untermalungsmoment. Der französische Regisseur Robert Bresson, einer der radikalsten Innovatoren des filmischen Erzählens, notierte: »Wie viele Filme werden durch Musik zusammengeflickt! Man überschwemmt einen Film mit Musik und vertuscht, daß in diesen Bildern nichts ist.«
Hinzu kommt, daß sich der Film seit seiner Erfindung in einem ständigen experimentellen Entwicklungsprozeß befindet, der bis heute andauert. Die Filmschöpfer haben stets mit der Frage gerungen, ob sich der Film von den traditionellen Künsten emanzipieren könne, um zu einer »reinen« Gattung zu werden. Dabei waren sie von Anfang an davon fasziniert, mit einer Kamera eine scheinbar völlig objektive und von aller Wertung freie Wahrnehmungsmaschine zur Verfügung zu haben, die »naturalistisch« registriert, was ihr vorgesetzt wird. Und doch ist das Material, das die Kameras und Tonbandgeräte sozusagen aus der Wirklichkeit saugen, Baustein für Neuschöpfungen, die einerseits die künstlichen Paradiese der Traumfabriken füllen, andererseits eine radikal subjektive und persönliche Sicht auf die Dinge zulassen. Diese Sicht kann die Wirklichkeit »hinter der Wirklichkeit« oder auch das Wirkliche des Wirklichen sichtbar machen, nicht anders als manche Werke der Malerei, allerdings mit gänzlich anderen Mitteln. Bresson schrieb: »Dein Film wird von jener Schönheit, jener Traurigkeit, jener usw. sein, die man einer Stadt, einer Landschaft, einem Haus zuschreibt, und nicht von jener Schönheit, jener Traurigkeit, jener usw., die man der Photographie einer Stadt, einer Landschaft, eines Hauses zuschreibt.« Daher kann auch das »Gestell« der filmtechnischen Mittel dazu dienen, ein So-Sein der Dinge an ihrem eigenen Ort zu »entbergen«, sie sozusagen, um einen weiteren Begriff Heideggers zu benutzen, in die »Lichtung« jenes Lichtvierecks zu stellen, das der Strahl des Projektors auf die Leinwand in der platonischen Höhle des Kinos wirft. Es bedarf dazu allerdings eines berufenen Künstlers, der der Maschine seinen Blick aufzwingt. Hier ereignet sich mitunter eine Art von Alchemie, die selbst die Technik geistig zu durchdringen scheint. Die Polaroid-Photos, die der russische Regisseur Andrej Tarkowskij während einer Suche nach Drehorten in Italien mit einer billigen Kamera schoß, haben wundersamerweise dieselbe mysteriöse Aura und Schönheit, die seine Filme so unverwechselbar machen.
In seinem Buch Die versiegelte Zeit (1984) versuchte Tarkowskij eine Poetik des Films zu formulieren, die sich vehement von der Auffassung absetzt, das Kino sei nicht mehr als eine Synthese oder Interaktion verwandter Kunstarten und besitze keine eigenen Ausdrucksmittel. Wie Heidegger und Sedlmayr betonte er, daß die Kunst, wenn sie denn echte Kunst sei, mit der Wahrheit in Verbindung stehen müsse: »Die Kunst ist dann realistisch, wenn sie ein moralisches Ideal auszudrücken strebt. Realismus ist das Streben nach Wahrheit, und die Wahrheit ist immer schön.« Dies hat nichts mit einer »Idealisierung« der Wirklichkeit zu tun, sondern mit der Wahrhaftigkeit der Darstellung – ein Streben, das metaphysische Bezirke berührt, auf Katharsis im klassischen Sinne abzielt: »Das Ziel der Kunst besteht darin, den Menschen auf seinen Tod vorzubereiten, ihn in seinem tiefsten Inneren betroffen zu machen. Begegnet der Mensch einem Meisterwerk, so beginnt er in sich jene Stimme zu vernehmen, die auch den Künstler inspirierte. Im Kontakt mit einem solchen Kunstwerk erfährt der Betrachter eine tiefe und reinigende Erschütterung.« Als Grundstoff der Filmkunst nannte Tarkowskij die Zeit: »So ähnlich wie das in der Musik der Ton, in der Malerei die Farbe oder im Drama der Charakter ist.« Man könne etwa einen Film derart reduzieren, daß er weder Schauspieler noch Bauten, noch Musik, noch Montagen enthalte. Was stets bleibt, ist der Zeitfluß: »Das filmische Bild wird völlig vom Rhythmus beherrscht, der den Zeitfluß innerhalb einer Einstellung wiedergibt«.
Der Filmschöpfer ist also eine Art Architekt oder »Bildhauer« der Zeit, und er muß den Rhythmus seines Films genauso präzise handhaben wie ein Lyriker oder ein Musiker. Vom richtigen, geglückten Rhythmus aber hängt die Wahrhaftigkeit einer Filmszene ebenso ab wie jene eines Gedichtes oder eines Musikstückes. »Die Grundidee von Film als Kunst ist die in ihren faktischen Formen und Phänomen festgehaltene Zeit.« Im Brennpunkt der im filmischen Bild verdichteten Zeit erscheinen die Dinge in einem neuen Licht – das russische Wort »svet« bedeutet sowohl »Licht« als auch »Welt«. Der »richtige Weg filmischer Poesie« führte für Tarkowskij nicht über »das Poetische« in einem klischierten Sinn, sondern über das Konkrete, das Sein, das in der Zeit offenbar wird: »Denn das filmische Bild ist seinem Wesen nach die Beobachtung eines in der Zeit angesiedelten Phänomens.« Das filmische Bild macht sichtbar und erfahrbar, was der Alltagsblick zu sehen verlernt hat. In seinen Tagebüchern notierte Tarkowskij: »Wir schauen nur, aber wir sehen nicht.« Die Nähe einer solchen Poetik zu Heideggers Denken sollte spätestens an diesem Punkt deutlich geworden sein. Tarkowskij nannte japanische Haikus und deren »reine, subtile und komplexe Beobachtung des Lebens« als paradigmatische Beispiele für die Kraft der Poesie, die Wahrnehmung auf ein So-Sein hin zu bündeln und seine Teilhabe am Ewigen erahnen zu lassen. Die Sujets der Haikus, dieser auf das Wesentliche verknappten Dreizeiler, sind bekanntlich einfach und alltäglich: Bashôs Frosch, der in das Wasser des alten Teiches springt – »Plätschern in der Stille« –, ist eines der berühmtesten Beispiele. Heidegger wählte in seiner Schrift Der Ursprung des Kunstwerkes (1935/36) nicht ohne Grund van Goghs Darstellung einer so banalen und »unpoetischen« Sache wie des Schuhwerks von Bauern als Anschauungsbeispiel: »Van Goghs Gemälde ist die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernschuhe, in Wahrheit ist. Dieses Seiende tritt in die Unverborgenheit seines Seins heraus. … So wäre denn das Wesen der Kunst dieses: das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit des Seienden.«
Von diesem Punkt aus führt auch eine deutliche Spur zu dem 1943 geborenen amerikanischen Regisseur Terrence Malick, einem nahen Geistesverwandten Tarkowskijs. Hier läßt sich sogar eine unmittelbare Verbindung zu Martin Heidegger herstellen: Malick hatte ursprünglich eine akademische Laufbahn eingeschlagen und in Harvard und Oxford Philosophie studiert. 1969 übersetzte er Heideggers Aufsatz Vom Wesen des Grundes ins Englische. Eine geplante Doktorarbeit über das Weltkonzept von Kierkegaard, Wittgenstein und Heidegger brach er ab, um sich statt dessen dem Film zuzuwenden. Sein Debüt Badlands (1973) wurde von der Kritik enthusiastisch aufgenommen. Die in den fünfziger Jahren angesiedelte Geschichte um ein junges Paar im Mittleren Westen, das eher aus Naivität denn aus Bösartigkeit zu »jugendlichen Delinquenten« und mordenden Outlaws wird, verblüffte durch einen ungewöhnlich lyrischen Tonfall. In einem gewissen Sinne fing der Film die Welt und die Seele der USA nicht minder zauberisch ein als Rashomon die Welt Japans – und diesmal wohl ohne innere Diskrepanz zu der zugrundeliegenden Kultur. Jahrzehnte später bemerkte der Hauptdarsteller Martin Sheen: »Es war hypnotisch, überwältigend. Ein Film, der in einer bestimmten Zeitperiode angesiedelt und zugleich zeitlos war. Er war extrem amerikanisch, fing den Geist der Menschen und der Kultur ein und ließ sie auf Anhieb wiedererkennen.« Malicks zweiter Film, Days of Heaven (1978), zementierte endgültig seinen Status als einer der bedeutendsten jungen Regisseure der USA. Danach verschwand er unerwartet für fast zwei Jahrzehnte von der Bildfläche, und kehrte erst 1999 mit dem Kriegsfilm Thin Red Line (»Der schmale Grat«) zurück. Seither arbeitet Malick wieder »kontinuierlich« für das Kino; etwa alle fünf Jahre erscheint eine neue Arbeit: The New World (2005), The Tree of Life (2011) und zuletzt To The Wonder (2012). Die Gründe für seine lange Absenz behält der notorisch zurückgezogene Regisseur für sich: Malick tritt nur selten öffentlich auf und gibt keine Interviews mehr.
Damit sind den Interpretationen seines oft enigmatischen Werkes keine Grenzen gesetzt. Bereits 1979 prägte Stanley Cavell, sein ehemaliger Lehrer in Harvard, im Hinblick auf Days of Heaven das Schlagwort vom »heideggerianischen Kino« und behauptete sogar eine grundsätzliche Parallele zwischen Heideggers Denken und dem Medium Film. Seither taucht der Name Heideggers immer wieder auf, wenn von Malick die Rede ist, während sich die Gelehrten den Kopf darüber zerbrechen, worin der Einfluß des Denkers auf den Regisseur nun genau besteht. Ein Beispiel dafür ist der in diesem Kontext vielzitierte Aufsatz von Hubert L. Dreyfus, »›Sterben‹ und ›Ableben‹ in Terrence Malicks ›The Thin Red Line‹«, der den Film mit Hilfe von existenzphilosophischen Kategorien Heideggers abklopft. Das ist jedoch ein eher müßiges und im Ergebnis auch langweiliges Exerzitium, das man auf beliebig viele andere Filme anwenden könnte.
Fruchtbarer scheint es, nach der inneren Verwandtschaft der Kunstauffassungen Heideggers, Sedlmayrs, Tarkowskijs und Malicks zu suchen. In Malicks Fall ist man auf die Werke selbst angewiesen, deren »Philosophie« vor allem auf der nichtsprachlichen Ebene der puren, ungefilterten Bilder und Emotionen wirkt. Nicht zu vergessen die Musik, die der Regisseur mit unvergleichlicher Effektivität auszuwählen versteht: von Orff, Mahler und Wagner bis zu Tavener, Ives und Pärt. Wie Tarkowskij zieht er es vor, in der freien Natur zu drehen und mit natürlichem Licht zu arbeiten: »Nichts reicht an das Licht Gottes heran«, sagte er in einem frühen Interview. Seine Kamera ist dabei in einer ständigen, fließenden Bewegung und fängt häufig Dinge ein, die mit der eigentlichen Handlung auf den ersten Blick nichts zu tun haben: ein vorüberziehender Vogelschwarm am Himmel, Sonnenstrahlen, die zufällig auf ein Gesicht fallen, ein Windstoß, der durch die Gräser fährt, in denen eben zwei von Kugeln getroffene Soldaten versunken sind.
Überhaupt tritt die »Handlung« in den späteren Filmen Malicks immer mehr in den Hintergrund zugunsten eines freischwebenden Stromes aus Zeitfragmenten, in denen Gegenwart und Vergangenheit, Erleben und Erinnerung eins werden. Anstelle von Dialogen setzt er ein vielstimmiges Ensemble aus inneren Monologen, geflüsterten Gedanken, Gebeten, Gefühls- und Wahrnehmungssplittern. Sein bislang kühnster Film, The Tree of Life, eine überwältigende Symphonie aus Bildern und Tönen, verknüpft die Kindheitserinnerungen seines Protagonisten mit Ur-Bildern archaischer Meere, kosmischer Wirbel, blubbernder Geysire, vulkanischer Eruptionen und schattiger Urwälder, Szenerien wie aus den ersten Tagen oder Jahrtausenden der Schöpfung, als stünde eine einzige Menschenseele in Verbindung mit allen Dingen, die jemals waren und jemals sein werden. »Dort oben wohnt Gott!« jubelt eine junge Mutter, überwältigt von Lebensfreude, ihrem kleinen Sohn zu und deutet auf einen von rauschenden Baumwipfeln gesäumten Himmel voller majestätischer Wolken, während Smetanas triumphale Moldau erklingt. Später wird die Mutter an diesem Gott zweifeln und verzweifeln, denn eines ihrer Kinder stirbt bei einem Unfall, und ebenso äußert sich dessen Bruder, der spätere Erwachsene, dessen visionär durchsetzte Erinnerung der ganze Film ist: »Warum soll ich gut sein, wenn du es nicht bist?«, fragt er Gott, den er aus Groll töten möchte und von dem er womöglich nur eine falsche Vorstellung hat.
Gewiß wird in Malicks Filmen auch viel und explizit »philosophiert«, besonders in The Thin Red Line: Seine ständig um Fassung ringenden, traumatisierten amerikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg auf einer pazifischen Insel töten und sterben müssen, sehen sich inmitten des Grauens und Blutvergießens in eine unbegreifliche Paradieslandschaft gestellt, die zugleich anwesend und unbeteiligt ist wie ein allgegenwärtiger Gott, dessen Schönheit nur des Schrecklichen Anfang ist. In ständiger Todesgefahr sind sie, um es mit Heidegger zu sagen, mit Furcht und Zittern in die »helle Nacht des Nichts der Angst« gestellt, in der den Dingen und Kreaturen ein um so intensiveres Sein zukommt, während der Sinn ihrer Existenz und ihres Leidens verborgen bleibt. Auch theologische und christliche Töne klingen an. Ein roter Faden ist etwa das Motiv der gefallenen und zum Bösen korrumpierten Natur: »Was ist das für ein Krieg im Herzen der Natur?« fragt eine Stimme aus dem Chor der Soldaten. »Warum ist die Natur uneins mit sich selbst? Warum kämpft das Land mit dem Meer? Gibt es eine rächende Kraft in der Natur?«
Ohne Zweifel von Heidegger inspiriert ist auch jene Szene, in der der junge Soldat Witt, der sich aufopfert, um seinen fliehenden Kameraden einen rettenden Vorsprung zu ermöglichen, in eine Lichtung tritt, wo er von den feindlichen Japanern gestellt und umzingelt wird. Sie rufen ihm Worte zu, die er nicht verstehen kann, die aber mehr als deutlich seine Kapitulation und die Niederlegung der Waffe fordern. In diesem Moment kehrt eine hochkonzentrierte Ruhe in ihm ein, ohne daß ihn die Angst verließe; langsam bewegt sich die Kamera auf sein Gesicht zu; er weiß, daß nun der Moment gekommen ist, auf den sich sein ganzes Dasein zugespitzt hat. Ein einziger, im Bruchteil einer Sekunde vergehender Moment entscheidet über Leben und Tod, als er, auf den die Mündungen der Gewehre zielen, seine Waffe hebt. Der tödliche Schuß fällt, Witt stürzt aus dem Bild, dann ein jäher Schnitt auf das Blätterdach des Dschungels, durch das die Strahlen der Sonne blitzen. Alles ist Licht, alles ist Erfüllung, alles ist Sein, selbst und gerade im Moment des Todes. »Wo ist dein Funke jetzt, Witt?« fragt sein abgebrühter und glaubensloser Vorgesetzter an seinem Grab. Wir, die Zuschauer haben ihn gesehen, und sehen ihn immer noch.
Der Film endet mit dem Blick eines eingeschifften Soldaten auf die sich immer weiter entfernende Insel in der Dämmerung, während sein in und zu sich selbst gesprochenes Gebet zu hören ist: »O meine Seele, laß mich nun in dir sein. Sieh durch meine Augen. Sieh die Dinge, die du geschaffen hast. Alle Dinge leuchten.« Wenn sich die Filme von Terrence Malick auf einen Nenner bringen lassen, dann vielleicht mit diesem Satz von Heidegger: »Einzig der Mensch unter allem Seienden erfährt, angerufen von der Stimme des Seins, das Wunder aller Wunder: daß Seiendes ist.«