Was kann die Gegenwart mit dem »letzten Helden, den die Neuzeit erblickt hat« (Egon Friedell), anfangen? Zum 200. Geburtstag Otto von Bismarcks am 1. April kann sie ihn nicht ignorieren, sondern muß ihm eine Sonderbriefmarke widmen und den Versuch einer geschichtspolitischen Einordnung wagen. Welche Tendenz dabei verfolgt wird, zeigt bereits der von Arte am 21. Februar 2015 ausgestrahlte Film Bismarck – Härte und Empfindsamkeit. Abgesehen davon, daß er über weite Strecken langweilig ist, wiederholt er bekannte Unwahrheiten. So präsentiert der Arte-Film die faktenverfälschende These, daß Preußen 1870 einen Angriffskrieg gegen Frankreich vom Zaun gebrochen und Bismarck diesen anhand der Emser Depesche erzwungen habe. Tatsächlich aber hatten die nationalchauvinistischen Kräfte in Frankreich, besonders der Preußen feindlich gesonnene Außenminister, der Herzog von Gramont, den Krieg von 1870/71 zu verantworten. Nicht zufrieden damit, daß der Erbprinz Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen unter Frankreichs Druck auf die ihm angetragene Kandidatur für den spanischen Thron verzichtet hatte, forderte der französische Botschafter in Berlin, Benedetti, von dem in Bad Ems zur Kur weilenden Preußenkönig Wilhelm I. dies: Er solle verbindlich zusichern, daß er auch künftig keiner Kandidatur Leopolds zustimmen werde. Der Kaiser lehnte diese Forderung ab. Daß Bismarck das diplomatische Hin und Her verkürzt der Presse mitteilte und die französischen Übersetzungen den Ton noch verschärften, brachte das Faß lediglich zum Überlaufen. Frankreich wollte den Krieg, schätzte die eigene Stärke falsch ein und suchte nur noch nach einem Anlaß.
Bis zu seiner Ernennung zum preußischen Ministerpräsidenten am 23. September 1862 hatte Bismarck nur in überschaubarem Maße Karriere gemacht. Das nach seinem ersten juristischen Staatsexamen 1835 begonnene Referendariat brach er ab, seit der Revolution von 1848 galt er als »reaktionärer« Junker und erst mit der Berufung zum preußischen Gesandten am Bundestag in Frankfurt/Main 1851 gelangte er zu einem bedeutenden Posten. Als er nach Gesandtschaften am russischen Zarenhof in St. Petersburg (1859–62) sowie bei Frankreichs Kaiser Napoleon III. in Paris (1862) Preußens starker Mann geworden war und König Wilhelm I. half, den wegen der Heeresreform ausgebrochenen Konflikt mit dem Parlament erfolgreich zu bestehen, stieg er geradezu kometenhaft auf. Der gemeinsam mit Österreich errungene Sieg im Deutsch-Dänischen Krieg von 1864 zeigte ihn erstmals als Staatsmann auf der großen Bühne europäischer Diplomatie. Als im Deutschen Krieg von 1866 nach dem preußischen Sieg über die Österreicher bei Königgrätz Wilhelm I. und die preußischen Militärs einen Siegfrieden wollten, setzte Bismarck die Schonung des besiegten Gegners durch, was sich später bezahlt machen sollte. Bad Ems 1870 war dann das Meisterstück Bismarcks und brachte am Ende des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 mit der Gründung des Deutschen Reiches im Spiegelsaal des Schlosses Versailles (18. Januar 1871) den »kleindeutschen« Nationalstaat. Es war die Krönung von Bismarcks Wirken: Vom »reaktionären« preußischen Junker war er zu einem Staatsmann europäischen Formats aufgestiegen.
Die Existenz Deutschlands, das seit der Reichsgründung als selbständiger Akteur auf der Weltbühne auftrat, stellte sich als eine sehr verletzliche Schöpfung dar. Gefahr lag immer in der Luft und drohte von allen Seiten. Was Bismarck Anfang Dezember 1870, mitten im Krieg gegen Frankreich, gesagt hatte (daß man auf der Spitze eines Blitzableiters balanciere), traf nach wie vor zu, und der cauchemar des coalitions verfolgte ihn unentwegt. Im Wissen darum, daß der neue Akteur im europäischen Staatensystem von seinen alteingesessenen Nachbarn stets mit Argwohn gesehen werden würde, gestaltete Bismarck seine Außenpolitik so, daß eine Isolation Deutschlands vermieden werden konnte. Dieses Jonglieren mit fünf Bällen (wie er es nannte) erforderte eine Virtuosität, die ihm immer mehr abverlangte. Er hatte bei seiner Schaffung des Deutschen Reichs unter Führung Preußens sehr stark vom Wohlwollen des Zaren profitiert. Als dieser dafür nach 1871 die tätige Dankbarkeit Preußen-Deutschlands einforderte, handelte Bismarck so, wie er dies auch als Privatmann handhabte: Er ging dem Streit nicht aus dem Weg und verwahrte sich gegen die russische Anmaßung, mußte sich aber wohl oder übel andere Verbündete suchen. Was lag da näher, als mit den deutschen Rivalen von einst, den Österreichern, zusammenzuwirken? Jetzt zahlte sich ihre Schonung vom Sommer 1866 aus. Es trifft keineswegs zu, daß Bismarck von Beginn an Krieg gegen Österreich wollte. Dies belegt etwa die gut funktionierende preußisch-österreichische Kooperation gegen Dänemark, die später über der gemeinsamen Verwaltung Schleswigs und Holsteins zerbrach (Mario Kandil: Bismarck. Der Aufstieg 1848–1871, Tübingen: Hohenrain 2014).
Innenpolitisch trotz seiner sozialpolitischen Maßnahmen nicht wie in der Außenpolitik vom Erfolg begleitet (hier seien nur der Kulturkampf gegen die katholische Kirche und das Sozialistengesetz erwähnt), geriet Bismarck immer stärker in die Defensive. Er wurde seiner Amtsgeschäfte überdrüssig, seine Verfassung verschlechterte sich zusehends – sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht. Als im »Dreikaiserjahr« 1888 mit dem 29jährigen Wilhelm II. ein am »persönlichen Regiment« interessierter Mann Kaiser geworden war, blieb die Konfrontation nicht aus. Zu gegensätzlich waren seine und Bismarcks Persönlichkeit, zu konträr auch ihre politischen Zielsetzungen. Schlußendlich reichte der amtsmüde und zermürbte Bismarck am 18. März 1890 das von Wilhelm II. schon angemahnte Rücktrittsgesuch ein, das der Kaiser zwei Tage später annahm. Nunmehr ein »Kanzler ohne Amt«, zog sich Bismarck zwar verbittert nach Friedrichsruh zurück, verabschiedete er sich damit jedoch nicht von der Politik. Vielmehr machte er durch die unter der Mitwirkung seines langjährigen Mitarbeiters Lothar Bucher verfaßten drei Bände Gedanken und Erinnerungen (1898 bzw. 1919) weiter von sich reden. Klar und oft genug ironisch griff der »Eiserne Kanzler« in dieser Rechtfertigungsschrift seine politischen und persönlichen Gegner an, darunter auch Wilhelm II. Dieser sah schon zuvor seine Autorität und Reputation dadurch unterminiert, daß Bismarck an fast jedem von ihm aufgesuchten Ort umjubelt und hofiert wurde. Die 1894 erfolgte Aussöhnung zwischen Bismarck und Wilhelm II. war nur äußerlich und konnte den Graben zwischen beiden nicht überbrücken. Auch mit seinen politischen Gegnern im Reichstag gab es keinen Frieden, denn dort fiel 1895 eine Kampfabstimmung um ein Glückwunschtelegramm zu seinem 80. Geburtstag negativ aus. Vom Tod seiner von ihm geliebten Frau Johanna 1894 tief getroffen, verstarb Otto von Bismarck am 30. Juli 1898.
Zu seinem 100. Geburtstag am 1. April 1915 wie auch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts erfreute sich der »Eiserne Kanzler« einer ausgesprochen positiven Rezeption. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber setzte ein wahrer Bildersturm auf die »großen« Persönlichkeiten, die Geschichte machen, ein und stürzte manches Denkmal vom Sockel. So häuften sich auch mit Blick auf Bismarck die Stimmen, die ihn für das Scheitern der Demokratie in Deutschland verantwortlich machten und die das primär von ihm geschaffene Kaiserreich als eine von oben oktroyierte »Fehlkonstruktion« kritisierten. Doch letztlich wird seine herausragende historische Bedeutung von keiner Seite mehr ernsthaft in Frage gestellt.
Zum 200. Geburtstag Otto von Bismarcks bleibt zu wünschen, daß der zu erwartende Schub neuer Bismarck-Biographien nicht so ausfällt wie das im Münchner Beck-Verlag erschienene Buch Bismarck. Ein Preuße und sein Jahrhundert des Düsseldorfer Historikers Christoph Nonn. Auf 400 Seiten geht es dem Autor vor allem um Bismarcks »Entmythisierung«. Nonn verpackt den Altkanzler so intensiv in Phrasen aus dem Repertoire des Zeitgeistes, daß man in seinem Buch getrost eine Art Abbitte erkennen darf: Den Verdacht, eine konservative Seite zu besitzen, hat er mit dieser Arbeit glaubwürdig ausgeräumt. Angesichts dessen sei lieber auf die erste als modern geltende Bismarck-Biographie verwiesen, die 1980 von Lothar Gall vorgelegt wurde (Bismarck. Der weiße Revolutionär). Gall ging weit über eine bloße Lebensbeschreibung hinaus und zielte mit seinen Leitfragen auf grundlegende Probleme der deutschen wie auch der europäischen Geschichte, die für Bismarcks Person und Werk den Hintergrund bildeten.