Homo Creator, der abschließende Teil der Homines-Trilogie von Frank Lisson, ist ein faszinierendes und provozierendes Buch. Dazu ein paar tastende und vorläufige Bemerkungen: Verstehe ich Lisson richtig, dann bin auch ich ein Tier, das noch nicht so recht begriffen hat, wie sehr es von atavistischen »sozial-biologischen Funktionsweisen« gesteuert wird. Ich gehöre der Mehrheit jener nicht nur lebenden, sondern auch existierenden Wesen an, die noch nicht jenen Grad höherer Erkenntnis erreicht haben, der sie befähigt, auf ausreichende Distanz zu ihren uralten Reflexen und Konditionierungen zu gehen. Die »allermeisten Menschen«, so Lisson, verhielten sich »wie Hunde, die noch überall ihre Markierungen setzen, obwohl das in dem von Menschen beherrschten und domestizierten Habitat sinnlos geworden ist, aber als Gewohnheitsrudiment den Hund in seiner Hundewelt weiterhin steuert. Das Tier markiert, so als ob es tatsächlich noch ein Revier abzugrenzen hätte. Ein ähnlicher Instinkt lebt im Menschen fort, wenn er etwa auf seine ältesten metaphysischen Illusionen zurückgreift.«
Also gut: Ich bin auch einer jener Köter, die jeden Baum und Laternenpfahl mit Metaphysik bepissen, die hecheln, wenn sie Weihrauch schnuppern, mit dem Schwanz wedeln, wenn ihnen eine geschnitzte Madonna zulächelt, und die sich demütig auf den Boden werfen, wenn die Johannespassion erklingt, die Kreation eines schöpferischen Hundes namens Johann Sebastian Bach, der die Kulturtechnik des Komponierens so vollkommen in den Dienst metaphysischer Illusionen gestellt hat wie noch niemand vor ihm. »Herr! Herr! Unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist!« erschallt der Chor der singenden Hunde, und nun erfahre ich, daß doch nur ein Herrchen gemeint war, das sich der komponierende Hund noch dazu selber gemacht hat, um sich auf dieser trüben Erde nicht gänzlich allein fühlen zu müssen. Die Schallwellen treffen auf Rezeptoren in meinem Gehirn, die aufglühen wie neurobiologische Glasfaserkabel und ein zerebrales Opium ausschütten, das nichts mit dem Wahren, Schönen und Guten und anderen evolutionär überholten Fiktionen zu tun hat. Für das Kunstwerk müßten dann ebenso wie für Fahrräder und Smartphones diese Zeilen aus Homo Creator gelten: »Es ist die Ehrfurcht des Menschen vor seinen eigenen Schöpfungen, die ihn dazu verführte, noch einen weiteren Schöpfer über sich hinaus zu vermuten, ja zu erhoffen. Lebt er doch in einer anscheinend gemachten Welt, an der er keinen Anteil hat, außer, sich in ihr selber als ein Gemachtes zu empfinden. Wie desillusionierend und bedrückend muß da die Tatsache klingen, daß der Mensch Techniker und Schöpfer in einer allein von ihm geschauten Welt ist, die außerhalb seines Bewußtseins keinen Bestand und keinerlei Bedeutung hat.«
Ist die Kunst dann aber noch ein »Rätsel«, wie Martin Heidegger sagte? Kann man aus dieser Perspektive ihr Rätsel denn noch sehen? Ich versuche mir vorzustellen, was das bedeutet, daß ein bloß entstandenes, nicht gemachtes Lebewesen als erstes seiner Art zum Demiurgen seiner selbst und seiner Umwelt werden kann; eine Tätigkeit, die ihm offenbar im Blute oder auch in zufälligen Chromosomenverbindungen liegt. Auch die Religionen und ihre Riten sind »gemacht«, aber sind sie auch »Machenschaften«? So beginnen die »Anathemata« des katholischen Dichters David Jones: »Sofort und zu allererst erkennen wir, daß er dieses Ding anders macht. Schon formt sich, wenn wir aufmerken, seine tastende Syntax: ADSCRIPTAM, RATAM, RATIONABILEM … und im voraus und für sie, in Strukturen und Formen, die ganz die ihren sind, erheben die heiligen und ehrwürdigen Hände ein wirksames Zeichen.«
Vielleicht hängt mein Bewußtsein auch bloß an der Illusion ohne Zukunft, die mich mit mentalem Sauerstoff versorgt, wehrt sich vielleicht nur gegen das »Bedrückende« dieser »Tatsache«. Ich bin vielleicht ein allzu eingefleischtes, unflexibles Tier aus dem unwiderruflich zu Ende gehenden Zeitalter der »Kultur« und habe nicht begriffen, daß »Zivilisation« den »Zustand des Als-ob« bedeutet: »Jeder kann seine Präferenz für sich selber leben und so tun, als ob er damit noch einem Zustand angehörte, aus dem er längst entlassen worden ist: man kann in die Kirche gehen, so als ob es einen Gott gäbe; man kann Allah, Jahwe, Shiva oder Erdgeister anbeten, so als ob noch eine ›Kultur‹ dahinter stünde.« Die Welt des Areligiösen ist aber eine andere als die des Religiösen, der so unverschämt ist, mit Dávila zu behaupten: »Die Religion hat keine Wurzeln im Menschen«, denn sie sei »weder Konklusion aus Vernunftgründen, noch Erfordernis der Ethik, noch Stadium der Sensibilität, noch Instinkt, noch soziales Produkt.« Auch bin ich immer noch so töricht zu glauben, daß es »unabhängig vom Lauf der Weltgeschichte und der Entwicklung der Dinge« etwas geben könnte, das weder dem Raum noch der Zeit angehört. Gleich einem Triebtäter springt mein Bewußtsein immer wieder auf diese fixe Hundeidee zurück. Einige wenige, einsame Hunde sind jedoch schon über der Linie, sie haben den Instinkt der hartnäckigen »metaphysischen Illusionen« abgeschüttelt, oder bemühen sich redlich darum, die letzten peinlichen Überbleibsel in sich abzutöten. Tiere, die ans Land gekrochen sind, brauchen keine Kiemen und Flossen mehr und sind manchmal sogar schon schlau genug, sich Flügel zu basteln. Jener Hund, der imstande ist, die hündischen Rationalisierungen zu durchschauen, erscheint uns, dem rückständigen Rudel, als destruktiver Zyniker, dabei ist er bloß ein Philosoph, der kein kynos mehr sein will und kann. Würde nun ein solch aufgeklärter Hund seine Artgenossen auf »die Sinnlosigkeit des Markierens« hinweisen und daran erinnern, »daß die Funktionsweisen des Hundes nur für Hunde gälten und außerhalb ihrer Welt bedeutungslos seien, also nicht für allgemeine Wahrheiten gehalten werden dürften, ginge ein Aufschrei durch die Hundewelt und alle würden rufen: hinfort mit ihm, der sich anmaßend über unsere Art stellt!«
Bekanntlich bellen die getroffenen Hunde, ich für meinen Teil heule aber lieber weiterhin den Mond an. Ein interessanter Defekt meines Gehirns läßt mich in dem Gestirn etwas »Erhabenes« oder »Poetisches« sehen, und es will ums Verrecken nicht in meinen Verstand sickern, daß ich lediglich zu einer nackten, sinnlos im Weltall kreisenden Kugel aufblicke, in die hin und wieder ein blödsinniger Meteor einen Krater schlägt, der meinem Hundeauge irgendwie »malerisch« erscheint. Ist es Ausdruck meines Erstaunens, daß Seiendes überhaupt ist, wenn ich vom Mond in dieser Art rede, oder webe ich an einem Schleier aus Seinsvergessenheit? Schon hängt er als Spielzeug in meinem Kinderzimmer, mit einer Nase, Augen und einem Mund, und einem aufziehbaren Mechanismus, der mir ein Gutenachtlied spielt. Ein Märchen nur?
Im Jahre 1943 erregte eine Stelle in einem Schulbuch die Besorgnis eines apologetischen Hundes namens C.S. Lewis. Darin wurde eine Geschichte diskutiert, in der zwei Touristen einen Wasserfall betrachten; der eine bezeichnet ihn als »erhaben«, der andere bloß als »hübsch«. Das Schulbuch erläuterte, daß die beiden in Wahrheit keine Feststellungen über den Wasserfall gemacht hätten, sondern nur über ihre subjektiven und damit unverbindlichen »erhabenen« oder »hübschen« Gefühle. Wer hätte gedacht, daß ein solch unscheinbarer Gedankengang in letzter Konsequenz zur »Abschaffung des Menschen« im Namen der nur mehr praktischen Vernunft führen kann? Zu seinem transhumanen Umbau in den Händen von Technikern und Ingenieuren, in »die Einspannung« des Menschen »in die gleichgebaute und gleichschnittige Einrichtung alles Seienden«, um es mit Heidegger zu sagen? »Wenn man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine vollständig durchsichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr«, schrieb Lewis.
Frank Lisson zählt sich selbst zu jenen, die all die jahrtausendealten Kulissen »als solche längst durchschaut« haben, und er blickt ein wenig hochmütig auf die Nachzügler herab. Auch die »Abschaffung des Menschen« fürchtet er nicht, im Gegenteil: »Man stelle sich einmal vor: fünfhundert Jahre Internet, fünfhundert Jahre Digitalisierung, fünfhundert Jahre Nanotechnik und Genetik, fünfhundert Jahre Weltraumteleskope!« Irgendwo an einem fernen Horizont erblickt er bereits die »Gestalt des Homo Absolutus«, den »Versuch einer totalen Loslösung als notwendige Antwort auf das prinzipiell entbindende Leben nach den Kulturen.« Bis dahin werden die Geburtswehen noch andauern. Die Menschheit, eingespannt in den Motor der von ihr selbst geschaffenen, nicht mehr zu stoppenden Maschine, hat in dieser Lage ohnehin nur mehr die Wahl, entweder zu krepieren oder zu mutieren. Eventuell werden sich die alten Befürchtungen als gegenstandslos erweisen, »der Mensch werde sich durch Technologie seiner selbst entfremden«, bringt er doch nur zur Entfaltung, was in ihm bereits angelegt ist. Oder wird sie doch kommen, die götterlose »Weltnacht« Heideggers, in der die äußere Entfaltung der Technik ihren Höhepunkt erreicht hat und gleichzeitig die Entfernung vom Sein am größten ist? »Das Heile entzieht sich. Die Welt wird heillos. Dadurch bleibt nicht nur das Heilige als die Spur zur Gottheit verborgen, sondern sogar die Spur zum Heiligen, das Heile, scheint ausgelöscht zu sein.«
Vielleicht endet auch alles viel trivialer und langweiliger, »not with a bang but with a whimper«. Technologische Erneuerungen erweitern in der Regel kaum das Bewußtsein ihrer Konsumenten, sondern sind fast immer Agenten der Banalisierung und der Tyrannei der Quantität, erzeugen Heerscharen von Gestell-Krüppeln, die gewiß postkulturelle Existenzen führen, ansonsten aber alles andere als »losgelöst« wirken. »Was das Internet betrifft, so münden die phantastischen Versprechen in Ozeanen von Pornographie und Katzenbildern. Die Wunder des Smartphones erzeugen Zilliarden von Selfies und eine unermeßliche Anzahl von profanen Status-Aktualisierungen auf Facebook«, schrieb der amerikanische Schriftsteller Jack Donovan. Trotzdem sind wir im Bereich des Sexus und Eros Adam und Eva geblieben, und Hunde und Katzen rühren uns, weil sie eben keine Maschinen sind. Den Tieren und Gestirnen ist es freilich gleichgültig, welche sentimentalen Deutungen wir in sie hineinlegen. Das haben sie vielleicht mit Gott gemeinsam. »Alles, was ist, ist um seiner selbst willen da«, schreibt Lisson im Vorwort zu Homo Creator. »Unentwegt sterben Sterne und werden neue geboren. Nach heutiger Schätzung bewegen sich fünfzig Milliarden Galaxien im Raum, von denen nur eine unsere Milchstraße ist. Die Milchstraße wiederum versammelt etwa zweihundert Milliarden Sterne; einen davon, am ruhigen Rand der Galaxie, umkreist unsere Erde. Sobald wir uns in das Unvorstellbare der heutigen Kenntnisse aus Physik und Kosmologie hineinzudenken versuchen, verlieren alle naiven Gottesvorstellungen und Heilserwartungen der letzten dreitausend Jahre sogleich an Attraktivität und Bedeutung.«
Ich wieder: Ich armer Hund empfinde genau umgekehrt. Wie kann ich, ein denkendes Schilfrohr, eine Handvoll Staub mit meinem tragischen Bewußtseinsfünkchen in der Dunkelheit des bloßen Seins, angesichts dieser unermeßlichen kosmischen Wunder so vermessen sein, zu glauben, daß kein Gott ist? Gewiß, auch ich kenne das Schaudern, das einem berühmten, am eigenen Bewußtsein leidenden Tier vor vierhundert Jahren, an der Schwelle eines neuen Äons, ins Gehirn gekrochen ist wie ein Splitter vom Kreuz von Golgotha: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« Ich denke nun auch an die grunzenden Affenmenschen aus Stanley Kubricks Odyssee im Weltraum, die einem plötzlich auftauchenden, rechteckigen Monolithen begegnen, einem Gegenstand von vollendeter Perfektion, Epiphanie einer reinen und absichtslosen Form und Anti-Natur. Die Affen beschnuppern und betasten ihn, aber das Artefakt bleibt zugleich nah und schwer zu fassen wie ein Gott. Kurz darauf entdeckt einer von ihnen, daß er mit einem Knochen seine Schlagkraft um ein Vielfaches erhöhen, ihn als Waffe benutzen kann. Ekstatisch schlägt er das Skelett eines Tieres in Stücke, während Richard Strauss’ Also sprach Zarathustra erklingt. Triumphierend wirft der Ur-Prometheus sein neues Werkzeug in die Luft; die Kamera folgt diesem auf seiner Flugbahn in den blauen Himmel. Kubrick schneidet abrupt auf ein weißes, im All schwebendes Raumschiff in der Form eines Knochens: zwei Manifestationen ein und desselben Prinzips. Der Rest des Films spielt in einer komplett künstlichen Welt, die von Homines sapientes in geometrische Formen gebracht wurde und in der elegant geschnittene Raumstationen lautlos durch die unendlichen Räume tanzen. Am Ende der Odyssee findet sich ein Astronaut in einem mysteriösen, nicht minder artifiziellen Barockzimmer wieder; der Monolith erscheint ihm, und er tritt in ihn ein wie in eine Art Geburtskanal, um als »Sternenkind« wiedergeboren zu werden, vielleicht als Prototyp einer neuen, den bisherigen Menschen übersteigenden Spezies.
Ist diese neue Menschheit nun erlöst von »metaphysischen Illusionen« und der mit ihnen eng verschwisterten Todesfurcht, jenem großen Motor der Kulturleistungen? »Der Mensch«, so schrieb der Sozialanthropologe Ernest Becker, »entwickelte sich vom instinktgelenkten, unreflektierten und automatisch handelnden niederen Tierwesen zu einer Kreatur, die sich über ihr eigenes Los Gedanken machte. Ihm wurde das Ichbewußtsein sowie die Halbgottstatur innerhalb der Schöpfung gegeben; er erkannte die Schönheit und Einzigartigkeit des eigenen Antlitzes, er bekam einen Namen. Gleichzeitig erhielt er auch das Wissen vom Schrecken der Welt, von seinem eigenen Tode und Verfall.« Seine Kreatürlichkeit erinnert ihn immer wieder daran, daß er, »soweit es die Natur angeht, nichts als ein Leib ist. Die Werte der Natur sind körperlich, die des Menschen geistig. Obwohl sie sich zu den Sternen erheben, sind sie auf Exkrement gebaut, können ohne es nicht existieren und werden immerfort daran erinnert.« Zuweilen erkannte der Mensch sich als eine Art Gott, lebe »als ob« er total losgelöst, »als ob« er Schöpfer seiner selbst sein könnte, aber er bleibt am Ende immer ein Pseudo-Gott, dessen Leib zum Fraß der Würmer bestimmt ist. Solange das so ist, wird das Dasein des Menschen Alpträume gebären, die keine noch so elaborierte Technik verjagen wird, ebenso wie Hoffnungen, die die Technik niemals erfüllen kann. »Er flüsterte mir zu, daß mein Plan fehlgeleitet war«, heißt es in einem von Current 93 vertonten Text von Thomas Ligotti. »Daß mein besonderer Plan für diese Welt ein schrecklicher Fehler war. Denn, sagte er, es gibt nichts zu tun, und man kann nirgendwo hingehen. Man kann nichts sein und niemanden kennen. Dein Plan ist ein Fehler, wiederholte er. Diese Welt ist ein Fehler, antwortete ich.«