Tatsache ist jedenfalls, daß das im Westen herrschende politische System, man mag es Globalismus oder »Neue Weltordnung« nennen –, weder Kapitalismus noch Liberalismus noch Sozialismus im klassischen Sinne ist. Vereinfacht könnte man sagen, daß wirtschaftlich der Kapitalismus und kulturell der Marxismus gesiegt haben. Die gängigen Minderheitenkulte etwa – zum Beispiel um Schwule oder Einwanderer – sind im Kern nichts anderes als Derivate oder auch Häresien marxistischen Denkens. Dieses Zusammenspiel hat eine lange historische Genese. Der Schriftsteller Ulrich Schacht, ein dezidierter Feind des Sozialismus, brachte es in einem Interview auf den Punkt. Schon Marx und Engels hatten erkannt, daß der Kapitalismus als Planierraupe wirkt, um überkommene Dinge wie Nation, Religion, Familie und so weiter abzuräumen und damit den Weg in den historisch notwendigen Fortschritt zu bahnen. Der »Kapitalist« von heute sage: »Konsumenten aller Länder vereinigt euch! Die Erde muß planiert werden in ein gigantisches Kaufhaus. Der Mensch muß reduziert werden auf die Persönlichkeitsstruktur einer permanenten Produktions- und Konsumptionsmonade.«
Der marxistische Autor Paddy Chayefsky stellte diesen Gedanken bereits 1976 in dem satirischen Filmklassiker Network dar. Ein Fernsehmoderator, der wegen sinkender Einschaltquoten gefeuert werden soll, schnappt über und wird zum wilden Prediger, der die Nation zur »populistischen« Revolte aufstachelt. Die Fernsehmacher schlagen daraus Profit, indem sie den Protest zu einer quotenträchtigen Show ausbauen – womit dieser auch hinreichend neutralisiert wäre. Als der frischgebackene Prophet öffentlich macht, daß sich die Saudis in die amerikanischen Medien einkaufen wollen, liest ihm ein gottgleicher TV-Mogul die Leviten:
Sie sind ein alter Mann, der in Kategorien wie ›Völker‹ und ›Nationen‹ denkt. Es gibt keine Nationen. Es gibt keine Völker. Es gibt nur ein einziges holistisches System aller Systeme, eine einzige, immense, vernetzte, interagierende, multivariante, multinationale Herrschaft von Dollars. Öl-Dollars, Elektro-Dollars, Multi-Dollars, Reichsmark, Rubel, Pfunde und Schekel. Das ist das internationale System des Geldkreislaufs, das die Totalität des Lebens auf diesem Planeten beherrscht. Sie jammern auf Ihrem kleinen Bildschirm über den Zustand Amerikas und der Demokratie. Es gibt kein Amerika. Es gibt keine Demokratie. Es gibt nur IBM und ITT und AT&T und DuPont, Dow, Union Carbide und Exxon. Das sind heute die Nationen der Welt.
Am Ende aber warte eine vollkommene Welt auf unsere Kinder, »ohne Krieg, Unterdrückung und Brutalität«, ein einziges »ökonomisches Beteiligungsunternehmen, in dem alle Menschen für ein gemeinsames Gut arbeiten, und jeder ein Aktienteilhaber ist. Alle Bedürfnisse werden erfüllt sein, alle Ängste besänftigt, alle Langweile vertrieben.« Also eine rein ökonomische, eudaimonistische Utopie, die der des Kommunismus sehr nahekommt.
Daraus resultiert der Treppenwitz, daß heute keineswegs die »Proletarier« die Hauptfront der Linken stellen. Vielmehr sind es die bessergestellten bürgerlichen Schichten, die Wohlhabenden bis hinauf zu den »One Percent«, die heute »links«, also »kulturmarxistisch« sind, oder sich zumindest so geben. Die sogenannten »privaten« Großunternehmer sind heute wie die meisten westlichen Staaten aktive Förderer des Kulturmarxismus und der »Political Correctness«. Es ist ihr Geld, das in Pressekonzerne, Stiftungen und Denkfabriken fließt. Sie inszenieren sich als Weltbeglücker und Gesellschaftsliberalisierer. Und so kommt es, daß sowohl Jeff Bezos als auch Lloyd Blankfein als auch Mark Zuckerberg emsige Unterstützer der »Gay Marriage« sind.
Und das ist nur ein Beispiel unter vielen. Beinah naiv wirken da Lichtschlags Sätze: »Ja, es ist ungerecht, wenn linke Spinner es einfacher haben. Aber die Geschichte ist keine Einbahnstraße, und der Markt, wo er noch frei ist, bietet immer Lösungen.« Einen ähnlich optimistischen Tonfall schlägt Lichtschlag in der Aprilausgabe von eigentümlich frei (Nr. 141) an. Darin verurteilt er das Vorgehen des »Mega-Händlers« als »unsägliche Zensur«. Gleichzeitig gibt er der Hoffnung Ausdruck, daß Amazon eines Tages erkennen werde, daß es sich auf Dauer nur selber schade: »Wer auch immer im seltsam intransparenten Unternehmen entschied, hat offenbar die Marktverhältnisse falsch eingeschätzt, wenn er ein paar linken Radaubrüdern in deren Forderung nach Zensur nachgegeben hat.«
Auch dies kann man nur als frommes Wunschdenken einstufen. Die Begünstigung der »linken Spinner« ist kein Zufall, sondern hat System; sie sind auch weitaus mehr als bloße »Radaubrüder«. Ohne sich um ihr Business sorgen zu müssen, werden es sich Amazon & Co, allesamt wesentliche Agenten der »Bewußtseinsindustrie« (Thorsten Hinz), in Zukunft eher noch mehr als weniger leisten können, kleine Verlage und dissidente Stimmen abzusägen. Allzu viele sind ja ohnehin nicht mehr übrig. Auch der Mythos vom »freien Markt« ist ein »Gott, der keiner ist«.