Seither sind wir Zeugen eines gigantischen Verdrängungstheaters. Wir beobachten, wie alle Register an Seelenmassage und Massenpsychologie gezogen werden, um diese damals schon recht harten Fakten wieder vom Tisch zu kriegen. Ein Parteienstaat, der sich beinahe ständig in irgendeinem Wahlkampf befindet, tut sich unendlich schwer mit unangenehmen Wahrheiten. Das Ergebnis der Verdrängung ist verheerend: Bis heute weiß ja keiner so recht, wie man aus der Tatsache, daß die Deutschen zuwenig Nachwuchs bekommen, eine politische Frage zimmern soll. Die Selbstblockade der Politik ließ es lieber bis zum Äußersten kommen und an diesem „Äußersten” spazieren wir seit Jahren entlang.
Wie muß man sich diesen Vorgang vorstellen?
Schmid: Die Entvölkerungstendenz zeigt sich zuerst in den strukturschwachen Gebieten, aus denen die dort noch geborenen jungen Menschen abwandern. Vor allem die Neuen Länder sind davon betroffen. Geburtenrückgang bedeutet Rückgang von Mädchengeburten, und das wiederum bedeutet weniger potentielle Mütter in der nächsten Generation, also 25 Jahre später. Nach Ablauf einer Generation haben wir also nicht nur an sich weniger Geborene zu registrieren, sondern bereits die Nichtgeborenen der fehlenden Mütter. Wenn sich dieser Vorgang nun wiederholt, dann gerät eine Bevölkerung in eine Abwärtsspirale, treibt sie ein Jugendmangel im Generationentakt treppab. Ich sprach seit den 1980er Jahren als erster von einer programmierten „demographischen Implosion” – für den Fall, daß sich nichts ändern würde.
Um eine Bevölkerung stabil zu halten, bräuchte es etwas mehr als 2 Geburten pro Frau durchschnittlich. 1973 sank diese Zahl auf 1,35 ab und blieb bis heute auf diesem niedrigen Niveau. Die Generation der Deutschen ersetzt sich in der jeweils folgenden nur zu zwei Dritteln – ein Vorgang, der sich über sechs Generationen hinaus kaum verlängern läßt. Das sogenannte „Aussterben der Deutschen” ist also keine Fiktion, kein Schreckensbild, keine Wahnvorstellung, die man beliebig belächeln und bekichern kann. Es ist das Menetekel an der Wand einer Gesellschaft oder gar eines Kontinents, der auf dem Wege ist, Aufklärung mit Nihilismus zu verwechseln.
Wer rückt nach in solch ein leeres Land? Oder wird der Schwund nur in den Städten ersetzt?
Schmid: Die besagte demographische Implosion, der sich verstärkende Bevölkerungsschwund, beginnt – nach unveränderter Lage der Dinge – zwischen 2005 und 2010. Deutschland wird es nicht mehr gelingen, die sich weitende Geburtenlücke mit Zuwanderung zu füllen. Bereits in den letzten beiden Jahren ist die Bevölkerung in Deutschland trotz Zuwanderung geschrumpft. Zusätzlich wirkt das, was wir postindustrielle Gesellschaft nennen: Manufaktur, die klassische Gastarbeiterbeschäftigung, geht zurück und Hochtechnologie und qualifizierte Dienstleistungen nehmen rasch zu. Dafür stehen aber nicht beliebig hohe Einwanderermengen zur Verfügung, von denen man einmal träumte.
Mit der Höherqualifizierung aller Arbeitsanforderungen und Arbeitsmärkte ist auch ein Konzentrationsvorgang um Oberzentren und Städte verbunden, die schönsten Landregionen werden zusätzlich entvölkert. Die Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen von Land und Stadt war ein hohes regionalpolitisches Ziel in Deutschland und soll in angepaßter Form weiter gelten. Es geht nicht an, daß es in ländlichen Regionen unattraktiv wird, Kinder großzuziehen.
Mit welcher demographischen Dynamik der Einwanderergruppen haben wir zu rechnen?
Schmid: Gesellschaft und Politik schwant etwas davon, daß die Einwanderer, die wir bräuchten, nicht zu bekommen sind: junge Paare, gut ausgebildet, Deutsch und Englisch fließend, mehr als zwei Kinder, mit einem Wort, solche Einwanderer, die sich die USA, Kanada und Australien ausschließlich und regelmäßig einholen. Die Nachbarstaaten der EU werden nur Arbeitnehmer und Lückenfüller am Arbeitsmarkt schicken, die aber zum Wochenende wieder nach Hause fahren. Sie befinden sich nämlich in der gleichen demographischen Lage und werden sich nicht in Deutschland ansiedeln. Das gilt für Slowenen und Kroaten in Österreich ebenso wie für Polen und Tschechen in Deutschland.
So bleibt also nur in asiatischen und nordafrikanischen Räumen ein Reservoir an möglichen Einwanderern. Mit denen aber holen wir uns eine negative soziökonomische Kulturdynamik ins Land: Zuwanderung von Männern und Frauen ohne Berufsaussicht im Aufnahmeland; die zweite Generation wächst bereits ohne Ausbildungskonzept auf, weil schon in den Elternhäusern außereuropäischer Zuwanderer so etwas wie Integration nicht gestützt wird oder gar unbekannt ist. Der Ausweg ist Abwanderung in kriminelle Subkulturen oder in religiös-ethnische Ersatzbindungen. Eine Identifizierung mit dem Aufnahmeland Deutschland ist unwahrscheinlich, denn die Bedeutung des Herkunftslandes wächst alleine schon aufgrund der dortigen demographischen Explosion.
Das ist der Zustand, den wir zur Zeit im Lande vorfinden: Die Dynamik liegt stets bei den Gruppen, die über ihre Kinder ein vitales Interesse an der Zukunft haben, niemals jedoch bei einem alternden Volk, ganz egal, wie die Mehrheitsverhältnisse derzeit noch sind.
Eine Zukunft wird sich aus alledem ergeben. Zunächst: Was geht verloren?
Schmid: Wir sind in einen Zustand geraten, den man nur noch mit einer gewissen optimistischen Grundstimmung wird bewältigen können. Von den 7,3 Millionen Ausländern bereiten uns eigentlich nur die 2 Millionen EU-Bürger keine Sorgen. Mit der Identität, dem Zugehörigkeitsgefühl, der religiösen Bindung und den Integrationsbarrieren uns kulturell fernstehender Menschen befassen wir uns erst jetzt, wo ein „Kulturkampf” nur noch mit Worten, aber nicht mehr in der Realität weggewischt werden kann. Der „interkulturelle Dialog” bleibt eine akademische Beruhigungspille, die meist einem Karriere- und Stellenplan dient. Die Probleme Deutschlands und Europas – aufgehalst aus Weltflucht und Realitätsblindheit – kann ein solcher „Dialog” nicht beseitigen.
Verloren also geht einiges. Wenn in einer schönen Definition „Heimat” jenen Ort bezeichnet, an dem man sich nicht erklären muß, dann wird es zukünftig verdammt eng in ihr. Vor sechs Jahren wurde im Staatsangehörigkeitsgesetz das deutsche Abstammungsrecht durch französisches und englisches Bodenrecht – das typisch und brauchbar ist für Kolonialherren – „ergänzt”. Mit diesem Bodenrecht verbindet sich aber eine strenge Nationalerziehung, das heißt der Identitätswandel der Zuwanderer und ihrer Kinder allemal. Wo diese Nationalerziehung vor der Masse kapituliert und der Zusammenhalt verfällt, haben wir bürgerkriegsähnliche Zustände mit „Migrationshintergrund”, wie vor Wochen in Frankreich oder in England schon seit Jahren. Deutschland ist gewarnt, denn seine Jungbürgerkrieger wären nicht bloß Arbeitslose und Sprachgestörte, sondern auch noch Opfer einer Selbstfindungsneurose seit 1945. Aus antinationalem Staatsgeist heraus Ausländer national integrieren zu wollen ist wie die Quadratur des Kreises und in dieser Situation und in dieser Welt träumerischer Gedankenluxus.
Gewinnen wir auch etwas?
Schmid: Die Frage ist, worin wir den Gewinn sehen und suchen wollen. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns an einen Zustand beengender und bedrängender Verhältnisse schlicht gewöhnen. Eine „Demographie des Verschwindens”, wie ich sie genannt habe, läßt keine Ruhe und Gewöhnung zu. Wenn die Deutschen, selbst über ihre Volksvertreter hinweg, aus ihrer Unruhe Kapital schlügen, sich aufrichten und zu einigen positiven Mythen, die ihnen sogar von außen her angetragen werden, Zuflucht nähmen, dann wäre etwas gewonnen. So sind wir Deutschen etwa zum wirtschaftlichen Erfolg verdammt. Ihm zu entsprechen bedeutet zugleich, die Zuwanderer vom Geltungsnutzen, Deutsche zu werden, zu überzeugen.
Auf welches Leben haben wir Deutschen uns für das Jahr 2030 einzustellen? Was kennzeichnet ein alterndes Volk?
Schmid: Die Wohnbevölkerung in Deutschland von 82,3 Millionen Menschen altert am raschesten, weil früher Geburtenabfall, der die Altenanteile erhöht, und steigende Lebenserwartung eine Kombination eingehen. Die geburtenstarken Jahrgänge werden sich zur Gänze im Rentenalter befinden und den schwach besetzten Jahrgängen im Erwerbsalter gegenüberstehen. Auf einhundert Erwerbstätige kommen heute vierzig Menschen über sechzig Jahre; bis 2030 wird sich diese Verhältniszahl verdoppeln, denn es wird dann jeder dritte Mensch in Deutschland über sechzig sein. Gewiß steigt mit der Lebenserwartung auch die Gesundheit im Alter, doch die Sorge bleibt das Ausmaß schwindender Jugend. Sie unterliegt einer anderen Bemessung als das Rentenalter. Sie ist Humankapital, muß im Wettbewerb mit viel jüngeren Völkern bestehen. Sie kann das nur, wenn auch die derzeit tragende Generation wieder ein Verantwortungsgefühl für das mobilisiert, was außerhalb ihrer selbst liegt, und in der Zeitenfolge denkt. Wir haben die Nation zu unser aller Existenzgrundlage gemacht und sie ist nur denkbar als Gemeinschaft der Gewesenen, Gegenwärtigen und Künftigen. Daran kann weder eine Moderne, Postmoderne noch Globalisierung etwas ändern.