Seine Beschreibung der Gesellschaft gibt sich als betont wertneutrale theoriegeleitete Rekonstruktion sozialer Systeme, und schon diese Enthaltsamkeit hebt die Systemtheorie von den marxistischen Gesellschaftstheorien, die vor ihr die deutsche Soziologie beherrschten, scharf ab.
In den Kulturwissenschaften wurde das neue Paradigma noch Anfang der 1990er Jahre äußerst kritisch beäugt: Eine Soziologie, die den Begriff der Klasse nicht kannte, moderne Gesellschaften nicht als kapitalistisch, sondern als „funktional differenziert“ beschrieb und (das war regelmäßig der Gipfel des Ärgernisses) Individuen als „Umwelt“ der Gesellschaft qualifizierte, rief Irritationen hervor. Für Utopie und Moralismen bot dieses Denken keine Bühne mehr.
Altlinke beargwöhnten die Systemtheorie deshalb gerne als konterrevolutionär, jüngere Semester ließen sich durch ihre hohe Auflösungsfähigkeit sowie durch die ingenieursmäßige Nüchternheit der Terminologie faszinieren. Der Prosa des gelernten Verwaltungsjuristen ist gelegentlich ein feiner Humor unterlegt, der sich in trockenem Sarkasmus Bahn bricht. Luhmann besaß die Gabe, Illusionen quasi im Vorbeigehen zu demontieren.
Die Grenzen des systemtheoretischen Ansatzes bis jetzt liegen dort, wo die moderne Gesellschaft einem nicht vorgesehenen Prozeß unterliegt, nämlich dem der Entdifferenzierung. Zur Verdeutlichung in extrem verkürzter Form: Luhmann ging von einer Differenzierung der Gesellschaft in nach ihren eigenen Kriterien operierenden sogenannten Funktionssystemen aus (Wissenschaft, Recht, Religion, Wirtschaft usw.).
Die Funktionssysteme interagieren, können aber Input von außen immer nur auf Basis ihrer eigenen Leitunterscheidung (Code) verarbeiten. Zum Beispiel kann das Recht auf Kunst nur reagieren, indem es etwa eine Entscheidung darüber treffen muß, ob etwas Kunst oder Pornographie, also justiziabel, ist. Die Wirtschaft wiederum kann auf Kunst nur im Modus von Geldwert reagieren, also etwa von Autorenhonoraren oder Auktionsergebnissen. Und so weiter.
Dieses Prozessieren gesellschaftlicher Subsysteme nach eigenen Leitunterscheidungen ist ein Grundkennzeichen moderner westlicher demokratischer Gesellschaften. Es ist freilich äußerst fragil. Diktaturen sind durch (vollkommen oder weitgehend) fehlende Differenzierung etwa von Politik und Recht, Moral und Recht, Kunst und Politik etc. gekennzeichnet, dasselbe gilt für vormoderne Gesellschaften.
Blickt man auf das Sowjetsystem unter Stalin oder auf das nationalsozialistische Deutschland, wird spontan verständlich, was das bedeutet. Zumindest im letzten Fall handelt es sich dabei um eine Rückentwicklung, bei der etablierte Differenzierungen eingestampft und damit Freiheitsspielräume abgeschafft wurden.
Vergleichbares gilt aktuell für radikal islamische Staaten und galt immer schon für den Islam insgesamt, der für alle Lebensvollzüge grundsätzliche Regelungsmacht beansprucht. Die Scharia bildet das perfekte Beispiel für fehlende Differenzierung zwischen Religion und Recht. Und überall da, wo sie sich auf den Ruinen oder in den Ritzen eines gescheiterten säkularen Staates zu etablieren vermag, haben wir einen Prozeß der Entdifferenzierung mit im Wortsinn verheerenden Folgen vor uns.
Ein Funktionieren von Multikulturalismus nun würde die vollständige Akzeptanz systemischer Differenzierung in der Bevölkerung sowie bei den Zuwanderern voraussetzen. Das ist natürlich gänzlich illusorisch. Bei dem (noch!) aktuellen europäischen Gesellschaftstypus handelt es sich um ein historisch hoch voraussetzungsreiches Modell, das seit seiner Entwicklung auch bei Europäern immer wieder Unbehagen hervorgerufen hat und in Frage gestellt wurde.
Davon zeugen die Totalitätsphantasien in Kommunismus und Faschismus ebenso wie die nicht enden wollende Reihe lebensreformerischer Bewegungen, die auf ein differenzierungsbedingtes Gefühl der “Entfremdung” antworten.
Und dies gilt erst recht für den weit überwiegenden Anteil muslimischer Zuwanderer: Sie bringen die Disposition für das Leben in einer solchen, notwendig unterkühlten Gesellschaft nicht mit und zeigen kaum je Interesse, diese zu erwerben. Die vulkanischen Bruchlinien entlang der Kontinente Glauben und Ethnos sind in der täglichen Berichterstattung schon seit Jahren als ständige Spur von Gewalt unübersehbar.
Eine Soziologie, die das nicht sieht, hat sich selbst willentlich die Augenbinde angelegt, die traditionell Justitia trägt, welche ihrerseits mittlerweile einäugig ist. Auch das übrigens ein Beispiel für Entdifferenzierung, diesmal von Politik und Recht.
Der Gehenkte
Hallelulljah! Auf diesen Text habe ich lange gewartet und gehofft. Sie sprechen mir aus der Seele und ich habe mein halbes Leben vorm inneren Auge passieren lassen müssen.
Luhmann selbst habe ich stets zu umschiffen versucht und ihn nur dort gestreift, wo es sein mußte, wußte aber, daß das ein Fehler ist. Dennoch kenne ich die Erfahrung. Nach vielen Jahren linkslastiger, und „soziologischer“ Denke waren Husserls „Logische Untersuchung“ der Schock meines Lebens. Es war unfaßbar, wie Husserl immer und immer wieder neu ansetzte, um eine Kategorie, einen Begriff zu fassen und wenn er ihn hatte, doch wieder ein Schlupfloch entdeckte und von vorn begann. Das war mir neu.
Und dann: es ging alles ohne Marx, ohne Proletariat, Klassenkampf, Überbau, Ideologie etc., ja er schien Marx – um den sich bis dato alles drehte – gar nicht zu kennen. Skandal! Da bin ich zum ersten Mal aufgewacht.
Aber von diesen Privatissimi abgesehen: Genau das schien Luhmann zu sein: ein trockener, von allem abgekapselter, eiskalter, im Grunde bürokratischer Denker. Daß das bereits sein konservatives Element beschreibt, ist mir soeben deutlich geworden.
Trotzdem bleibt der Begriff der Differenz und der Vielfalt stets wichtig (inklusive Postmoderne) und ich würde immer für sie eintreten. Je differenzierter ein System ist, umso mehr Antwortmöglichkeiten kann es auf Ereignisse geben - umso in sich widersprüchlicher ist es andererseits. Aber wir leben nun mal in einer hyperkomplexen Welt in der einfache Antworten immer die falschen sein müssen. Insofern sind die Migranten sogar tatsächlich eine Bereicherung, weil sie einen Weltblick hinzuaddieren. Nur darf der nicht verallgemeinert und dimensional überhöht werden. Allein schon die arabische Sprache bietet – wie jede andere Sprache auch, wie bestimmte Sprachen aber besonders – eigene intrinsische Lösungsansätze, auf jeden Fall mehr als das globalistische Amerikanisch.
Das Problem mit den Muslimen ist – das ist eine persönliche Erfahrung durch direkten Kontakt und Auseinandersetzung in Praxis und Theorie -, daß sie die Differenz nie gelernt haben; sie ist schlicht und einfach nicht im System vorgesehen und kann nur in wenigen Ausnahmefällen durch hochbegabte Individuen nachgeholt werden. Damit wird die „Bereicherung“ eine Verarmung, ganz objektiv und setzt unsere eigen kulturelle, vielfältig ausdifferenzierte Identität (als Kollektivsingular) zur Disposition.
Dieser Text bringt das klar und stringent auf einen Punkt. Großartig!