Konrad Paul Liessmanns neue Streitschrift

PDF der Druckfassung aus Sezession 63 / Dezember 2014

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Um sich aus einer miß­li­chen Lage zu befrei­en, muß man sie zunächst erken­nen wol­len: »Als Robin­son Cru­soe sich nach dem Schiff­bruch an Land geret­tet und eini­ger­ma­ßen erholt hat­te, besann er sich auf die Fähig­kei­ten eines guten Bür­gers: Er ver­schaff­te sich einen Über­blick über das Wrack; er mach­te Inven­tur; er bilan­zier­te sei­ne Mög­lich­kei­ten; und er ana­ly­sier­te sei­ne Situa­ti­on.« So eröff­ne­te Diet­rich Schwa­nitz vor 15 Jah­ren sein Buch Bil­dung. Alles, was man wis­sen muß, und er fuhr fort: »Wir sind, was die Bil­dung betrifft, in der Lage Robin­sons. Wir haben Schiff­bruch erlit­ten. Das ist schlimm, aber es ist kei­ne Kata­stro­phe, solan­ge man sei­ne Moral behält, nicht in Panik gerät, lern­fä­hig ist und zäh genug, alles wie­der neu aufzubauen.«

Zwei Ein­wän­de drän­gen sich gegen die­se opti­mis­ti­sche Sicht der Din­ge auf: Ers­tens sind wir nicht allein und müs­sen ein­kal­ku­lie­ren, daß ande­re zu einer ganz ande­ren Ein­schät­zung der Lage kom­men. Und zwei­tens kön­nen wir, wenn wir ehr­lich sind, die Situa­ti­on viel­leicht über­schau­en, sie aber kaum über einen gerin­gen Wir­kungs­kreis hin­aus bewäl­ti­gen. Dafür spre­chen schon die unzäh­li­gen Bücher, die jedes Jahr zum The­ma Bil­dung erschei­nen. »Dabei wäre alles so ein­fach.« Mit die­sem Satz lei­tet der Phi­lo­soph Kon­rad Paul Liess­mann, Jahr­gang 1953, in sei­ner Streit­schrift Geis­ter­stun­de. Die Pra­xis der Unbil­dung (Wien: Zsol­nay 2014. 191 S., 17.90 €) jeweils sei­ne Kon­tra­punk­te zu den zahl­rei­chen Aspek­ten der Unbil­dung ein. Liess­mann fängt mit der grund­sätz­li­chen Fra­ge nach dem Cha­rak­ter von Bil­dung an, der in der gegen­wär­ti­gen Wahr­neh­mung zwi­schen (berufli­chem) Heils­ver­spre­chen durch gute Bil­dung und dem kata­stro­pha­len Zustand des Bil­dungs­we­sens ange­sie­delt sei. Bei­de Extrem­be­schrei­bun­gen sei­en falsch, und vor allem habe Bil­dung nichts mit einem mög­li­chen Lebens­glück zu tun. Denn wenn man die Ansprü­che der Bil­dung, bei­spiels­wei­se die Urteils­kraft, ernst neh­me, füh­re sie in den Selbst­zwei­fel, weil die Welt um einen her­um plötz­lich nicht mehr sim­pel funk­tio­nie­re: »Die Vor­sicht, Skep­sis und Beschei­den­heit eines in die­ser Wei­se Gebil­de­ten wür­de ihn einer Welt der gna­den­lo­sen Selbst­dar­stel­ler und zutiefst Über­zeug­ten zu einer ein­sa­men und ver­un­si­cher­ten Figur machen. Glück sieht anders aus.« Aus die­sem über­zo­ge­nen Anspruch und der Instru­men­ta­li­sie­rung von Bil­dung für den Wett­be­werb fol­ge die Logik der Bil­dungs­ka­ta­stro­phen, die per­ma­nen­te Refor­men erfor­der­ten. Die­se Hys­te­rie ver­stel­le den Blick auf die Mög­lich­kei­ten und Gren­zen der Bil­dung. Dabei wäre alle so ein­fach: Bil­dung brau­che Stabilität.

Das Bil­dungs­the­ma beschäf­tigt Liess­mann, der an der Uni­ver­si­tät Wien Phi­lo­so­phie lehrt und durch sei­ne lebens­na­he Ver­mitt­lung phi­lo­so­phi­scher Theo­rien (bei­spiels­wei­se im Radio) über den uni­ver­si­tä­ren Bereich hin­aus Bekannt­heit erlangt hat, schon län­ger. Sei­ne vor acht Jah­ren erschie­ne­ne Theo­rie der Unbil­dung. Die Irr­tü­mer der Wis­sens­ge­sell­schaft brach­te ihm in Öster­reich den Titel »Wis­sen­schaft­ler des Jah­res« ein. Bereits damals lau­te­te sei­ne For­de­rung: »Schluß mit der Bil­dungs­re­form«. Denn der Ruf nach Refor­men füh­re zu einem Teu­fels­kreis, weil mit jeder Reform der Reform­be­darf stei­ge. Über­haupt sei die Reform zur »poli­ti­schen Ideo­lo­gie« der Gegen­wart gewor­den, der sich nie­mand ent­zie­hen kön­ne. In der Tat: Jedem Poli­ti­ker wird ein Ver­zicht auf Refor­men als Feig­heit und Untä­tig­keit aus­ge­legt, was zur per­ma­nen­ten Reform führt, die kei­ner kon­kre­ten Begrün­dung mehr bedarf. Statt des­sen wird auf poli­ti­sche Not­wen­dig­kei­ten ver­wie­sen, etwa auf die Glo­ba­li­sie­rung, die eine Anglei­chung der Stan­dards erfordere.

Die­se Auf­mi­schung der Bil­dung durch den unse­li­gen Rhyth­mus poli­ti­scher Wahl­pe­ri­oden ist für Liess­mann ein Resul­tat der Dumm­heit, mit der Mög­lich­keit, »daß die Pries­ter der Wis­sens­ge­sell­schaft an die­sen Unsinn selbst nicht glau­ben, son­dern sol­che Ideo­lo­ge­me zynisch ver­brei­ten, um die Geschäf­te ihrer Her­ren zu stüt­zen«. Aber: »Was die Bil­dungs­re­for­mer aller Rich­tun­gen eint, ist ihr Haß auf die tra­di­tio­nel­le Idee von Bil­dung. Daß Men­schen ein zweck­frei­es, zusam­men­hän­gen­des, inhalt­lich an den Tra­di­tio­nen der gro­ßen Kul­tu­ren aus­ge­rich­te­tes Wis­sen auf­wei­sen könn­ten, das sie nicht nur befä­higt, einen Cha­rak­ter zu bil­den, son­dern ihnen auch ein Moment von Frei­heit gegen­über den Dik­ta­ten des Zeit­geis­tes gewährt, ist ihnen offen­bar ein Greuel.«

Das neue Buch ist der Pra­xis gewid­met, der Umset­zung des Ziels, einen »flexi­blen, mobi­len und team­fä­hi­gen Klon« in den Schu­len und Uni­ver­si­tä­ten zu erzeu­gen. Man muß es Liess­mann hoch anrech­nen, daß er sich nicht ledig­lich auf die Hoch­schu­len beschränkt, wie das in vie­len Büchern zum Zustand der Bil­dung geschieht, son­dern ein Haupt­au­gen­merk auf die Schu­le und dabei auch die ers­ten Schul­jah­re legt. Beson­ders kon­ser­va­ti­ve Bil­dungs­kri­ti­ker gehen gern gleich den Schritt zum Gym­na­si­um oder gar zur Uni­ver­si­tät, weil sie Grund­la­gen der Bil­dung – Lesen, Rech­nen, Schrei­ben – immer noch für selbst­ver­ständ­lich hal­ten. Mit die­ser Ein­stel­lung lag man viel­leicht bis in die neun­zi­ger Jah­re rich­tig. Doch seit­dem hat man sich bis zu die­sen Grund­la­gen vor­ge­klopft. Das wird bei Liess­mann unter ande­rem unter der Über­schrift »Analpha­be­tis­mus als gehei­mes Bil­dungs­ziel« abge­han­delt und beginnt mit der »gespens­ti­schen Erfah­rung«, daß eine Mut­ter sich am Tag der offe­nen Tür in den Unter­richt ihrer Toch­ter setzt und dort mit anse­hen muß, daß die Leh­re­rin das Wort »Tie­ger« an die Tafel schreibt; was kein Feh­ler ist, son­dern die Kon­se­quenz aus der Lern­me­tho­de »Schrei­ben nach Gehör«. Die Fol­ge: Jeder kann schrei­ben, wie er will, und »wer gar nicht will, kann am Ende weder lesen noch schreiben«.

Die Reak­ti­on auf die­se sehr kon­kre­te Bil­dungs­ka­ta­stro­phe ist nicht, daß man wie­der beginnt, auf kor­rek­te Recht­schrei­bung zu ach­ten (was nach der Recht­schreib­re­form auch schwer gewor­den ist), son­dern die Stan­dards senkt, bei­spiels­wei­se indem man Tex­te in »ein­fa­cher Spra­che« als Maß­stab des Lese­ver­ständ­nis­ses nimmt. Die Aus­wir­kun­gen sind nicht nur unmit­tel­bar ver­hee­rend, son­dern füh­ren lang­fris­tig zum Ver­fall einer Sprach­kul­tur und dem Rück­fall in die Ora­li­tät. Irgend­wann – so Liess­mann – wer­de kei­ner mehr Bücher schrei­ben kön­nen, und nie­mand wer­de mehr Ein­laß in das Reich der Lite­ra­tur erhal­ten, weil die­ser sei­nen Preis habe: »Erfor­dert war eine Dis­zi­pli­nie­rung der Sin­ne und des Kör­pers, wie sie kein ande­res Medi­um dem Men­schen abver­lang­te.« Liess­mann ist mit sei­nem »Dabei wäre alles so ein­fach« an die­ser Stel­le etwas rat­los. Klar, Lesen und Schrei­ben sind Kul­tur­tech­ni­ken, die jeder braucht, und das Niveau soll­te nicht von den Unbe­ru­fe­nen bestimmt wer­den. Aber ist es mit der For­de­rung nach Behand­lung von Lite­ra­tur im Unter­richt getan – inmit­ten einer umfas­sen­den Digi­ta­li­sie­rung und von digi­ta­len Zumu­tun­gen? Liess­mann weiß ziem­lich genau, daß die Hoch­schät­zung der Lite­ra­tur als Rück­zugs­ort ein Pro­gramm für sehr weni­ge ist und die skur­ri­len Aus­wüch­se der päd­ago­gi­schen Pra­xis nur die Spit­ze des Eis­bergs sind. Daß die Schul­fä­cher zuguns­ten von Fächer­kom­bi­na­tio­nen abge­schafft, Kom­pe­ten­zen statt Wis­sen gefor­dert wer­den, Power­point als päd­ago­gi­sches All­heil­mit­tel gilt und Wis­sen kei­ne Struk­tur mehr haben muß, sind Sym­pto­me, die sich auf ein Men­schen­bild zurück­füh­ren las­sen, das den Men­schen auf sei­ne Funk­tio­na­li­tät redu­ziert. Der Wert des Buches von Liess­mann liegt dar­in, daß er die­ses defi­zi­tä­re Bild, das von »Bil­dungs­exper­ten« wie Richard David Precht ver­tre­ten wird, benennt.

Fast alle die­se Exper­ten sind »gute Rous­se­au­is­ten, das heißt, sie sind über­zeugt davon, daß Neu­ge­bo­re­ne, Babys und Klein­kin­der wun­der­ba­re, umfas­send kom­pe­ten­te, mehr­fach begab­te, hoch­ta­len­tier­te und krea­ti­ve Wesen sind, die allein durch ein anti­quier­tes Bil­dungs­sys­tem kor­rum­piert, gebro­chen und zer­stört wer­den.« Ver­ges­sen ist die jahr­tau­sen­de­al­te Ein­sicht, daß der Mensch Gren­zen, Her­aus­for­de­run­gen und Ent­täu­schun­gen braucht, um kein aso­zia­les Wesen zu blei­ben. Und natür­lich wird auch aus­ge­blen­det, daß die Natur »ihr Füll­horn an Bega­bun­gen und Talen­ten« nicht gleich­mä­ßig über allen ausschüttet.

Das alles steht in einem merk­wür­di­gen­Wech­sel­ver­hält­nis zur Kapi­ta­li­sie­rung des Geis­tes (und der damit ein­her­ge­hen­den Ver­schu­lung der Uni­ver­si­tä­ten!). Denn alles Han­deln und Den­ken der Gegen­wart ori­en­tie­re sich, so Liess­mann, am Wirt­schafts­wachs­tum, an der Nütz­lich­keit. Alles, was dem nicht gehor­che, wer­de mar­gi­na­li­siert und aus­ge­merzt, womit einer der weni­gen Frei­räu­me ver­schwin­de, die dem Men­schen zur Ver­fü­gung stün­den: »In der kon­se­quen­ten Aus­rich­tung auf gesell­schaft­li­chen und öko­no­mi­schen Nut­zen zeigt sich die Pra­xis der Unbil­dung in ihrer bar­ba­ri­schen Gestalt.«

Liess­mann for­dert unter dem Strich eine kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­ti­on in der Bil­dung, sowohl in der Grund­schu­le als auch im Gym­na­si­um und an der Uni­ver­si­tät. Des­halb ist Liess­mann noch lan­ge kein Kon­ser­va­ti­ver (nicht zuletzt, weil er die Ver­dum­mung für ein Pro­jekt der Gegen­auf­klä­rung hält), son­dern ein Auf­klä­rer im bes­ten Sin­ne des Wor­tes. Letzt­lich geht es ihm um den Kampf gegen die Unver­nunft, die sich unter dem Man­tel der Nütz­lich­keit, also des Anwen­dungs­wis­sens verbirgt. 

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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