Um sich aus einer mißlichen Lage zu befreien, muß man sie zunächst erkennen wollen: »Als Robinson Crusoe sich nach dem Schiffbruch an Land gerettet und einigermaßen erholt hatte, besann er sich auf die Fähigkeiten eines guten Bürgers: Er verschaffte sich einen Überblick über das Wrack; er machte Inventur; er bilanzierte seine Möglichkeiten; und er analysierte seine Situation.« So eröffnete Dietrich Schwanitz vor 15 Jahren sein Buch Bildung. Alles, was man wissen muß, und er fuhr fort: »Wir sind, was die Bildung betrifft, in der Lage Robinsons. Wir haben Schiffbruch erlitten. Das ist schlimm, aber es ist keine Katastrophe, solange man seine Moral behält, nicht in Panik gerät, lernfähig ist und zäh genug, alles wieder neu aufzubauen.«
Zwei Einwände drängen sich gegen diese optimistische Sicht der Dinge auf: Erstens sind wir nicht allein und müssen einkalkulieren, daß andere zu einer ganz anderen Einschätzung der Lage kommen. Und zweitens können wir, wenn wir ehrlich sind, die Situation vielleicht überschauen, sie aber kaum über einen geringen Wirkungskreis hinaus bewältigen. Dafür sprechen schon die unzähligen Bücher, die jedes Jahr zum Thema Bildung erscheinen. »Dabei wäre alles so einfach.« Mit diesem Satz leitet der Philosoph Konrad Paul Liessmann, Jahrgang 1953, in seiner Streitschrift Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung (Wien: Zsolnay 2014. 191 S., 17.90 €) jeweils seine Kontrapunkte zu den zahlreichen Aspekten der Unbildung ein. Liessmann fängt mit der grundsätzlichen Frage nach dem Charakter von Bildung an, der in der gegenwärtigen Wahrnehmung zwischen (beruflichem) Heilsversprechen durch gute Bildung und dem katastrophalen Zustand des Bildungswesens angesiedelt sei. Beide Extrembeschreibungen seien falsch, und vor allem habe Bildung nichts mit einem möglichen Lebensglück zu tun. Denn wenn man die Ansprüche der Bildung, beispielsweise die Urteilskraft, ernst nehme, führe sie in den Selbstzweifel, weil die Welt um einen herum plötzlich nicht mehr simpel funktioniere: »Die Vorsicht, Skepsis und Bescheidenheit eines in dieser Weise Gebildeten würde ihn einer Welt der gnadenlosen Selbstdarsteller und zutiefst Überzeugten zu einer einsamen und verunsicherten Figur machen. Glück sieht anders aus.« Aus diesem überzogenen Anspruch und der Instrumentalisierung von Bildung für den Wettbewerb folge die Logik der Bildungskatastrophen, die permanente Reformen erforderten. Diese Hysterie verstelle den Blick auf die Möglichkeiten und Grenzen der Bildung. Dabei wäre alle so einfach: Bildung brauche Stabilität.
Das Bildungsthema beschäftigt Liessmann, der an der Universität Wien Philosophie lehrt und durch seine lebensnahe Vermittlung philosophischer Theorien (beispielsweise im Radio) über den universitären Bereich hinaus Bekanntheit erlangt hat, schon länger. Seine vor acht Jahren erschienene Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft brachte ihm in Österreich den Titel »Wissenschaftler des Jahres« ein. Bereits damals lautete seine Forderung: »Schluß mit der Bildungsreform«. Denn der Ruf nach Reformen führe zu einem Teufelskreis, weil mit jeder Reform der Reformbedarf steige. Überhaupt sei die Reform zur »politischen Ideologie« der Gegenwart geworden, der sich niemand entziehen könne. In der Tat: Jedem Politiker wird ein Verzicht auf Reformen als Feigheit und Untätigkeit ausgelegt, was zur permanenten Reform führt, die keiner konkreten Begründung mehr bedarf. Statt dessen wird auf politische Notwendigkeiten verwiesen, etwa auf die Globalisierung, die eine Angleichung der Standards erfordere.
Diese Aufmischung der Bildung durch den unseligen Rhythmus politischer Wahlperioden ist für Liessmann ein Resultat der Dummheit, mit der Möglichkeit, »daß die Priester der Wissensgesellschaft an diesen Unsinn selbst nicht glauben, sondern solche Ideologeme zynisch verbreiten, um die Geschäfte ihrer Herren zu stützen«. Aber: »Was die Bildungsreformer aller Richtungen eint, ist ihr Haß auf die traditionelle Idee von Bildung. Daß Menschen ein zweckfreies, zusammenhängendes, inhaltlich an den Traditionen der großen Kulturen ausgerichtetes Wissen aufweisen könnten, das sie nicht nur befähigt, einen Charakter zu bilden, sondern ihnen auch ein Moment von Freiheit gegenüber den Diktaten des Zeitgeistes gewährt, ist ihnen offenbar ein Greuel.«
Das neue Buch ist der Praxis gewidmet, der Umsetzung des Ziels, einen »flexiblen, mobilen und teamfähigen Klon« in den Schulen und Universitäten zu erzeugen. Man muß es Liessmann hoch anrechnen, daß er sich nicht lediglich auf die Hochschulen beschränkt, wie das in vielen Büchern zum Zustand der Bildung geschieht, sondern ein Hauptaugenmerk auf die Schule und dabei auch die ersten Schuljahre legt. Besonders konservative Bildungskritiker gehen gern gleich den Schritt zum Gymnasium oder gar zur Universität, weil sie Grundlagen der Bildung – Lesen, Rechnen, Schreiben – immer noch für selbstverständlich halten. Mit dieser Einstellung lag man vielleicht bis in die neunziger Jahre richtig. Doch seitdem hat man sich bis zu diesen Grundlagen vorgeklopft. Das wird bei Liessmann unter anderem unter der Überschrift »Analphabetismus als geheimes Bildungsziel« abgehandelt und beginnt mit der »gespenstischen Erfahrung«, daß eine Mutter sich am Tag der offenen Tür in den Unterricht ihrer Tochter setzt und dort mit ansehen muß, daß die Lehrerin das Wort »Tieger« an die Tafel schreibt; was kein Fehler ist, sondern die Konsequenz aus der Lernmethode »Schreiben nach Gehör«. Die Folge: Jeder kann schreiben, wie er will, und »wer gar nicht will, kann am Ende weder lesen noch schreiben«.
Die Reaktion auf diese sehr konkrete Bildungskatastrophe ist nicht, daß man wieder beginnt, auf korrekte Rechtschreibung zu achten (was nach der Rechtschreibreform auch schwer geworden ist), sondern die Standards senkt, beispielsweise indem man Texte in »einfacher Sprache« als Maßstab des Leseverständnisses nimmt. Die Auswirkungen sind nicht nur unmittelbar verheerend, sondern führen langfristig zum Verfall einer Sprachkultur und dem Rückfall in die Oralität. Irgendwann – so Liessmann – werde keiner mehr Bücher schreiben können, und niemand werde mehr Einlaß in das Reich der Literatur erhalten, weil dieser seinen Preis habe: »Erfordert war eine Disziplinierung der Sinne und des Körpers, wie sie kein anderes Medium dem Menschen abverlangte.« Liessmann ist mit seinem »Dabei wäre alles so einfach« an dieser Stelle etwas ratlos. Klar, Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, die jeder braucht, und das Niveau sollte nicht von den Unberufenen bestimmt werden. Aber ist es mit der Forderung nach Behandlung von Literatur im Unterricht getan – inmitten einer umfassenden Digitalisierung und von digitalen Zumutungen? Liessmann weiß ziemlich genau, daß die Hochschätzung der Literatur als Rückzugsort ein Programm für sehr wenige ist und die skurrilen Auswüchse der pädagogischen Praxis nur die Spitze des Eisbergs sind. Daß die Schulfächer zugunsten von Fächerkombinationen abgeschafft, Kompetenzen statt Wissen gefordert werden, Powerpoint als pädagogisches Allheilmittel gilt und Wissen keine Struktur mehr haben muß, sind Symptome, die sich auf ein Menschenbild zurückführen lassen, das den Menschen auf seine Funktionalität reduziert. Der Wert des Buches von Liessmann liegt darin, daß er dieses defizitäre Bild, das von »Bildungsexperten« wie Richard David Precht vertreten wird, benennt.
Fast alle diese Experten sind »gute Rousseauisten, das heißt, sie sind überzeugt davon, daß Neugeborene, Babys und Kleinkinder wunderbare, umfassend kompetente, mehrfach begabte, hochtalentierte und kreative Wesen sind, die allein durch ein antiquiertes Bildungssystem korrumpiert, gebrochen und zerstört werden.« Vergessen ist die jahrtausendealte Einsicht, daß der Mensch Grenzen, Herausforderungen und Enttäuschungen braucht, um kein asoziales Wesen zu bleiben. Und natürlich wird auch ausgeblendet, daß die Natur »ihr Füllhorn an Begabungen und Talenten« nicht gleichmäßig über allen ausschüttet.
Das alles steht in einem merkwürdigenWechselverhältnis zur Kapitalisierung des Geistes (und der damit einhergehenden Verschulung der Universitäten!). Denn alles Handeln und Denken der Gegenwart orientiere sich, so Liessmann, am Wirtschaftswachstum, an der Nützlichkeit. Alles, was dem nicht gehorche, werde marginalisiert und ausgemerzt, womit einer der wenigen Freiräume verschwinde, die dem Menschen zur Verfügung stünden: »In der konsequenten Ausrichtung auf gesellschaftlichen und ökonomischen Nutzen zeigt sich die Praxis der Unbildung in ihrer barbarischen Gestalt.«
Liessmann fordert unter dem Strich eine konservative Revolution in der Bildung, sowohl in der Grundschule als auch im Gymnasium und an der Universität. Deshalb ist Liessmann noch lange kein Konservativer (nicht zuletzt, weil er die Verdummung für ein Projekt der Gegenaufklärung hält), sondern ein Aufklärer im besten Sinne des Wortes. Letztlich geht es ihm um den Kampf gegen die Unvernunft, die sich unter dem Mantel der Nützlichkeit, also des Anwendungswissens verbirgt.