Es gibt Schriftsteller, deren gesamtes Werk von einem einzigen Text eine starke Färbung erfährt. In der Deutung der Gegner ist sie eine Kontamination, die nach hinten das bereits Geschriebene und nach vorn das noch zu Sagende beschmutzt; Verteidiger hingegen (und leider nicht nur die Lese- und Urteilsfähigen) nutzen diesen Bruchteil eines Werks als Lesehilfe für jeden weiteren Text aus der Feder des einmal Vereinnahmten. Botho Strauß – am 2. Dezember siebzig Jahre alt geworden – hat diese Festlegung auf seinen Essay »Anschwellender Bocksgesang« erlebt, der Anfang 1993 im Spiegel erschien. Strauß gab mit diesem Fanfarenstoß dem Reiz einer Gegen-Aufklärung von rechts einen hallenden Ton und rückte schlagartig ins Zentrum der politischen Wahrnehmung, und die Aufnahme seines Textes in den Sammelband Die selbstbewußte Nation (1994) räumte letzte Zweifel an einem Mißverständnis aus.
Seine alten Weggefährten von links standen fassungslos vor dieser Wegmarke. Auf der Rechten gab es nur wenige, die das Werk von Strauß bereits als literarisches Ereignis verfolgt hatten. Wer kannte vor dem »Bocksgesang« den Roman Der junge Mann, wer den Aufstand gegen die sekundäre Welt oder auch nur eines der Theaterstücke? Vieles jedenfalls, was nun nachholend gelesen und diskutiert wurde, nahm den Charakter eines Bratens an, von dem man mit einem am »Bocksgesang« geschliffenen Messer die passenden Stücke heruntersäbelte. Derlei wird einem Botho Strauß nicht gerecht, und selbstverständlich können die Sezession und der Verlag Antaios auf eine gründliche Beschäftigung mit dem Werk verweisen. Das hebt an mit der längst vergriffenen Monographie Dichter der Gegen-Aufklärung, die Michael Wiesberg 2002 bei Antaios vorlegte, führt über das Autorenporträt von Thorsten Hinz (Sezession 33/2009) und der Auseinandersetzung mit der Bewußtseinsnovelle Die Unbeholfenen aus meiner Feder (Sezession 46/2012) bis zur Einordnung des »Bocksgesangs« als eines Hebeltextes durch Karlheinz Weißmann (Sezession 52/2013) und die Inanspruchnahme einiger Gedanken aus Die Lichter des Toren in meinem Plädoyer für den »Romantischen Dünger« (Sezession 59/2014). Rezensionen und etliche Zitate aus dem Werk durchziehen die Jahrgänge wie Fäden: Wir schöpfen aus dem gedankentiefen Prosawerk eines Intellektuellen, der sich auf der Höhe der Zeit bewegt und sich doch von ihr abkehrt.
Der Hanser-Verlag hat nun anläßlich des 70. Geburtstags von Strauß unter dem Titel Allein mit allen ein »Gedankenbuch« zusammenstellen lassen (350 S., 19.90 €) und damit die Möglichkeit des Herausgreifens besonders handfertiger Stücke aus dem Gesamtwerk erleichtert. Herausgeber dieser in siebzehn Kapitel gegliederten Sammlung ist Sebastian Kleinschmidt (ehemals Herausgeber der Zeitschrift Sinn und Form), er hat ein Nachwort beigesteuert und bezeichnet darin den Titel Allein mit allen als »Formel des Lesens, des Fürsichseins von Mensch und Schrift«, und natürlich auch »eine Formel des Rückzugs, der Absonderung, der klausnerischen Existenz.« Absonderung? Sezession! – Auch Martin Lichtmesz hat in seinem grandiosen Kurzflm zum 50. Heft unserer Zeitschrift (siehe youtube.de) auf Straußzitate zurückgegriffen: »Was sich stärken muß, ist das Gesonderte.« oder: »So viel Stoff, um ein Einzelgänger zu werden!« und zuletzt: »Dabei: Das einzige, was man braucht, ist Mut zur Sezession!«
Woher kommt bei Botho Strauß dieser Mut? Aus seiner Kindheit und Jugend in Bad Ems? Aus ihr erzählt er – der Interviewscheue und Untransparente – in dem ebenfalls bei Hanser erschienenen Buch Herkunft (96 S., 14.90 €) endlich einmal ausführlicher, vor allem von seinem Vater, der in Naumburg alles zurückließ, um seine Freiheit zu behalten und im Westen weit unter Niveau sich verdingte. Auch hieraus ein Wink: »Immer formt Schicksal eine tiefere Einsicht, als die Intelligenten, die seine Macht nie zu spüren bekamen, sie für sich in Anspruch nehmen dürfen.« Dies könnte bereits wieder als Mahnung über jeder Sezession stehen, die ja bei aller Intellektualität eines nie tut: die Wirklichkeit links liegenlassen. Strauß ist auch darin ein seltener Lehrer.