Mag hier und da aktuell der Eindruck entstehen, daß die Dinge nach den Ereignissen in Köln, Hamburg und anderswo nun in Bewegung gerieten, sogar ein Umdenken stattfinde, ja gar die Möglichkeit für einen erfolgversprechenden Widerstand gegen die aktuelle Regierungspolitik gegeben sei, so belehrt der Blick in die Geschichte eines Besseren, auch wenn historische Vergleiche oft und gerne hinken: Die heutigen Argumentationslinien und Aktionen des rechtskonservativen Milieus können schlichtweg nur als langweilig und harmlos bezeichnet werden, wenn man sich vergegenwärtigt, mit welchem Totalitätsanspruch, Rigorismus und Eifer der Maoismus von der Neuen Linken der Jahre 1968ff. rezipiert, transportiert und propagiert worden ist – und das gerade auch im Hinblick auf die Behandlung der nationalen Frage.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte sich der Maoismus zu einer weltweit beachteten Größe entwickelt und übte insbesondere als neuartige Ideologie sowie durch die realpolitischen Erfolge Maos im Guerilla- und Partisanenkampf eine große Faszination aus, der sich auch Denker wie Carl Schmitt nicht entziehen konnten. Besondere Wirkung erzielte der Maoismus aber in weiten Teilen der Neuen Linken, die im neuen, chinesischen Weg eine dynamische Alternative zum starren Sowjetsystem sahen und diese Ideen in die Außerparlamentarische Opposition (APO) der Bundesrepublik trugen. Nach dem Zerfall der Protestbewegung verteilten sich die Aktivisten, sofern sie nicht in depressive Apathie verfielen oder dem radikalisierten Weg des bewaffneten Kampfes folgten, größtenteils auf die karrieresichernde Sozialdemokratie und sozialistische Alternativgruppierungen oder schlossen sich den aus dem Boden sprießenden maoistischen Organisationen, den sogenannten K‑Gruppen, an, die sich als die legitime (und natürlich einzig wahre) Nachfolgerin der historischen Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) sahen und sich ideologisch durch eine jeweils eigene Mischung aus Maoismus und knallhartem Stalinismus sowie eine enge Anlehnung an die Regime in Kambodscha oder Albanien auszeichneten.
Bei einigen Gruppierungen wurde jedoch über den Einfluß des Maoismus auch erkennbar die Bedeutung der nationalen Selbstbestimmung rezipiert, insbesondere bei der stark studentisch geprägten »Aufbauorganisation für die Kommunistische Partei Deutschlands« (KPD/AO, später nur noch KPD) unter Christian Semler, Peter Neitzke und Jürgen Horlemann, bei der bereits seit Dezember 1968 existierenden »KPD/Marxisten-Leninisten« (KPD/ML) sowie bei den nur etwa 200 Personen umfassenden »Marxisten-Leninisten Deutschlands« (MLD). Die Hervorhebung des nationalen Elementes hatte dabei einen elementaren Ursprung im historischen Kampf Chinas gegen feudale und koloniale Strukturen, und Mao war infolgedessen der generellen Ansicht, daß jede Nation zuerst ihre nationale Frage beantworten müsse, etwa durch die Befreiung von imperialistischen und kolonialen Besatzungsmächten, bevor sich der Aufbau des Sozialismus erfolgreich fortführen und beenden lasse. Entsprechend nahm die nationale Frage auch in der ideologischen Programmatik der genannten maoistischen Gruppen der Bundesrepublik in den 1970er Jahren einen zentralen Stellenwert ein und wurde ein wesentlicher Bestandteil der nicht selten in einem aggressiven Duktus vorgetragenen Propaganda. Auffällig war vor allem, daß für die national orientierten Maoisten die soziale und die nationale Frage nicht voneinander separiert betrachtet wurden. Darüber hinaus wurden unter dem Komplex der deutschen Frage eben nicht nur die Regelung der innerdeutschen Beziehungen, sondern explizit das Ziel der Wiedervereinigung verstanden. Damit war für sie gleichzeitig auch untrennbar die Frage nach nationaler Souveränität, der Besatzungszustand sowie der Zusammenhang zwischen der globalen Rolle der Supermächte und der deutschen Situation verbunden.
In erster Linie gingen die Gruppen von einem grundlegenden Antagonismus zwischen den imperialistischen Mächten und den von ihnen unterdrückten Völkern und Nationen aus. Dabei stimmten KPD, KPD/ML und MLD in ihrer prinzipiellen Beurteilung einer globalen Bedrohung durch beide Supermächte und der damit einhergehenden Betonung des antiimperialistischen Kampfes überein, wichen in ihrer Beurteilung des Hauptfeindes jedoch leicht voneinander ab: So avancierte für die KPD nach einer anfangs einseitigen Stoßrichtung gegen den US-Imperialismus seit 1974/75 zunehmend der sozialimperialistische Charakter der, aus maoistischer Sicht, revisionistisch entarteten UdSSR zur größten Bedrohung der Völker und Nationen, während für die MLD die UdSSR hingegen immer schon der klare Hauptfeind gewesen war. Demgegenüber nahm die KPD/ML eine abweichende Haltung ein, da sie zwar der UdSSR eine offensivere Rolle als den USA zuschrieb, aber unter den beiden Supermächten nicht eine Macht zum alleinigen Hauptfeind erheben wollte. So el die KPD/ML etwa auch weiterhin durch einen expliziten, gleichermaßen politischen wie auch kulturellen Antiamerikanismus auf und lehnte darüber hinaus im Vergleich zu den anderen beiden Gruppen etwa auch die Adaption der »Drei-Welten-Theorie« ab: Gemäß dieser, nach Maos Tode im Jahr 1976 dann auch offiziell zur Staatsdoktrin Chinas erkorenen Theorie sollte sich die Zweite Welt (Europa und Japan) mit der Dritten Welt (Asien, Lateinamerika und Afrika) unter der Führung Chinas gegen die beiden miteinander konkurrierenden Hegemonialmächte der Ersten Welt, die USA und die UdSSR, verbünden, wobei China aber im Zuge des immer weiter eskalierenden Streites klar die Sowjetunion als Hauptfeind sah und daher auch zu Bündnissen und Absprachen mit dem Westen bereit war. Dies führte in der Folge zum Bruch Chinas mit Albanien und einer entsprechenden Neuausrichtung der bis dahin auf einem strikt maoistischen Kurs liegenden KPD/ ML: Die Partei sah darin einen offenen Verrat der chinesischen Führung und vollzog einen einschneidenden Kurswechsel, infolgedessen sie im August 1978 von China abrückte, sich von Mao als ideologischer Leitfigur lossagte und sich stattdessen noch stärker Albanien sowie dem Stalinismus zuwendete.
MLD und KPD unterstützten ihrerseits den neuen Kurs Chinas und hatten diesen auch sogleich in ihre Programmatik übernommen – infolgedessen war fast jedes Bündnis recht, wenn es nur gegen die UdSSR gerichtet war. Bei beiden Gruppierungen steigerte sich die Feindschaft zur Sowjetunion so weit, daß sich die KPD als Folge eines programmatischen Schwenks in ihrem Programm von 1977 unter dem eindeutig mit patriotischen Intentionen verbundenen Schlagwort der »Vaterlandsverteidigung« für nationale Befreiungskriege gegen jedwede Fremdherrschaft, besonders aber die der UdSSR auf deutschem Boden, aussprach. Die MLD gingen in diesem Zusammenhang noch einen Schritt weiter und forderten im Rahmen ihrer einseitigen Stoßrichtung gegen die UdSSR in einer für die extreme Linke der 1970er Jahre untypischen Weise die Stärkung der Bundeswehr, eine Aufrüstung mit der Neutronenbombe sowie den Zusammenschluß in einer internationalen Einheitsfront unter Einbeziehung der USA. Dazu korrespondierend propagierte die maoistische Organisation auch innenpolitisch eine lagerübergreifende Einheitsfront bis hin zur CSU und verteidigte ausdrücklich die ihrer Ansicht nach durch die Sowjetunion bedrohte bürgerliche Demokratie der Bundesrepublik, womit die MLD im gesamten maoistischen, wie aber auch generell linken Spektrum der Bundesrepublik alleine standen.
Angesichts dieser globalen Konstellation stellte sich für die KPD, KPD/ ML und MLD die nationale Frage zum einen maßgeblich aufgrund der mitten durch das Land verlaufenden Einflußsphärengrenze der beiden Supermächte, da angesichts der um die Beherrschung Europas ringenden Supermächte und der damit einhergehenden steigenden Kriegsgefahr automatisch das geteilte Deutschland als potentieller Hauptkriegsschauplatz ins Zentrum rückte. Zum anderen wurden die Kämpfe nationaler Befreiungsbewegungen rund um den Globus, welche die nationale Einheit ihres von einer imperialistischen Macht bedrohten oder bereits geteilten Landes auf sozialistischer Grundlage herstellen wollten, als reale Vorbilder für den revolutionären Kampf angeführt.
Diese Solidarisierung mit den nationalen Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und die Benennung ihrer Erhebungen als beispielhaft für den eigenen revolutionären Kampf war bereits in der APO ein weit verbreitetes Phänomen, und für die maoistischen Organisationen war die gegenwärtige Situation in Deutschland ein genaues Abbild dieser Weltlage: Gemäß der Parole des späteren Premierministers Zhou Enlai, wonach Staaten die Unabhängigkeit, Nationen die Befreiung und Völker die Revolution wollen, wurde das seit dem Zweiten Weltkrieg geteilte und besetzte Land analog zu den Verhältnissen in der Dritten Welt als unterdrückte Nation gesehen und in den antiimperialistischen Befreiungskampf eingeordnet, der sich hier gegen die gleichzeitig als Besatzungsmächte auftretenden und global agierenden imperialistischen Supermächte richtete. In all diesen Punkten führten KPD/ML, KPD und MLD also letztlich »eine Art Zweifrontenkrieg« (Wolfgang Kraushaar), bei dem der Kampf gegen die imperialistischen Supermächte von der Weltbühne auf die Situation des von den Supermächten geteilten und besetzten Deutschlands übertragen wurde und sich dort dann parallel als nationaler Befreiungskrieg mit entsprechenden Rückschlüssen für die deutsche Frage stellte.
Das gespaltene Deutschland wurde also expressis verbis als von den Supermächten kolonisiertes Land bezeichnet, wobei aber in der damit verbundenen Hauptfeindfrage aufgrund der Abhängigkeitsverhältnisse der beiden deutschen Staaten der Unterschied klar war: So wurde die Bundesrepublik insbesondere von KPD und KPD/ML als monopolkapitalistischer Staat mit eigenen imperialistischen Interessen angesehen, der von den USA zwar abhängig war, aber mehr noch ein komplizenhaftes Verhältnis zu diesen pflegte und sich weiterhin mittels seiner imperialistischen Wiedervereinigungspolitik der DDR bemächtigen wollte. Demgegenüber war die DDR für alle drei Gruppen einvernehmlich von der sowjetischen Besatzungsmacht durch die weitere Einschränkung der staatlichen Souveränität und die koloniale Abhängigkeit zum Vasallenstaat degradiert worden. In den Augen der Maoisten hatte auch die SED, die für ihre Wiedervereinigungspolitik und den Aufbau des Sozialismus unmittelbar nach Kriegsende noch positiv beurteilt wurde, im Zuge ihrer revisionistischen Transformation das Ziel der nationalen Einheit auf revolutionärer Grundlage der Anfangsjahre aufgegeben, sodaß letztlich zwischen dem kapitalistischen Westen und der DDR keine wesentlichen Unterschiede mehr festzustellen seien. Neben der zentralen Rolle der Supermächte in der globalen Konstellation des Kalten Krieges sowie ihrer konkreten Präsenz als Besatzungsmächte war gerade auch dieser nationale Verrat beider deutschen Regierungen ein weiterer maßgeblicher Grund für die bundesdeutschen Maoisten, die nationale Frage in ihre Programmatik und Propaganda aufzunehmen.
Unter der von allen drei Gruppierungen verwendeten Parole »Für ein unabhängiges, vereintes und sozialistisches Deutschland!« traten diese für eine Wiedervereinigung im Kampf sowohl gegen die Besatzungsmächte als auch die »Klassenfeinde« in Bundesrepublik und DDR ein, wobei dies nur die Aufgabe des Volkes, d.h. der Arbeiterklasse unter der Führung der eigenen Organisation, sein konnte. Gemäß ihrer Parole bestand für die Gruppen die Lösung der nationalen Frage aus einem Komplex von drei zusammenhängenden Faktoren: dem nationalen Befreiungskampf gegen die Besatzungsmächte, der proletarischen Revolution gegen die Bourgeoisie in beiden deutschen Staaten mit der Errichtung des Sozialismus als Ziel und der Wiedervereinigung der beiden Teilstaaten zu einer deutschen Nation. Dabei waren im Detail wiederum Unterschiede in der Programmatik erkennbar: So hatte die KPD vor allem in ihrer Anfangsphase die deutsche Frage noch nicht explizit und auch nicht in all ihren Facetten aufgeworfen, sondern beschäftigte sich wahrnehmbar erst im Jahre 1972 mit diesem Thema und entwickelte daraus gewissermaßen prozeßartig ihre spätere Position. Ab 1976 und maßgeblich in ihrem letzten Programm 1977 erklärte die Partei, daß die Anwesenheit der Supermächte in den beiden deutschen Staaten als Haupthindernis auf dem Weg zur proletarischen Revolution anzusehen sei, weshalb ihre Vertreibung nun zur unerläßlichen Voraussetzung für die Errichtung des Sozialismus geworden war. Seitdem betonte die Partei zugleich die Vorrangigkeit einer Lösung der nationalen Frage, um erst anschließend auch die soziale Frage mit einer sozialistischen Revolution in ganz Deutschland beantworten zu können.
Zwar appellierten in diesem Zusammenhang alle Gruppierungen an ein positives Nationalbewußtsein als Motor für eine revolutionäre Lösung der nationalen sowie sozialen Frage, doch hierbei fielen insbesondere die KPD/ML und die MLD durch eine kräftige nationale Akzentuierung und ein hohes Maß an nationalem Pathos auf. Dies äußerte sich etwa darin, daß die MLD als einzige maoistische Gruppierung der Bundesrepublik seit September 1978 in der Titelzeile ihres Zentralorgans sowohl die rote Fahne als auch die schwarz-rot-goldene führten und zudem ihr ausnehmendes Festhalten am »17. Juni« als nationalem Gedenktag betonten. Auch die KPD/ML führte beispielsweise im Rahmen einer Grundsatzerklärung zur nationalen Frage einen Katalog aus historischen, kulturellen, traditionellen und geographischen Eigenschaften Deutschlands an, auf die sich das gesamte deutsche Volk mit Stolz beziehen könne: In einem »Wahlextrablatt« von 1974 heißt es: »Die Regierungen beider deutscher Staaten haben die nationalen Interessen des deutschen Volkes verraten und treten sein Selbstbestimmungsrecht mit Füßen. Während die Bundesregierung der Besetzung Westdeutschlands bis in das Jahr 2005 zustimmte, unsere Heimat den Einflüssen des kapitalistischen sogenannten ›american way of life‹ (…) öffnete und allein seit 1961 38 Milliarden Mark für die Stationierung der US-Truppen aus der westdeutschen Bevölkerung herauspreßte, hat die Regierung der DDR, die Honecker-Stoph-Clique, diesen Teil unserer Heimat in eine Kolonie des sowjetischen Sozialimperialismus verwandelt, in der der sowjetische Militärstiefel regiert, leugnet sie die Existenz einer deutschen Nation und ist bemüht, das Wort ›deutsch‹ aus ihrem Sprachschatz zu streichen. Sie, die zwei Supermächte und ihre westdeutschen Bündnispartner und ostdeutschen Lakaien möchten die Deutschen vergessen machen, daß sie eine große Vergangenheit als selbständige und begabte Nation besitzen.«
Trotz dieser beeindruckenden Beispiele eines offensiven Linksnationalismus muß aber betont werden, daß die hier präsentierten maoistischen Gruppen mit ihrer Behandlung der nationalen Frage, bei der sie auch untereinander durchaus Unterschiede aufwiesen, innerhalb des maoistischen Lagers in der Bundesrepublik im programmatischen Gegensatz zu personell und organisatorisch stärkeren Gruppierungen standen. Beispielsweise zeigten sich mit dem »Kommunistischen Bund Westdeutschland« (KBW) sowie dem »Kommunistischen Bund Nord« (KB) andere Gruppen national enthaltsam bis betont antinational: Der KB Nord hielt etwa ungebrochen an den Thesen der APO von einer konkreten Faschismusgefahr in der Bundesrepublik fest und lehnte die deutsche Einheit daher entschieden ab. Aber gerade aus diesen letztgenannten Gruppierungen sollte sich dann zum einen in einem nicht unbedeutenden Ausmaße das politische und einflußreiche Führungspersonal der SPD und der Grünen sowie insbesondere auch späterer Bundesregierungen rekrutieren, wie etwa Jürgen Trittin, Ulla Schmidt, Joscha Schmierer, Reinhard Bütikofer und viele andere; zum anderen war hier im Wesentlichen die Wurzel für die im Zuge der Wiedervereinigung auftretende Bewegung der »Antideutschen« auszumachen: Beide Stränge sollten ihren Teil dazu beitragen, daß sich bis heute auf der politischen Linken das negative Bild der Nation, der nationale Selbsthaß sowie das Ziel einer Abschaffung des Nationalstaates weiter verfestigte und der in knapper Form hier vorgestellte nationale Widerstand gegen die Supermächte im Einklang mit einem Patriotismus von links nur eine Phase in ihrer Historie geblieben ist.