»Staat« ist einer jener Grundbegriffe, mit denen Menschen die Bedingungen ihres Daseins zu erfassen suchen. Die mit einem solchen Wort verbundenen Vorstellungen sind vielfältig, fließend und für den Außenstehenden, nicht von der Geschichte und Kultur der dieses Wort hervorbringenden Gemeinschaft Durchtränkten, oft nur schwer und über unzureichende Analogien verständlich. Für das Wort »Staat« zeigt dies bereits innerhalb der abendländischen Kultur der Unterschied zwischen »Staat«, »état« und »state«, ganz abgesehen von »society«, dem eigentlichen Grundbegriff angelsächsischer Vergemeinschaftung. In der Antike gab es die Polis und die Civitas. Der Orient kennt die Begriffe der Umma und des Kalifats. Das alles sind Versuche zur Erfassung eines jeweils geschichtlich-wirklichen, höhergeordneten Wirs. Also durchaus von etwas, das durch die Schwierigkeit, es auf den Begriff zu bringen, nicht weniger wirklich wird. An der Grundbegriffsqualität des Staates ändert auch die Tatsache nichts, daß es sich um ein recht junges Wort handelt (verglichen mit Ausdrücken wie »Ich«, »Du«, »Welt« etc.). Zeiten, in denen das »Wir« vielleicht fünfzig Leute umfaßte, kannten nur dieses »Wir«, das in vielen Fällen nicht einmal benannt oder mit einem Wort wie »Inuit« – Menschen – belegt war. Für uns hingegen ist »Staat« eine Tatsache, ebenso selbstverständlich und geheimnisvoll wie der Blick in das eigene Selbst. Je tiefer man über »Staat« nachdenkt, desto unergründlicher erscheint das mit dieser einen Silbe bezeichnete Phänomen. »Gottgegebene Ordnung«, »Makroanthropos«, »Gesellschaftsvertrag«, »Idee der Sittlichkeit«, »Rechtsordnung«, »kämpferische Einheit eines Volkes in der Geschichte«, »sozialer Verband«; die Versuche, »Staat« zu fassen, sind zahllos.
Die Frage nach »Staat« ist die Frage nach der Dogmatik des Staates. Das Wort Dogmatik ruft heutzutage leicht den Vorwurf der Willkür, gar Beliebigkeit auf den Plan. Dies verkennt die geschichtliche Gebundenheit jeder Art von Dogmatik. Staatsdogmatik ist die Erfassung, das Sich-einBild-Machen und das Auf-den-Begriff-Bringen der Gestalt des bestimmten »Staates« durch ebenso bestimmte Menschen. Die Bilder und Begriffe, mit denen diese Menschen ihren Staat erfassen, erfüllen wiederum für diesen Staat die Funktion der Erklärung und Sinnstiftung. Sie erheben ihn von einer bloßen Erfahrbarkeit zu etwas Denkbarem. Für den Beobachter jedoch gibt es kaum einen besseren Indikator für den Zustand eines bestehenden Staates als seine Dogmatik. Deutschland befindet sich seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in einer Krise der Staatsdogmatik, die mittlerweile fast bis zu ihrer vollständigen Auflösung geführt hat. In der Zeit vor dem Krieg, der Zeit, die für viele Urgroßväter die »gute alte Zeit« war, schien in Deutschland nichts sicherer gegründet als der Staat. Rückblickend, nach der Niederlage, wurde es üblich, den Grund für dieselbe in der Schwäche, der inneren Verrottung des wilhelminischen Deutschland zu sehen. Sooft derartige Betrachtungen der Weimarer Zeit über das Ziel hinausschossen, so richtig ist der Befund für die Staatsdogmatik jener Zeit, oder besser gesagt, die Staatsdogmatiken. Es gab deren zwei bedeutsame, die sich zueinander in gewissem Sinne komplementär verhielten: die technisch-soziologische und die der positivistischen Rechtslehre.
Für die erste steht wie kein anderer der Name Max Webers, der den Staat als »politischen Anstaltsbetrieb« defnierte. Die Technizität Webers entsprach durchaus dem Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Sie fand ihren Widerhall in der Auffassung des Staates als Rechtsordnung, einer Lehre, die sich mit Hans Kelsens Idee der »reinen Rechtsordnung« – einer Rechtsordnung ohne jede diesseitigen Anteile – selbst ad absurdum führte. Komplementär sind diese Lehren insofern, als die letztere durch ihren eigentümlichen Glauben an die Legalität, die innere Berechtigung des gesetzten Rechts, einem Apparat zumindest oberflächliche Legitimation verschaffte, während umgekehrt eine technische Auffassung des Staates jenen Glauben an die Legitimität der Legalität stärkte. Beide zusammen ergaben ein Bild des Staates, dem man weder die innere Folgerichtigkeit noch die Brauchbarkeit als soziologische Hypothese absprechen kann. Ihre strenge Wissenschaftlichkeit erkauften diese Lehren jedoch mit dem Verzicht auf die Frage nach dem Sinn des Staates. Ebensowenig kann die Frage nach der Souveränität beantwortet werden. Kelsen weist sie, innerhalb seines Systems zu Recht, von sich. Ein anstaltsmäßiger Betrieb hingegen kennt nur den vorschriftsmäßigen Geschäftsgang, eine Schwäche seiner Theorie, die Weber durch die Figur des charismatischen Volksführers auszubessern suchte, welcher aber außerhalb des Staates steht. Die beiden herrschenden Staatslehren des wilhelminischen Zeitalters waren bereits vom dogmatischen Ansatz auf das ausgelegt, was den Zeitgenossen als der Normalfall erschien. Sie glichen Bedienungsanleitungen, die in der langen Friedenszeit nach 1871 einen ordnungsgemäßen Ablauf sicherstellen sollten.
Nach dem Ende dieser Friedenszeit und der Niederlage des Zweiten Reiches mußte die Staatslehre auf neuen Grund gestellt werden. Die vielfältigen Ansätze – und vielfachen Halb- und Viertelansätze – können hier nicht im einzelnen aufgezählt werden. Drei Denker seien aber der Ausgereiftheit ihrer Konzeptionen wegen erwähnt: Oswald Spengler, Carl Schmitt und Hermann Heller. Spengler versuchte, den Staat aus der Formenwelt seiner Geschichts- und Lebensphilosophie geradezu herauswachsen zu lassen. Der Anfang seines Kapitels über den Staat sollte genügen, um einen Eindruck der philosophischen Grundlagen zu vermitteln, auf denen dieses Denken beruht: »Ein unergründliches Geheimnis der kosmischen Flutungen, die wir Leben nennen, ist ihre Sonderung in zwei Geschlechter. Schon in den erdverbundenen Daseinsströmen der Pflanzenwelt strebt es auseinander, wie das Sinnbild der Blüte zeigt: etwas, das dieses Dasein ist, und etwas, das es aufrecht erhält.« In einer Abwandlung des berühmten Aristoteleswortes kann man sagen, daß für diese Staatsauffassung die Männer und nicht die Gesetze den Staat machen. Das aufrechterhaltende, männliche Element des Lebensflusses drängt zum Männerbund und damit zum Staat, zu jener Formgebung des Lebens in der Politik. Verfassungen, geschriebene Gesetze etc. verlieren gegenüber dem inneren Takt einer Lebenseinheit größtenteils an Bedeutung. Nicht der Text der Verfassung, sondern der instinktive Umgang mit derselben, die Art eines Volkes, »in Verfassung zu sein«, die sich jedes Gesetz nach ihrem inneren Bedürfnis zurechtlegt, entscheidet über das Wesen eines Staates.
Die mögliche Formenwelt des Staatslebens hängt dabei gänzlich von den vorhandenen schöpferischen Kräften der jeweiligen Kultur ab. Und trotz der häufg allzustarken Simplifzierung kam Spenglers Ruf als Untergangsprophet nicht irgendher. Innerhalb seiner Morphologie gibt es keinen anderen Rückschluß, als daß wir das Zeitalter hinter uns gelassen haben, in dem noch große Schöpfungen auf diesem Gebiet möglich sind. Seine Hoffnungen und Entwürfe zu einem preußisch-sozialistischen Staat im 20. Jahrhundert passen genau betrachtet nicht in den Rhythmus seiner Kulturkreislehre. Hier bleibt nur der Cäsarismus, der keine neue Form, sondern ein Zurücksinken in die Formlosigkeit zufälliger Einzelgewalten ist. Die beiden bemerkenswertesten Versuche, den Staat von der staatsrechtlichen Seite zu rekonstruieren, wurden von Hermann Heller und Carl Schmitt zeitlich geradezu parallel unternommen. Gemeinsam ist beiden, daß der Staat durch die eigene Darstellung Wirklichkeit wird – bei Schmitt durch Repräsentation, die aber nur im Wechselspiel mit der real vorhandenen Identität des Volkes wirksam wird, bei Heller, ganz demokratisch, durch die Summe all jener kleinen Akte der Bevölkerung im Alltag, die die Anerkennung des Staates symbolisieren. Ein Vergleich beider hat vor allem zu beachten, daß es Heller trotz seiner politischen Betätigung in der untergehenden Republik – im Preußenschlagprozeß standen er und Schmitt sich als Anwälte gegenüber – hauptsächlich um eine Wiederherstellung der Staatslehre als Wissenschaft zu tun war. Das Aktivistische, beständig auf aktuelle Anlässe Reagierende der Schmittschen Veröffentlichungen ist seinem Werk fremd.
Die Ironie der Hellerschen Staatslehre besteht nun darin, daß ihm wider Willen etwas gelang, was er im Bewußtsein ihrer praktischen Unbrauchbarkeit ablehnte: eine allgemeine Staatslehre, eher noch eine allgemeine Gemeinschaftslehre. Heller dachte nicht, daß man die Gestalt des zu untersuchenden Staates weiter spannen könne als etwa bis zum »abendländischen Staat der Neuzeit«. In seiner »Krisis der Staatslehre« entwirft er dann aber eine allgemeine Theorie menschlicher Vergemeinschaftung auf soziopsychologischer Basis. In der posthum erschienenen Staatslehre baut er dies zu einem dialektischen Begriff der Organisation aus. Das Verdienst Hellers für die Soziologie, insbesondere die Rechtssoziologie, kann nicht bestritten werden. Sein großes Problem der »Einheit in der Vielheit« – wie kann eine Vielheit als Einheit wirken, obwohl die Einzelnen ihre Individualität nicht verlieren? – kann er schlüssig beantworten. Ebenso bedeutsam sind seine Einsichten über die soziologische Funktionsweise des Rechts innerhalb einer Gemeinschaft. Nur das drängende Problem einer neuen dogmatischen Grundlage für den Staat seiner Zeit konnte er nicht im Ansatz lösen. Dafür hätte er die Frage der staatlichen Souveränität von der tatsächlichen Machtverteilung im modernen Staat her beleuchten müssen. Diese Frage lehnt er ausdrücklich als »oft unbeantwortbar« ab.
Schmitt hingegen hatte bereits mit der Verfassungslehre von 1928 eine vorsichtige Distanz zum Staatsgedanken eingenommen. In der Endphase der Weimarer Republik nahm er den Kampf um den Staat allerdings noch einmal auf. Sein Konzept des totalen Staates aus Stärke, der, durchaus hobbesianisch gedacht, den schwelenden Bürgerkriegszuständen ein Ende machen sollte, scheiterte jedoch vor allem daran, daß sich für diesen Staat kein Träger finden ließ. Hobbes hatte seinerzeit einen absoluten Monarchen im Sinne gehabt; für Schmitt blieb nur ein altersschwacher Feldmarschall. Auch eine Führungsschicht war für diesen Staat nur in technokratischer Hinsicht vorhanden. Schmitt, der im Zweifelsfalle immer die Legitimität gegen die Legalität verteidigte, sah sich mit der Situation konfrontiert, einen Staat ohne anerkannte Legitimitätsquelle verteidigen zu müssen. Es ist oft ein Riß zwischen dem Werk Schmitts in der Weimarer Zeit und seiner Einfügung in das Dritte Reich festgestellt worden. Allerdings ist der Schritt vom totalen Staat zur »Dreigliederung« in Staat, Bewegung, Volk durchaus folgerichtig: Wenn sich der Staat nicht mehr aus eigener Kraft halten kann, so ziehe man ihm Korsettstangen ein. Da nach Ansicht Schmitts der Zerfall des Staates auch den Zerfall der darauf erst aufbauenden Ethik mit sich bringt, war er hierzu verpflichtet. Als dieses Korsett sollte die nationalsozialistische Bewegung herhalten; es ließ sich aber bereits in der Folgerichtigkeit der Schmittschen Abhandlung nicht verhindern, daß der Staat dabei die politische Entscheidungsgewalt, seine Souveränität, an die Bewegung verlor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg schien sich das Problem auf merkwürdige Art zu verflüchtigen. Wobei das Wort »schien« vielleicht nicht ganz gerecht ist. Über Jahrzehnte ließ es sich, in Europa zumindest, unter dem atomaren Patt gut in einem Pseudostaat leben, dessen Politik in kaum etwas anderem als der Bereitstellung eines rechtlichen Rahmens für die Wirtschaft und der Verteilung des Wohlstandes bestand. Unter diesem Eindruck entstand eine Staatsdogmatik, die den Staat als Dienstleister der Industriegesellschaft zu erfassen suchte (z.B. Ernst Forsthoff oder Arnold
Gehlen). Es war ein Staat entstanden, der keine politischen, sondern wirtschaftliche Subjekte zu einer wirtschaftlich-technischen Einheit zusammenfaßte. Das Erkaufen des sozialen Friedens war dabei ein wirtschaftlich-technischer Vorgang, der die an der Produktion nicht Teilhabenden diesem Staate einverleibte. Es ist nur folgerichtig, wenn diese Staatsgestalt ihre nationale Gebundenheit zu überwinden trachtet. Das Wirtschaftlich-Technische kennt heute keine Grenzen mehr, weshalb Ernst Forsthoff ganz richtig lag, als er dieser Gestalt des Staates eine innere Tendenz zur Globalität nachwies.
Die Betrachtungen jener Jahrzehnte schwanken zwischen äußerstem Pessimismus, was den Bestand dieser neuen Ordnung anbelangt, und der Vermutung – in vielen Fällen auch Hoffnung –, daß die politischen Gesetzmäßigkeiten der Vergangenheit unter den veränderten Bedingungen der Ökonomie und Technik ihre Gültigkeit eingebüßt hätten. Es ist nicht weiter verwunderlich, daß der Staat als Problem fast ganz aus dem Bewußtsein der darauffolgenden Generationen verschwand. Er wurde zum Hintergrund der Demokratie, der Zivilgesellschaft und was dergleichen aufgeladene Ersatzbegriffe mehr sind. Rückblickend mag man manche dieser Naivitäten belächeln; man sollte jedoch nicht vergessen, daß sich dieser Pflege- und Normierungsstaat erst in unseren Tagen Stück für Stück auflöst. Doch gibt es nicht einmal eine Idee dessen, was darauf folgen soll. Man blickt sich in Deutschland, in ganz Europa um und sieht noch nicht einmal ein Problembewußtsein. Hauptsache, die Volksverräter kommen weg! Das ist nicht einmal der Ansatz einer Formidee. Das gleiche gilt für die unmittelbare Berufung auf das Volk. Es ist keinesfalls gegeben, daß das Problem der Staatsdogmatik in unserer Zeit noch in einem zufriedenstellenden Sinne lösbar ist. Das Abendland des 20. Jahrhunderts löste es schließlich für seine Zeit, indem es sich insgesamt entpolitisierte und erst dadurch den Staat in eine Mischung aus Normierungsbehörde und Pflegeheim verwandelte. Während eines halben Jahrhunderts grollte das Politische an den Rändern einer Welt, die sich immer noch als die zivilisierte betrachtete. Wir werden ihm nicht ausweichen können. Die Einheit, in der wir diesem noch jungen Jahrhundert entgegengehen, wird auf anderen Fundamenten stehen als die, in der wir jetzt leben. Andernfalls wird sie nicht stehen.