Er warnt in seinem Versuch, die Jugend zu verderben (Berlin 2016) die Adressaten seiner kleinen Streitschrift vor dem bequemen Leben und der Leidenschaft für den aufs Materielle ausgerichteten Erfolg. Denn die Jugend flüchte heute in sichere Posten und bequeme Stellungen; längst sei die politische Sphäre für viele politisch Aktive keine »pflügbare Erde des Traumes« mehr, sondern der Hafen für ein saturiertes Dasein.
Badiou hatte als alter französischer Maoist bei seiner Kritik natürlich nicht die Génération Identitaire respektive die Identitäre Bewegung (IB) im Blick, sondern die radikale Linke. Aber gleichwohl eignet sich die französische IB als Beispiel für diese Warnung. Mehrere Köpfe der identitären Sache, darunter Philippe Vardon, arbeiten mittlerweile für den Front National (FN), und vergleicht man Vardons Auftritte in den sozialen Netzwerken vor und nach der Anstellung bei der Rechtspartei, nimmt man eine Verschiebung wahr: Seine Profile bei Facebook und Co. sind nur noch Werbeplattformen für Wahlkämpfe und ihre Kandidaten.
Man kann diese Entwicklung der IB-Kader in Richtung ihrer Domestizierung zu gutbezahlten FN-Wahlkämpfer als Schritt ins Erwachsene begrüßen, weg vom spielerischen außerparlamentarischen Happening, hin zur Verankerung in der Parteienwelt. Man kann aber auch kritischere Töne anschlagen. Für die IB ist es nämlich problematisch, daß dieser personelle Aderlaß in Richtung des Front National ihr die intellektuelle Substanz an der Spitze raubt.
Noch wichtiger erscheint indes ein weiterer Aspekt, der grundsätzliche Punkte berührt: die nötige Kompromißfähigkeit parlamentarischer Streiter. Max Weber wies bereits vor etwa einhundert Jahren darauf hin, daß es im Wesen eines Parlamentariers läge, Kompromisse mit dem Gegner zu schließen. »Gelehrte«, so Weber (heute würde man »Metapolitiker« oder »Intellektuelle« sagen), dürften dieses parlamentstypische Prozedere indes nicht goutieren oder argumentativ absichern.
Zweifellos: Es hat einen eigenen, sowohl persönlichen als auch strategischen Sinn, wenn einzelne Kader einer Jugendbewegung ins Parlament wechseln, um dort die ehedem rein metapolitischen Belange ihres Milieus in realpolitische Töne zu übertragen. In diesem Fall kommt es aber wohl entscheidend darauf an, daß von der Tonlage her kein vollständiger Wechsel aus einer Bewegung in eine Partei vollzogen wird: Er wäre nichts anderes als eine Häutung, denn unter der alten, kompromißlosen Haut käme wohl eine frische, parlamentarische zum Vorschein, und dies könnte jene hart ankommen, die aus einem kompromißlosen Projekt wie der IB einen Lebensentwurf gemacht hatten.
Das Leitbild müßte vielmehr – analog der »Mosaik-Linken«, deren Existenz vor allem im Zuge der Finanzkrise 2009ff. von Hans-Jürgen Urban und anderen diskutiert wurde – ein rechtes »transversales« Mosaik sein. Dieses Mosaik müßte getragen sein von der Überzeugung, daß parlamentarische und außerparlamentarische Akteure mit nicht hintergehbarem Bezug auf ein inhaltlich Einendes bausteinartig ein Gesamtmilieu abbildeten, bei dem jeder in seinem Beritt mit den dort typischen Verhaltens- und Aktionsweisen agierte, die organisationskulturelle Autonomie des Bündnispartners aber akzeptierte. Ein bloßer Wechsel eines führenden Aktivisten des vorpolitischen Feldes in ein gut dotiertes Parteiamt ist damit freilich nicht gemeint, will eine dynamische Szene langfristig nicht ausschließlich als Karriereschule einer Wahlpartei wirken.
Ein tatsächliches Ineinandergreifen parlamentarischer und außerparlamentarischer Akteure müßte anerkennen, daß Parlament und Bewegung sich wie »Standbein und Spielbein« (Rosa Luxemburg) ergänzen, daß sich – in Abwandlung eines Diktums Antonio Negris – eine »kämpfende« und eine (künftig) »regierende« politische Rechte als dialektisches Paar ergänzen, gegenseitig strategisch vorantreiben und zugleich korrigieren.
Mit der Kritik am Streben nach lukrativen Parlamentsposten seitens (ehemaliger) außerparlamentarischer Aktivisten ist keine Generalkritik parlamentarischer Tätigkeit an sich zu verknüpfen. So wichtig es ist, im gesellschaftlichen, metapolitischen Gestaltungsraum Veränderungen herbeizuführen, so wichtig ist es auch, daß es eine Parlamentspartei gibt, die darauf hinwirkt, daß diese Ideen nach und nach in Gesetzesvorlagen münden, daß diese Ideen mittels parlamentarischer und massenmedialer Öffentlichkeit breitestmögliche Bekanntheit erlangen.
Hier lauert indes die nächste Falle: Diese Gewißheit einer nötigen starken Kraft in den Parlamenten darf ihre Mandatsträger nicht dazu verleiten, zwanghaft nach Anerkennung und Koalitionsbeteiligung zu streben. Johannes Agnoli hob bereits 1967 in Die Transformation der Demokratie (zuletzt Hamburg 2012) hervor, daß es dem bürgerlich-liberalen Denken innewohne, den »Lockvogel der politischen ›Verantwortung‹« gegenüber den noch ungezähmten oppositionellen Kreisen einzusetzen, sie also verhandlungsbereit zu machen, um ihnen die entscheidenden, wirklich oppositionellen Ideen um der Regierungsfähigkeit willen auszutreiben.
Die Vorgehensweise hierbei ist evident: Das etablierte Kartell von Kräften aus Politik und Medien arbeitet daran, jede sich bildende Fundamentalopposition abzuschwächen und sukzessive Gesprächsbereitschaft in Richtung der »gemäßigteren« Insurgenten zu signalisieren. Wenn für Teile der jeweiligen Protestpartei die Gefühle des Widerspruchs parlamentarisch vertreten zu sein scheinen, wenn für Teile dieser Opposition immerhin einige Ziele durch Annäherung an die »Mitte« durchsetzbar und schließlich einige Forderungen verhandelbar zu sein scheinen, erhöht sich, so Agnoli, »die Bereitschaft zur Untätigkeit«, denn man ist am sprichwörtlichen »Katzentisch« angekommen.
Die Integration in den herrschenden Apparat vollzieht sich so Schritt für Schritt mit unterschiedlichen Folgen. Der etablierte Parteienblock stabilisiert dabei etwa seine Herrschaft, wenn die Opposition beginnt, Teil des Ganzen zu werden, sich anschmiegt, abschwächt, mitspielt. Dabei wußte schon der trotzkistische Renegat James Burnham in seiner Schrift Die Machiavellisten (Zürich 1949) mitzuteilen, daß solcherart gewendete Oppositionelle, denen man kleine Zugeständnisse macht, damit sie den großen Konsens nicht mehr hinterfragen, »in bezug auf die gut verschanzte Macht ebenso unbedeutend wie früher die Hofnarren« seien.
Festzuhalten gilt daher zweierlei:
- Die politische Rechte braucht in jedem Land Sammlungsparteien wie den Front National oder die AfD, die parlamentarisch präsent sind und so einer breiten Öffentlichkeit die Existenz grundsätzlichen Widerspruchs in der Welt des Politischen beweisen. Sie haben dabei als parlamentarische Vertreter einer breiteren Bewegung zu wirken, die aufgrund ihrer Vielfalt (Denkfabriken, Periodika, Jugendbewegungen usw.) als »Mosaik-Rechte« zu bezeichnen ist. Damit ihre Vertreter sich nicht restlos dem Ziel hingeben, von den »Kollegen« der anderen Parteien endlich als gleichberechtigt anerkannt zu werden, ist zuallererst das Bewußtsein vonnöten, daß unter dem Strich das Parlament insbesondere auch »Transmissionsriemen der Entscheidungen politischer Oligarchien« ist. Anders formuliert, aber mit den Worten desselben Denkers: »Die Macht des Parlaments ist nicht die Macht des Volkes« (Johannes Agnoli). Dieser Befund, der im heutigen Stadium des Neoliberalismus sogar mehr Gültigkeit besitzt als noch zu seiner erstmaligen Niederschrift vor 50 Jahren, verweist konsequent auf die Notwendigkeit außerparlamentarischer, gesellschaftlicher Aktivitäten. Denn in Zeiten einer allumfassenden Oligarchisierung der Politik muß die »Wiederherstellung eines demokratischen Lebens« mitunter »einen Weg am Parlamente vorbei suchen und außerparlamentarische Organe finden«, wie Sebastian Haffner 1968 mit Verweis auf Agnolis Schrift notierte.
- Dies erfordert die Feststellung, daß die Mosaik-Rechte zunächst das »Primat des Bewegungscharakters von Politik« (Thomas Seibert) anerkennt. Hier kommt wieder die Funktion einer Jugendbewegung ins Spiel, deren ursächliches Ziel es nicht sein sollte, verdiente Kader in arrivierte Positionen zu hieven. Aufgabe einer Jugendbewegung ist es, um ein letztes Mal Agnoli zu bemühen, »als disfunktionaler Stachel zu handeln, der bewußt destabilisieren und – poetisch gesprochen – ganz eindeutig neue Ufer ansteuern will«. Dort warten vielleicht zunächst nicht sichere Posten und Positionen, aber der intellektuelle Spielraum, die Möglichkeit für Experimentelles, die Chance auf Ausgreifen in andere Milieus und Lebenswelten sind bedeutend größer. Daß es im Zuge des schwierigen Entstehungsprozesses einer Mosaik-Rechten zu Verzahnungen und personellen Verschränkungen (nicht: bloßen Personalwechseln) zwischen parlamentarischen und außerparlamentarischen Akteuren kommt, ist erwünscht. Denn das Ziel ist klar: Es gilt, eine Rechte zu schaffen, in der viele Rechte Platz haben.
Gerrit
Die IB kann sicher nicht Vorstufe zur AFD sein, sie ist ein aliud. Die mit der Mitarbeit in politischen Parteien, auch schon deren Jugendorganisationen, zwangsläufig verbundene Wendigkeit passt nicht zur IB und würde ihre metapolitische Wirkung völlig entkräften. Gerade das "Spontane" und "Verrückte" gehört zur Stärke derartiger Bewegungen. Das bedeutet aber nicht, dass es keinen Wechsel geben kann, oder dass ein solcher Wechsel in irgendeiner Weise fragwürdig sei. Wer meint, dass er dafür charakterlich geeignet ist, mag den Weg in die "Parteiarbeit" gehen (die Entscheidung für eine Karriere in Behörden und Unternehmen ist übrigens sehr ähnlich). Eine weitere "Mitgliedschaft" in der Bewegung ist damit aber wohl kaum kompatibel und sollte sich erledigt haben. Aber vielleicht als "Gönner" und mit wehmütig, nostalgischem Blick zurück.