Er machte Kohl und Genscher unmißverständlich klar, daß der Wunsch Deutschlands nach Wiedervereinigung nicht in eine zur Konstruktion der Einheit Europas gegensätzliche Richtung gehen dürfe. „Wenn die Rhythmen verschieden sind“, so formulierte es der Präsident laut Schabert, „gibt es einen Unfall.“ Nach Hans-Dietrich Genschers Erinnerung sagte ihm Mitterrand folgendes:
Wolle man – in diesem Herbst 1989 – bei den Ost-West-Beziehungen vorankommen, müsse man parallel dazu auch die europäische Integration vorantreiben. Bliebe man mit dieser zurück – Mitterrands Thema der ‚verschiedenen Rhythmen‘ – würden sich […] die europäischen Dinge grundlegend ändern, und neue privilegierte Bündnisse würden entstehen. Ja, es sei nicht ausgeschlossen, daß man in die Vorstellungswelt von 1913 zurückfalle.
Frankreich würde dann „seine Allianzen überdenken“. Ganz in diesem Sinne berichtete Mitterrand der britischen Premierministerin Margaret Thatcher am 20. Januar 1990 laut Schabert folgendes:
Ich habe zu Kohl und Genscher gesagt: Man kann sich ausmalen, was sich ereignen wird. Man vereinigt 80 Millionen Deutsche, kein Problem: Sie verlangen dann den Beitritt Österreichs […]; Sie entscheiden sich nicht zur Oder-Neiße[-Grenze], dann die Deutschen der Tschechoslowakei, von Belgien […] Sie werden viel mehr Erfolg haben als ihr Vorgänger […].
Aber denken Sie an die Konsequenzen. Rußland wird einen Diplomaten nach London schicken, dann nach Paris: Hört uns an. Ich werde ja sagen. Und dann werden wir bei 1913 sein. – Ich habe zu Kohl gesagt: Ich verlange nicht, daß Sie auf das Ideal der Wiedervereinigung verzichten. […] Aber Sie sind nicht allein.
Was hier mit „1913“ gemeint ist, liegt auf der Hand, nämlich das Szenario der Einkreisung Deutschlands, das ein Jahr später in den Ersten Weltkrieg mündete. Hier dürfte denn auch der Kern des Kohlschen Imperativs „Die europäische Einigung ist eine Frage von Krieg und Friede“ liegen.
Die 1998 veröffentlichten „Dokumente zur Deutschlandpolitik“, in denen sich auf rund 1400 Seiten eine Sammlung eines Gutteils der Akten zur deutschen Einheit findet, zeigen, daß Mitterrand die deutsche Wiedervereinigung zwar nicht geheuer war, er aber dennoch im Fall der Mauer ein „Geschenk der Geschichte“ sah, wie es der Spiegel (18/1998) ausdrückte.
Sie bot ihm nämlich den Hebel, die Vormacht der Mark zu brechen: „Die Aussichten auf die deutsche Einheit lieferten dem Franzosen das lange herbeigesehnte Druckmittel“, so der Spiegel mit bemerkenswerter Klarheit, „dem Deutschen [Kohl] das unbedingte Ja zur Währungsunion abzupressen [!] und so die Vorherrschaft der Deutschen Bundesbank abzuschütteln.“
Der französische Präsident übte massiven Druck auf Kohl aus: „Insbesondere für Mitterrand ist die europäische Einbindung der deutschen Währung ein entscheidender Faktor, der Wiedervereinigung zuzustimmen“, steht in den „Dokumenten zur Deutschlandpolitik“ zu lesen.
Kohl willigte auf dem EU-Gipfel von Straßburg im Dezember 1989 inmitten der starken Spannungen, die mit dem Fall der Berliner Mauer und der sich abzeichnenden deutschen Wiedervereinigung einhergingen, ein, die D‑Mark aufzugeben und eine Währungsunion anzustreben. Auf diesem Gipfel fiel der Beschluß, daß die Regierungskonferenz zur Vorbereitung eines Vertrags über die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion noch im Jahre 1990 zu eröffnen sei.
Kohls Bereitschaft, nachzugeben, resultierte wohl ursächlich aus einem diplomatisch versteckten Angebot zur deutschen Einheit seitens Gorbatschows. Bereits im Vorfeld hatte Mitterrand in einem Schreiben entsprechend urgiert:
Mit Schreiben vom 1. Dezember 1989 verlangte Mitterrand kategorisch, ‚daß wir in Straßburg Entscheidungen treffen, die uns unmißverständlich auf den Weg der Wirtschafts- und Währungsunion verpflichten‘.
Kohl war sich von Anfang an bewußt, welche Konsequenzen sein Kuhhandel mit Mitterrand haben würde. In einem vertraulichen Gespräch mit US-Außenminister Baker gestand er am 12. Dezember 1989 mit Blick auf die Wirtschafts- und Währungsunion nämlich ein, er habe „diesen Entschluß“ „gegen deutsche Interessen getroffen“.
Frankreich ging aus dieser diplomatischen Auseinandersetzung als klarer Sieger hervor, wie der ehemalige französische Außenminister Hubert Védrine dem Politologen Schabert in einem Interview bestätigte. Dessen Frage lautete:
Hat Frankreich im Geschehen der Wiedervereinigung Deutschlands erreicht, was es erreichen wollte? […] die Antwort kam prompt, wurde vorgetragen mit selbstsicherem Gestus, und sie war eindeutig. Hubert Védrine erwiderte mir: „Zu hundert Prozent.“
Mit der Einführung des Euro ist „Deutschlands Schicksal“, wie es die Welt in einem lichten Moment im Dezember 2011 ausdrückte, „an die Euro-Zone gekettet“.
Frankreich hat sich den „Beutewert der Deutschen“, so der Titel eines Buches von Walter Wannenmacher aus dem Jahre 1973, in vollem Umfang zunutze gemacht.
„Wer zahlen kann, ist als Freund und Helfer gesucht, er gewinnt unabhängig von seinem militärischen Potential einen hohen Bündniswert“, stellte Wannenmacher, einst Wirtschaftsredakteur von Christ und Welt, fest und schlußfolgerte: „Zugleich aber steigt sein Beutewert. Dieser besteht in der Möglichkeit einer fremden Macht, eine deutsche Regierung dazu zu bringen, etwas zu tun oder zu unterlassen, was sie ohne diese Einwirkung nicht täte oder unterließe.“
Eine Wirtschafts‑, Währungs- und Sozialunion, wie sie Macron mit seiner Forderung nach einer „Neugründung Europas“ verbindet, würde die von Frankreichs Eliten betriebene Kupierung Deutschlands ein weiteres, entscheidendes Stück voranbringen. Es darf als ausgeschlossen gelten, daß der Historiker Todd von der „goldenen Regel der französischen Diplomatie“, die sich vom Mittelalter bis in die Gegenwart im Grunde genommen nicht geändert hat, keine Kenntnis hat.
Diese Regel lautet: „Die deutschen Angelegenheiten unter der Hand im Zustand der größtmöglichen Schwierigkeiten halten.“ Instrument dieser Politik war und ist das Droit de regard, das Werner Rouget, der von 1983 bis 1988 als Gesandter und ständiger Vertreter des Botschafters in Paris tätig war, als „Recht auf Einsichtnahme in und Einflußnahme auf die deutschen Angelegenheiten“ definiert hat, „das in seinen praktischen Auswirkungen, dem politischen Zeitgeist folgend, die französisch-deutsche Nachbarschaft begleitete“.
Es war im übrigen derselbe Emmanuel Todd, der in der FAZ vom 16. Dezember 1996 schrieb: „Hinter der Euro-Euphorie der Franzosen […] steckt der Wille, Deutschland zum Verschwinden zu bringen. Die deutsche Frage ein für alle Mal zu lösen.“ (Im Netz z.B. hier zitiert.)
Macrons Äußerungen sind vor diesem Hintergrund so zu deuten, daß er auf dem Weg zu diesem Ziel weiter vorankommen will. Emmanuel Todd hätte deshalb gut daran getan, sich seiner Einlassungen aus dem Jahre 1996 zu erinnern. Denn nichts ist abwegiger als seine Behauptung: „Europa ist Deutschland. Die Deutschen sind der Boß.“
Man kann diese Aussagen aber auch als Ausdruck raffinierter psychologischer Kriegführung deuten. Nichts nämlich dürfte das politische Berlin mehr unter Schockstarre setzen als die Behauptung: „Die Deutschen sind der Boß.“ Um diese Behauptung zu entkräften, wäre Berlin wohl zu jeder Konzession bereit.
Gustav
Frieden ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.
Der Geist denkt,
Das Geld lenkt.
Oswald Spengler