Den unmittelbaren Auslöser von Steins Ausführungen bildet nicht etwa die Terrorattacke in all ihrem Grauen, weit gefehlt. Es sind beileibe nicht zerfetzte Körperteile, die diese flotte und routinierte Feder in Gang setzen, sondern etwas, was auf der Waage des Linksliberalismus weitaus schwerer wiegt, nämlich ein publizistischer Verstoß gegen die Sprachregelungen multikulturalistischer Wohlanständigkeit.
Selbiger wurde begangen von Brendan O’Neill, dem Chefredakteur des Internetmagazins spiked, der seiner Wut angesichts der Tat und der auf sie folgenden stereotypen Beschwichtigungsrituale in einem furiosen (und übrigens auch sprachlich brillianten) Artikel zum Ausdruck brachte. Spiked ist nun nicht, wie man aus der Zielrichtung von Steins Angriff vermuten könnte, eine rechtsorientierte oder auch nur konservative Plattform. Im Gegenteil beruft sich das Editorial fröhlich auf „reason, liberty, progress“ und verspricht, auf den Spuren von Sozialistenurvater Saint-Simon Arbeit für die Grundlegung eines neuen goldenen Zeitalters zu leisten. Das müßte eigentlich jeden Gesinnungswächter in tiefenentspannten Schlummer sinken lassen, wäre da nicht auch die Polemik gegen „Öko-Miserabilismus“ und das Bekenntnis zu „Redefreiheit ohne Wenn und Aber“.
Wie auch immer ideologisch aufgestellt, spiked klagt statt der ewig gleichen Rituale Handlung ein:
Sie wollen uns passiv, empathisch, verstört, nicht zornig, aktiv und Fragen stellend. Sie wollen eine einsame Masse pflichtbewußter, isolierter Trauernder statt eines echten Kollektivs von Bürgern, die die Frage wagen, warum Mitbürger sterben mußten und was künftig dagegen getan werden kann. Wir sollten aufhören, die Rolle zu spielen, die sie uns zugeteilt haben.
Es ist diese Verweigerung der Beschwichtigungsrituale, der “Banalitäten die von der Zunge der Nation fließen“, der „flachen Fetischisierung von ‚togetherness‘“, welche dem Welt-Kolumnisten, gesegnet mit der berufstypischen feinen Witterung, für alles, was die eigene Diskursherrschaft gefährden könnte, den Kamm schwellen läßt. Unter der Überschrift “Großbritannien, ein Exporteur von hausgemachten Terroristen” wird die übliche Schuldverschiebung in Szene gesetzt.
Meister der moralischen Schubumkehr war die Linke seit jeher, aber dieser Artikel führt noch einmal drastisch vor Augen, welche Grade an Realitätsverweigerung sich erreichen lassen, wie unfaßbar lange an dieser festgehalten werden kann und was man als „liberaler“ Diskurshoheitsinhaber autochthonen Europäern glaubt zumuten zu dürfen. Hätte es je einen Zweifel gegeben, daß dieses Lager (um einen Lieblingsausdruck Walter Benjamins zu verwenden) gegen die Realität imprägniert ist, wäre er mit diesem Artikel endgültig ausgeräumt.
Klargestellt werden muß künftig auf allen Fronten, daß die Forderung nach grenzenloser Empathie, um die immer herumgeeiert wird, weil jeder Angst hat, als Unmensch dazustehen, schlicht nicht einlösbar ist. Steins rhetorische Frage, wo denn O’Neills Zorn bei einem Attentat in Israel 2001 (!) oder bei dem Angriff auf die Twin Towers gewesen sei, ist nur ein besonders absurder Zug in diesem Anschuldigungsspiel. Die Fähigkeit zu Trauer und Empathie wird klarerweise durch Grade der Nähe und Zugehörigkeit ebenso limitiert wie durch die Aufnahmefähigkeit des Wahrnehmungsapparates gegenüber einem veritablen Bombardement an Informationen.
Man kann niemandem verübeln, für einen aktuellen Fall und für die eigenen Landsleute mehr Mitgefühl aufzubringen als für einen tausende Kilometer entfernten oder sechzehn Jahre zurückliegenden. Das bloße Ansinnen ist absurd und Teil jener Herrschaftsrhetorik, die in Steins Artikel empfindlich an ihre Grenzen stößt. So anmaßend der Ton, so schwächlich tönt nämlich auch die weitere Argumentation.
Die ewige Kannit-Verstan Attitüde angesichts der Feststellung, daß der Multikulturalismus bei Strafe bürgerlicher Ächtung unkritisierbar ist, die Behauptung, Muslime würden „nur deshalb leiden [an Diskriminierung, versteht sich] weil sie fünfmal am Tag zu Allah beten und am Ramadan fasten“ und es gäbe keinerlei Zusammenhang zwischen dem Täter und der Gruppe, der er entstammt – all das ist bis zum Erbrechen wiederholt worden und offenbart in dieser staccato-artigen Zusammenstellung angesichts eines islamistischen Blutbades seine vollständige Hinfälligkeit.
Indem der Artikel nichts bietet als eine schlampige Aneinanderreihung von Stereotypen, macht er deutlich, daß das linksliberale Lager sein Blatt endgültig überreizt hat. Souveräne Diskurshoheit sieht anders aus. Es ist daher nicht nur Zeit zornig zu sein, sondern Zeit für Hoffnung.
Gustav
Die Linke leidet mitnichten an Realitätsverweigerung, sie will mit solchen Artikeln nur ihr Ziel verdecken. Links wohnt die bewußte Lüge, das willentlich erzeugte Chaos und die gewollte Zerstörung. Das dies einem etwas größerem Kreis nunmehr auffällt, ist aber kein Grund zur Hoffnung:
„Wer ... die Illusion hegt, daß in irgendeiner Form in der breiten Masse unserer Zeit der Sinn für Widerstand gegen das, was sich hier abspielt, entstehen könnte, den muß ich enttäuschen. Dieser Sinn kann nicht entstehen, weil die kognitiven - die »hirntechnischen« sozusagen - Voraussetzungen schlicht und einfach fehlen.“ (Hans Peter Raddatz)